Unser Brüsseler Korrespondent erfuhr aus ungenannt bleiben wollenden Quellen, dass nach Geheimabsprachen der Beschluss einer für die EU-Mitgliedsländer verbindlichen Literaturstandardisierung ins Haus steht. Aus dem vorliegenden Entwurf erhielt unser Korrespondent vorerst nur den Artikel zum Roman, den wir im Folgenden veröffentlichen wollen.
CVIII. Prosaliteratur (Roman und Nachbargattungen)
Die formalen Grenzen der als Prosa zu bezeichnenden Erzählgattung sind folgende:
1. Ein Roman ist ein Text mit einem Umfang zwischen 116 und 367 Seiten. Ein kürzerer Text ist eine Novelle und wird von der EU nicht subventioniert. Auch längere Texte werden abgelehnt. Ihre Subventionierung ist verboten.
2. Die Buchstabengröße nach Artikel LXIII, Punkt A und B: Eine Buchstabengröße, die die 12 Punkte überschreitet, wird von der EU nicht subventioniert. Es ist verboten, pro Seite mehr als 25 Zeilen und 60 Anschläge zu verwenden.
3. Satzspiegel, Absätze und Ränder sind nach Unterpunkt 234 und 235 des Artikels XVII auszuführen. Falls ein Werk den Anforderungen nach Punkt 2 und 3 nicht entspricht, gilt es auch dann nicht als Roman, wenn es den sonstigen Anforderungen genügt, und seine Subventionierung ist verboten.
4. Ein Roman muss über eine Handlung verfügen, also einen Anfang, einen Mittelteil und einen Schluss aufweisen. Die übergreifende Bezeichnung dieser Dreiteilung lautet Handlungsbogen (action-bow). Ohne Handlungsbogen darf in der EU kein Roman herausgegeben werden.
5. Ein Roman soll Dialoge und Erzählertexte enthalten. Wenn ein Werk solche nicht enthält, ist es kein Roman, und seine Subventionierung ist verboten.
6. Das ideale Verhältnis zwischen Dialogen und Erzählertexten beträgt 2/3 zu 1/3. Abweichungen von plus/minus 12 Prozent sind tolerierbar. Höhere Abweichungen schließen das Werk aus dem Kreis der Romane aus.
7. Im Text eines Romans beträgt der Anteil der umgangssprachlichen Wörter 99 Prozent. Eine Definition des Begriffs “umgangssprachliche Wörter” ist im Familienstandard, Hauptkapitel Mutter, Unterkapitel Muttersprache enthalten. Umgangssprachliche Wörter gibt es in allen offiziellen EU-Sprachen bis zu 5000, sie werden von den wissenschaftlichen Akademien der jeweiligen EU-Länder in freier und eigener Kompetenz festgelegt und in allen Sprachen auf eigene Kosten in mindestens einer halben Million Exemplaren herausgegeben sowie auf CD-Rom zugänglich gemacht. Abweichungen vom so definierten Grundwortschatz sind nur zu 1 Prozent tolerierbar. Abweichungen von 2 Prozent schließen den Roman von der Subventionierung aus. Bei einer Abweichung um 1,5 Prozent entscheidet ein internationales Schiedsgericht, dessen Beschluss der Oberste Sprachgerichtshof der Europäischen Union (EU Supreme Language Court) bestätigt oder verwirft. (Seine Mitglieder bestehen zu je zwei aus den alten EU-Mitgliedsländern und je einem aus den EU-Mitgliedsländern ab Mai 2004 mit Ausnahme von Polen, das sich mit Rücksicht auf seine Landwirtschaft durch drei Mitglieder vertreten lässt.) Einsprüche gegen Entscheidungen des Obersten Sprachgerichtshofes der Europäischen Union sind nicht gestattet.
8. Inhaltlich besteht ein Roman, der unter den oben skizzierten Voraussetzungen in einer Sprache der EU-Mitgliedsländer geschrieben wurde, aus einer begonnenen, komplizierten, geschlossenen Handlung.
9. Ein Roman kann historisch, gegenwärtig oder extrem (extreme) sein.
10. Historisch ist ein Roman, wenn er sich mit den vergangenen Geschehnissen (past-time circumstances) der Menschheit befasst und dessen Lehren daraus auf EU-kompetente humanistische Weise gezogen werden (siehe Kapitel CVL, Unterkapitel VII). Im historischen Roman sind postmoderne Manipulationen nicht anzuwenden.
11. Ein Gegenwartsroman ist ein Roman, der eine autorenzeitgemäße (heutige) Gesellschaft beschreibt (contemporary society/societies novel) und dabei keine offizielle Einrichtung der EU kritisiert.
12. Extrem ist ein Roman, der nicht dem Inhalt der Punkte 10 und 11 entspricht, jedoch allen anderen Kriterien gerecht wird. Die Subventionierung eines extremen Romans darf 20 Prozent der eines historischen oder gesellschaftlichen Romans nicht überschreiten.
13. Inhaltskriterien des Romans:
A. Der Roman enthält Figuren, die sich an der Handlung beteiligen. Maximal 33,33 Prozent der Figuren dürfen negativ sein, die restlichen 66,66 Prozent haben positiv zu sein. Grundlage der Prozentberechnung ist das Vorkommen der einzelnen Figuren gemessen an der Anzahl der Seiten und an der Länge ihrer Erwähnung. Innere und äußere Monologe beliebiger Länge sind der Prozentzahl der betreffenden Figur zuzurechnen. Negative Figuren können sein: Islamfundamentalisten, Selbstmordattentäter, außerirdische Wesen, Nazis, Faschisten, Bolschewisten, Raubmörder, Massenmörder, Leichenfledderer, Pädophile und EU-feindliche Demonstranten. Positive Figuren sind alle, die nicht zu den negativen Figuren gehören.
B. Hauptfiguren eines Romans sind Figuren, die in mehr als 50 Prozent der Handlung vorkommen. Figuren mit geringerer Häufigkeit sind Nebenfiguren. Der Anteil von negativen Hauptfiguren darf 25 Prozent nicht überschreiten. Bei Nebenfiguren darf der Anteil an negativen Figuren höher sein, jedoch 40 Prozent nicht überschreiten.
C. In einem Roman – sowohl im historischen wie im extremen als auch im Gegenwartsroman – haben obligatorisch 1. die Versöhnung, 2. die Verständigung und 3. das Abkommen enthalten zu sein. Sofern dem Roman diese drei Motive oder eines der drei fehlen, ist er auch dann nicht subventionierbar, wenn er im Übrigen allen Kriterien gerecht wird.
D. Besondere Empfehlung positiver Hauptfiguren:
I. Eine Großmutter, die in einer Zeit vor Bestehen der EU erhobenen Hauptes und mit reiner Moral viele Schrecknisse erlebte und ihre Enkel allein großzog, die im heutigen Geschäftsleben zu bewährten, gesetzestreuen EU-Bürgern wurden.
II. Ein Wissenschaftler jüdischer Herkunft, der nazistische und bolschewistische Gefängnisse überlebt hat und von den Ideen der Christenheit und des freien Marktes fasziniert ist, nimmt mindestens zwei afrikanische oder asiatische Waisenkinder zu sich und erzieht sie zu erfolgreichen, gesetzestreuen EU-Bürgern.
III. Junge Männer und Frauen, die als nationale Minderheit in einem der EU-Länder leben und deren nationale Eigenheit von der nationalen Mehrheit des entsprechenden Landes akzeptiert wird, wobei die latenten ethnischen Gegensätze durch beispielhaftes Verhalten gedämpft werden. Für die nach dem Mai 2004 beigetretenen EU-Länder wird insbesondere die Thematisierung der jungen, aufstrebenden, optimistischen Mitglieder der nationalen Minderheit der Roma empfohlen. Die Roma-Rapper oder -Volksliedspezialisten sollen in Romanen dieses Typs eine Schwindel erregende Karriere einschlagen, für sie sollen vor allem die Jugendlichen der Mehrheitsgesellschaft schwärmen.
IV. Eine positive Hauptfigur eines Romans mit sexueller Thematik kann eine Prostituierte sein, die als Kind mit Gewalt zur sexuellen Dienstleistung gezwungen worden war, gequält und geprügelt wurde, die ihren Reisepass abgeben musste und in feuchten Kellern gehalten wurde, sich jedoch nach vielem Leid befreien konnte, ihren Zuhälter mit Hilfe der Polizei ins Gefängnis brachte sowie ihre leidenden Kolleginnen aus der Sklaverei befreite. Eine Zusatzsubventionierung in Höhe von 20 Prozent steht einem Roman mit sexueller Thematik zu, in dem die Hauptfigur eine asiatische, eine afrikanische, eine südamerikanische oder eine russische, ukrainische, kasachische oder turkmenische Einwanderin ist. In Romanen mit sexueller Thematik ist eine ausführliche Beschreibung des Schutzes gegen Aids obligatorisch, sonst können sie nicht subventioniert werden. Außer den im Kamasutra enthaltenen Positionen dürfen in solchen Romanen keine weiteren Stellungen und Positionen beschrieben werden.
V. Die Liebe zwischen Jugendlichen aus EU-Ländern, die sich früher kriegerisch oder feindselig gegenüber standen, sollte glücklich enden, also eine Romeo-und-Julia-Geschichte mit positivem Ausgang sein. Folgende Beispiele sind denkbar: deutscher Romeo und polnische Julia – tschechischer Romeo und deutsche Julia – polnischer Romeo und litauische Julia – slowakischer Romeo und ungarische Julia – italienischer Romeo und österreichische Julia – französischer Romeo und deutsche Julia – westdeutscher Romeo und ostdeutsche Julia – tschechische Julia und slowakische Julia – österreichischer Romeo und deutscher Romeo. Die homosexuellen Fälle sind nur subventionierbar, wenn die Paarbeziehung durch Adoption oder Genbehandlung einen Kindersegen zur Folge hat.
VI. Der von der EU subventionierte Roman darf sich uneingeschränkt mit Themen beschäftigen, die außerhalb der EU angesiedelt sind. Er darf jedoch die Empfindsamkeit der Nation außerhalb der EU nicht verletzen. Beispiel: Der Roman darf keine antiamerikanischen oder antirussischen Gefühle wecken. In einem solchen Roman dürfen höchstens 5,6 Prozent der nicht zur EU gehörenden Figuren negativ sein. Empfohlene positive Figuren, die nicht zur EU gehören, sind zum Beispiel Präsident Kennedy, Präsident Lincoln, Lederstrumpf, Louis Armstrong, Präsident Gorbatschow, General Suworow, Zar Peter der Große usw. Negative Figuren sind Lee Harvey Oswald, Iwan der Schreckliche, Stalin usw.
VII. Positive Hauptfiguren in Romanen mit Sportthematik dürfen bei Dopingkontrollen niemals positiv getestet worden sein. Bei Hauptfiguren historischer Romane mit Sportthematik müssen sich Verfasser und Verleger zunächst an die Europäische Historische Dopingorganisation (EHO) wenden, um nach der Exhumierung des betreffenden Sportlers einen Test an seinen irdischen Überresten vornehmen zu lassen, der dann negativ ausfallen muss. Eingeäscherte Sportler können nach heutigem Stand der Wissenschaft als positive Figuren nicht verwendet werden.
VIII. Die EU-Subventionierung von Jugendromanen kann 75 Prozent erreichen, wenn sie
a) gegen die Kinderarbeit
b) gegen den Drogenmissbrauch
c) gegen die Kinderkriminalität
d) gegen die Kinderlosigkeit (Anti-Single-Gesetz, Kapitel CVI ) auftreten.Die Subventionierung des Jugendromans kann 100 Prozent erreichen, wenn er zeigt, wie die im Roman vorkommenden Kinderfiguren mindestens drei für sie fremde EU-Sprachen lernen, davon zwei Sprachen eines alten und eine Sprache eines neuen EU-Mitgliedslandes. Eine CD-Rom solcher Romane zum Sprachunterricht kann gegebenenfalls auch finanziert werden, jedoch in geringerem Umfang.
IX. Das Umschreiben populärer Romane früherer Zeiten – die Europäische Union schreibt die bisherige Geschichte allein durch ihre bloße Existenz bereits um – subventioniert der Wettbewerbsausschreiber zu 90 Prozent. Beispiel: Das umgeschriebene Werk von Tolstois Krieg und Frieden kann einen Napoleon mit Sympathie für die Russen enthalten; er soll Moskau nicht niederbrennen, die Niederlage des französischen Heeres wird von dem damals noch außerordentlich kalten russischen Winter verursacht. Um das Umschreiben früherer Romane sind die in der EU lebenden Schriftsteller mit Nobelpreis zu ersuchen. EU-Mitgliedsländer, die nicht über Nobelpreis-Schriftsteller verfügen, können hierfür Herderpreis-Schriftsteller einsetzen.
X. Die Herausgabe musikalischer Bildromane humanistischen Inhalts wird von der EU zu 100 Prozent finanziert, sofern diese nicht zu lesen, sondern auf dem Bildschirm zu sehen und beim Sehen zu hören sind. An den Einnahmen ist das Schiedsgericht der EU zur Subventionierung von Romanen (European Novel Court) zu 58 Prozent beteiligt. Im Fall erotischer musikalischer Bildromane humanistischen Inhalts stehen dem Schiedsgericht zur Romansubventionierung, das sich finanziell selbst reguliert, 85 Prozent des Reinerlöses zu. (Es ist zu unterscheiden zwischen Erotik und Sex, vgl. Kapitel IV.)
14. Dem Schiedsgericht zur Subventionierung von Romanen (ENC) gehört ein Regierungsbeauftragter für jedes EU-Mitgliedsland mit mindestens 5 Millionen Einwohnern an. EU-Länder mit weniger als 5 Millionen Einwohnern sind durch je einen Beauftragten vertreten. Das Grundgehalt eines Beauftragten darf nicht geringer sein als das Gehalt eines Staatssekretärs für Kultur des jeweiligen Mitgliedsstaates plus Kostenerstattung plus Sprachzuschlag, sofern er außer der Muttersprache mindestens noch eine alte EU-Sprache im Grundlagenniveau beherrscht. (Für die Anerkennung gelten nur EU-Sprachprüfungen, die vom ENC organisiert werden.) Gewährt wird der Zuschlag für vier EU-Sprachen, für die fünfte zahlt der ENC nichts mehr. Bei verwandten Sprachen (z.B. Ungarisch und Estnisch, Slowenisch, Slowakisch und Tschechisch, Dänisch, Schwedisch, Norwegisch, Deutsch und Niederländisch) ist die Zuschlagsumme aufzuteilen. Die Höchstsumme des Sprachzuschlags beträgt 7,5 Prozent des jeweiligen Grundgehalts. Die Kostenerstattung ist nach der Entfernung der Hauptstadt des Landes des Beauftragten zum ideellen geografischen Mittelpunkt der EU festzulegen. Sie beträgt 160 Euro pro Kilometer.
15. Bewerbungen sind mit einer Synopsis des Romans (maximal 2 Seiten), einer Schilderung der Charaktere (maximal 4 Seiten) und einer positiven ideologischen Aussage (maximal 3 Seiten) in einer der offiziellen Sprachen der EU einzureichen. Die Kosten der Übersetzung in eine weitere EU-Sprache trägt vorerst der Antragsteller; sie dürfen im Jahr 2004 nicht über 35 000 Euro hinausgehen. Der Bewerbung ist eine Kopie des Einzahlungsschecks beizulegen. Die Anweisung der ersten 15 Prozent der Subvention erfolgt nach Erhalt der Synopsis, der Charakterschilderung und der ideologischen Aussage. Den Rest des Betrages erhält der Verlag nach der positiven Beurteilung des fertigen Manuskriptes. Erfolglose Antragsteller erhalten die Übersetzungskosten nicht zurück. Wenn das fertig gestellte Manuskript die volle Subvention aus irgendeinem Grund nicht erhält, hat der Antragsteller 90 Prozent der ersten 15 Prozent zurückzuerstatten. Tut er das nicht, so leitet das Schiedsgericht zur Subventionierung von Romanen einen Prozess gegen den Antragsteller ein, der im Folgenden aus der Bewerbungsmöglichkeit ausgeschlossen wird.
Der Bewerbung beizufügen sind Stammbuchauszüge des Verlages und des Autors, eine Beurkundung der Staatsbürgerschaft, ein Abschlusszeugnis seiner höchsten Schulbildung, ein Führungszeugnis, eine Beurteilung seines bisherigen Schaffens auf maximal einer Seite, die wichtigsten 20 Artikel seines bisherigen Schaffens, eine Urkunde über den gegenwärtigen Familienstand, den Ort seines Schaffens, seine sexuelle Ausrichtung, eine Urkunde über die Staatsbürgerschaft des Ehepartners oder der mit ihm in einem gemeinsamen Haushalt lebenden Person, ein beglaubigter Fingerabdruck sowie eine handgeschriebene Erklärung, dass der Antragsteller niemals Mitglied einer nazistischen oder bolschewistischen Partei, einer Attentätervereinigung, eines aggressiven Fanclubs oder einer fundamentalistischen Kirche war. Das Fehlen eines dieser Belege schließt den Antragsteller aus dem weiteren Verlauf aus.
Published 15 December 2005
Original in Hungarian
Translated by
Hans Skirecki
First published by Wespennest 141 (2005) (German version), The Hungarian Quarterly No. 173, Spring 2004 (English version) and HVG 2004 (Hungarian version)
Contributed by Wespennest © György Spiró/Wespennest Eurozine
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