Der Dreck, die Stadt und der Tod

Literatur beschäftigt sich auf immer wieder neue Weisen mit der ” Stadt .Marcus Kleiner befasst sich in diesem Aufsatz mit Prosa von Thomas Bernhard, Sibylle Berg und Rolf Dieter Brinkmann, um zu hinterfragen wie sich diese Autorin mit “ihren” Städten auseinandersetzen. Sind diese Städte real, oder lediglich Fiktion. Und was sind die Grenzen?

“Die Stadt ist ein Diskurs, und dieser Diskurs ist wirklich eine Sprache:
Die Stadt spricht zu ihren Bewohnern, wir sprechen unsere Stadt, die Stadt, in der wir uns befinden, einfach indem wir sie bewohnen, durchlaufen und ansehen.”(Roland Barthes)

Können Sie es auch nicht mehr hören? Die Glorifizierung der Metropolen, das große Rhabarbern um die neuen Mitten und die großspurigen Stadtutopien. Auch die Vision vom global village, getarnt als Sozietätsmetapher, ist weit davon entfernt, ein Lob auf die Provinz anzustimmen, sondern suggeriert die Möglichkeit einer weltweiten (virtuellen) Megastadt. Wo lassen sich Gegengifte zu diesem global-urbanen Uniformitätswahn finden?

Dieser Essay möchte dementsprechend eine Bildstörung sein, eine kurzzeitige Verschiebung in Ihrer Wahrnehmung bewirken, indem er Sie mit desillusionierenden Stadtbildern aus Texten von Rolf Dieter Brinkmann, Thomas Bernhard, Sibylle Berg und Stephan Maus konfrontiert. Mich interessiert hierbei ausschließlich der konstitutive Zusammenhang von Raum, Zeit und (individueller) Existenz, konkret, von literarischen Figuren, deren (text)geschichtliche Situierungen und ihre Stadtblicke, -leben und -erleben. In Zusammenspiel dieser Elemente werden Geschichten der Gegenwart gegen die Gegenwart geschrieben. Diese Texte lassen sich nicht von einem Zorn gegen ihr Zeitalter trennen und schildern den “durchgehende(n) Non-Stop-Horror-Film” (Brinkmann 1997: 34) urbaner Wirklichkeiten.

Die Stadt ist häufig ein zentrales Motiv von Literatur. In literarischen Texten werden Stadt-Bilder entworfen, dem Leser Stadt-Erfahrungen und Stadt-Blicke angeboten. Jeder Stadt wird ihre charakteristische “Stadtsemantik” (Barthes 1988: 203) und ihre spezifisch urbane Pragmatik zugeschrieben. In Stadttexten – ich beziehe mich mit diesem Terminus nicht auf Stadtchroniken, Stadtpläne oder touristische Prospekte – und Textstädten werden abstrakte Verhaltensmuster entworfen, konkrete Abbilder realer Städte gezeichnet oder Fluchträume für individuelle Phantasmagorien eröffnet. In Stadttexten ist die Stadt ein dominantes Thema und unverzichtbarer Bestandteil des Textes, es wird eine Vorgängigkeitder Stadt vor dem Text suggeriert, d.h. es wird so getan, als werde eine reale Stadt im Text lediglich dargestellt. In Textstädten wird die jeweilige Stadt erst durch den Text hervorgebracht bzw. erschrieben. In der Literatur modellieren Stadttexte im Grunde immer nur Textstädte, sie, die Stadttexte, sind der Ort diskursiver Stadtkonstitution. So ist etwa Kafkas Prag nichts anderes als das durch Kafkas Texte konstituierte Prag.
Die Literatur, das Schreiben, die Schrift ordnen und zerreißen die Welt zugleich, durch sie wird allererst Welt erschrieben. Und Schreiben engagiert uns in die Wirklichkeit, läßt uns in sie einsteigen und sie fortschreiben.

“Die Stadt fordert ihren Tribut.”
(Rainer Werner Fassbinder)

Rom? Nein, Danke!

“(W)enn man die Straßen entlang blickt, aus dem Fenster sieht, grau in grau gebadet trotz Sonne in jede Richtung, und das graue, öde strömt ja auch aus den Leuten heraus” (Brinkmann 1997: 32). Diese Beschreibung Roms, der ehemaligen Metropole des Abendlandes schlechthin, veranschaulicht den konstitutiven Zusammenhang zwischen Raum, Zeit und (individueller) Existenz in “ Rom, Blicke“, das zugleich Tagebuch, Reisebericht und Briefroman ist und im Zeitraum von Oktober 1972 bis Januar 1973 verfaßt wurde. Wiederholt Betont Brinkmann, der als Stipendiat der Villa Massimo in Rom ist, sein “starkes Empfinden der Gegenwärtigkeit, also der eigenen Anwesenheit hier in diesem Raum und in dieser Zeit und diesem Körper” (ebd.: 62).

Ein zentrales Motiv der Stadt-Blicke Brinkmanns ist das Verlangen, seine Gegenwart zu (be)greifen, der sozio-kulturellen Wirklichkeit nachzuspüren und aus diesen Eindrücken (s)eine Geschichte der Gegenwart zu schreiben. Hierzu betreibt Brinkmann eine radikale und fast manische Selbstthematisierung: “Ich will durch diese Gegenwart gehen, und ich gehe auch da durch, ich habe keine andere Zeit als die Zeit, in der ich lebe, und da will ich wissen, in welchem Zustand ich lebe, in welchen Augenblicken, und was diese Augenblicke enthalten” (ebd.: 162). Bei diesem Vorhaben wird er regelrecht zum Aufnahmegerät, Blick- und Schriftraum sind konstitutiv miteinander verkettet und bedingen sich wechselseitig. “ Rom, Blicke” ist eine gewaltige Collage aus Photographien, Landkarten, Stadtplänen, Postkarten, Briefen, (eigenen und fremden) Texten und Skizzen, die eindringlich veranschaulicht, wie unmittelbar körperlich Brinkmann die Situationen großstädtischer Umwelterfahrung aufnimmt, wie sehr er um eine konkrete Selbstverortung in Raum und Zeit bemüht ist. Auf diese Weise entsteht seine spezifische Rom-Topographie, die “riesig(e) Schalttafel=Großstadt” (ebd.: 406).

Zentrale Motive seiner Stadtwahrnehmung bzw. die Rom zugeschriebene Stadtsemantik sind Häßlichkeit, Dreck, Verwahrlosung, Verwüstung, Kulissen- und Ruinenhaftigkeit, Todesverfallenheit, Vernichtung. Direkt nach seiner Ankunft in Rom befällt Brinkmann “der Eindruck einer schmutzigen Verwahrlosung”, er sieht “überall Zerfall, eine latente Verwahrlosung des Lebens” (ebd.: 16). Das Forum Romanum und das Kolosseum erscheinen ihm als “Schutthaufen” und “Schrotthalde”, das Pantheon als “Muff-Gebäude” (ebd.: 57, 125). Er spricht von der “abgetakelte(n) abendländische(n) Rom-Bühne”, betont, “daß alles (…) nur noch billige Kulisse ist” (ebd.: 240). Seine Streifzüge durch Rom, die ihn “(q)uer durch die Ruinen einer (…) abendländischen Geschichte” führen, lassen ihn “schmierige Straßen”, vergammelte Gassen und eine “verkrüppelte staubige Vegetation” entdecken (ebd.: 112, 139, 220). Vom permanenten Lärm und Gestank fühlt er sich angewidert. Roms Architektur ist in seinen Augen reklamenhafte Jenseitsinszenierung. Allerdings ist Rom weit davon entfernt, Hoffnung auf jenseitiges, ewiges Leben zu versprechen: “đEwiges Rom?: na, die Stadt jetzt ist das beste Beispiel dafür, daß die Ewigkeit auch verrottet ist und nicht ewig dauert – Rom ist (…) eine Toten-Stadt” (ebd.: 69). Dementsprechend veranschaulichen sie den “verfaulten, verfaulenden Lebensteig der Zivilisation und Kultur” (ebd.: 254). Überall sieht sich Brinkmann mit unerträglicher Häßlichkeit konfrontiert: “Via Veneto – (…) Ein Ersticken in Häßlichkeit wird gegen die Augen betrieben (…). (…) Das Viertel rundum leblos, (…) umgekippte schwarze Plastiksäcke voll Abfälle/genaugenommen stolpert man durch nichts als Ruinen” (ebd.: 30).

Dieses Stadt-Panorama wirkt sich, so Brinkmann, auch auf die Bewohner Roms, die “Könige des allgemeinen Drecks”, aus, die sich als “Automaten-Menschen” und “Schnittmusterbogengesichter” entpuppen (ebd.: 51, 138, 75). Überall lassen sich nur “häßliche Menschen mitten in der verstaubten Ruinenkulisse” finden bzw. “von Mode-Illustrierten verseuchte gewöhnliche Fotzen (…) und Todesmelodie-Pop-Slum-Jungen großstädtischen Verschnitts” (ebd.: 46, 33). Andererseits fühlt sich Brinkmann von der Sexualisierung des alltäglichen Großstadtlebens abgestoßen. Die “männlichen Italiener kratzen sich ständig am Sack. Sie verschieben ihre Schwengel ungeniert an jeder Stelle und jedem Ort zu jeder Zeit”, die “Primaten-Weibchen (halten) den männlichen Primaten in Situationen des Ärgers, der Erregung, zur Beruhigung ihren Hintern” hin (ebd.: 46, 71).

Brinkmanns “Rom-Blicke” stehen sinnbildlich für seine Einschätzung abendländischer Zivilisation und Kultur zu Beginn der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts. Dieser Zustand, diese historische Zeiterfahrung kann durch den Begriff Posthistoire gekennzeichnet werden, durch den zum Ausdruck gebracht werden soll, daß die Geschichte zu Ende ist, sich nichts grundsätzlich Neues mehr ereignen wird, die Situation globaler Vergleichgültigung und Uniformität die Wirklichkeit bestimmt. Das Fazit der Stadt-, Kultur- und Zivilisationsblicke Brinkmanns ist vernichtend: “Kübelweise Häßlichkeit, in Rudeln Abfall, worin jeder einzelne verschwindet, denn das Gesamtbild ist so überaus häßlich und wirkt auf den einzelnen zurück” (ebd.: 180). Und: “So trage ich auch hier in Rom meine Existenz hindurch, und erfahre das Allgemeine einer mörderischen, verwüstenden Zivilisation” (ebd.: 184).

Die von Brinkmann intendierte Universalität seiner Rom-Blicke, also ihr Selbstverständnis als umfassende Zeitkritik sowie die topographische Austauschbarkeit seiner Stadt-Blicke veranschaulicht folgende Passage: “Ich dachte an alle die anderen großen Städte, durch (…) die ich bislang so gewandert bin/ alles Schutt, alles Spuk (…). (…) – sie gleichen sich, bis auf unwichtige Abweichungen, alle” (ebd.: 244f.).
Brinkmanns Rom? Nein, Danke!

Retten Sie sich vor Salzburg!

“Die Stadt ist (…) nur auf die schmerzhafte, eine jede Natur störende, mit der Zeit verstörende und zerstörende, sehr oft nur auf die heimtückisch-tödliche Weise bewohnbar” (Bernhard 1998: 7). Es ist von Salzburg, dem “Deutschen Rom” (ebd.: 76), die Rede und diese Passage eine von vielen Stellen literarischer Stadt- und Heimatbeschimpfungen, die sich im Werk von Thomas Bernhard wechselseitig bedingen, stets ambivalent bleiben und auf seine Haßliebe zu Österreich hinweisen. In einem Interview mit Krista Fleischmann bringt Bernhard dies am Beispiel Wien pointiert zum Ausdruck: “(…) Wien, du bist die einzige, beste und gleichzeitig die scheußlichste und grausigste Stadt, wie Heimat (…) immer ist” (Bernhard 1991: 169).

Salzburg wird in “Die Ursache“, dem ersten Band, der in fünf Teilen veröffentlichten autobiographischen Erzählungen, als eine gnadenlose Auslöschungsmaschine beschrieben (vgl. zum Problem der Zuordnung dieser Texte in die Tradition autobiographischen Schreibens Bogdal 1999). In diesem Text werden die Ereignisse der Kindheits- und Jugendjahre im Salzburg der Kriegs- und Nachkriegszeit geschildert. Der Ich-Erzähler und der Stadtraum Salzburg sind hierbei untrennbar miteinander verbunden, sein Ich wird bis ins Innerste von dieser Stadt bestimmt. So betont er, “daß diese Stadt (…) sein ganzes Wesen durchsetzt und seinen Verstand bestimmt” habe und “(…) alles in mir (und an mir) aus ihr (ist), und ich und die Stadt (…) eine lebenslängliche, untrennbare, wenn auch fürchterliche Beziehung” (Bernhard 1998: 8, 46) seien.

Es sind vor allem die Künstler und Geistesmenschen, die dieser Stadt zum Opfer fallen: “Alles in dieser Stadt ist gegen das Schöpferische, (…) die Heuchelei ist ihr Fundament, und ihre größte Leidenschaft ist die Geistlosigkeit (…). Meine Heimatstadt ist in Wirklichkeit eine Todeskrankheit, in welche ihre Bewohner hineingeboren und hineingezogen werden, und gehen sie nicht in dem entscheidenden Zeitpunkt weg, machen sie (…) entweder urplötzlich Selbstmord oder gehen direkt oder indirekt langsam und elendig auf diesem im Grunde durch und durch menschenfeindlichen architektonisch- erzbischöflich- stumpfsinnig- nationalsozialistisch- katholischen Todesboden zugrunde” (ebd.: 9f.).

Auch Brinkmann deutet die Stadt bzw. das städtische-kulturelle Leben als eine gewaltige Auslöschungsmaschine für Geist und Kunst. In Rom, Blicke bringt er dies durch die Schilderungen der Ruinenhaftigkeit und Entsinnlichung seiner Umwelt sowie durch die Verweise auf die Popkultur zum Ausdruck. Bernhard in “Die Ursache“und anderen Texten etwa durch Motive wie Tod, Selbstmord und Wahnsinn.

Der Stadtraum Salzburg, seine Architektur und das Klima wirken sich verheerend auf seine Bewohner aus: “Die Stadt (…) (produziert) immer wieder solche irritierende und enervierende und krankmachende und erniedrigende und beleidigende und mit großer Gemeinheit und Niederträchtigkeit begabte Einwohner (…)” (ebd.: 7). Gerade die vermeintliche Schönheit der geschichtsträchtigen Kulturlandschaft und Kunsthochburg Salzburg und ihr daraus resultierender Weltruhm macht, so Bernhard, blind für ihren tödlichen Geist und Todesboden.

Ganz verwandte Salzburg-Bilder finden sich in Der Untergeher: “Die Stadt Salzburg (…) war und ist gegen alles in einem Menschen und vernichtet es mit der Zeit (…). (…) Die Salzburger waren immer fürchterlich wie ihr Klima (…). (…) diese stumpfsinnigen Bewohner, (…) diese gemütskranken Salzburger, die mit ihrem Stumpfsinn alles abtöten, das noch nicht so ist wie sie selbst” (Bernhard 1983: 18, 20). Aber nicht nur Salzburg ist ein Todesboden, sondern auch Wien, wie man in Betonerfährt: “Wer nach Wien geht und in Wien bleibt (…), ist zum sinnlosen Opfer geworden für eine Stadt, die jedem Menschen alles wegnimmt und überhaupt nichts gibt (…). Die Stadt ist darauf angelegt, daß sie die ihr in die Falle Gegangenen aussaugt und solange aussaugt, bis sie tot umfallen” (Bernhard 1988: 103). In Holzfällen wird Wien als eine Genievernichtungsanstalt und “Kunstmühle” beschrieben, das dortige Geistesleben, stellvertretend für ganz Österreich, als verkommen geschildert, das Burgtheater als scheußlich bezeichnet und die Bewohner als die bösartigsten Menschen der Welt dargestellt. In “Alte Meister”wird der als der “gefährlichste” Mensch der Welt, als “gemeiner Nazi oder (…) stupider Katholik” (Bernhard 1993: 245) gekennzeichnet.

Wird Bernhard Salzburg oder Wien überhaupt gerecht? Die Allgemeinheit und Absolutheit, mit denen Bernhard seine Stadt- und Heimatschelte vorträgt, läßt sie gleichsam beliebig und wenig glaubwürdig erscheinen. Die Einsicht in die grundlegende Ungerechtigkeit allen Erkennens und Handelns, die der Ich-Erzählers in Der “Untergeher” formuliert, kann zur Klärung dieser Frage beitragen: “Wir handeln ungerecht (…) und mit der mir schon immer zum Verhängnis gewordenen Ungerechtigkeit und Ungenauigkeit, mit einem Wort Subjektivität, die ich selbst immer gehaßt habe, vor welcher ich aber niemals sicher gewesen bin. (…) Wir schildern und beurteilen Menschen immer nur falsch, wir beurteilen sie ungerecht und schildern sie niederträchtig, (…) in jedem Fall, gleich, wie wir sie schildern, gleich wie wir sie beurteilen” (Bernhard 1983: 213f.).

Somit ist jede Schilderung, ob positiv oder negativ, wirklichkeitsverzerrend und -entstellend, also rein fiktiv und zur Repräsentation empirischer Gegebenheiten, die es in diesem Verständnis nicht geben kann, unfähig, d.h. Realität und Fiktion werden ununterscheidbar. Die Frage nach einer etwaigen Übereinstimmung der Stadt-Bilder Bernhards mit der Wirklichkeit dieser Städte erscheint belanglos, sie sind zunächst und zumeist Extrapolationen privater Erfahrung, die nicht auf universelle Verallgemeinerungsmöglichkeit zielen: “Alles ist subjektiv und falsch natürlich”, wie Bernhard (1991: 147) entsprechend betont. Damit hebt sich aber die kritische Haltung Bernhards keinesfalls auf, denn gerade die Subjektivität der Kritik ermöglicht allererst die Frage nach dem Objekt und dem Subjekt der Kritik neu zu stellen und somit einerseits den Standpunkt der Kritik immer wieder zu hinterfragen und neu zu bestimmen sowie andererseits den Gegenstand der Kritik stets in anderen Perspektiven zu betrachten. Für den Kontext dieses Essays kann das als Aufforderung zur permanenten Re-Lektüre urbaner Wirklichkeiten verstanden werden.

Trotz aller vermeintlichen Universalität der Schilderungen Brinkmanns, ist es gerade die radikale Ichbezogenheit seiner Ausführungen in Rom, Blicke, die den Anspruch auf Wahrheit und Verbindlichkeit seiner Aussagen bewußt relativiert. Es geht Brinkmann, wie Bernhard, abgesehen von den konstitutiven Unterschieden im Detail, um den Versuch einer radikal individuellen Sinn- und Selbstkonstitution, die einerseits keine andere übergeordnete Kategorie mehr gelten läßt, andererseits auch kein anderes Interesse mehr kennt. In ihren Texten werden allerdings keine souveränen bzw. autonomen Subjekte entworfen, sondern das Subjekt (der Ich-Erzähler) wird stets in Frage gestellt und versucht, im Schreibprozeß allererst eine Subjektposition zu erschreiben. Schreiben wird so zum eigentlichen Leben. Ein wesentlicher Einflußfaktor hierbei ist, wie aus den bisherigen Ausführungen deutlich wurde, die Raumdarstellung der erzählten Welt, im Falle Brinkmanns das symbolische Rom und für Bernhard das symbolische Salzburg bzw. Wien.
Hüten Sie sich vor den Lobeshymnen und dem Kulturkapitalismus der Reiseführer! Hüten Sie sich vor Bernhard!?

Endstation Großstadt

“Niemand braucht die Stadt, sie taugt nur zum Krankmachen, Aidsmachen, Junkmachen, zum Neiden, zum Töten taugt die Stadt, denn was soll wachsen inmitten von Dreck” (Berg 1998: 7). In Sex II geht es um Menschen in einer Großstadt, um Perverse, Mörder, Kinderschänder, Einsame, Verzweifelte, Kranke und andere liebenswerte Gestalten. “Das Bildnis ist bezaubernd schön, die Stadt, die sich dem Untergang geweiht” (Fassbinder 1991: 679).
Wie wird die urbane Wirklichkeit in Sex II erlebt und beschrieben? Aus den Augen der Ich-Erzählerin, “(n)ormal schlechte Kindheit, normal aussehend, normal alleine, normal übersättigt. Ein ganz normales Arschloch” (Berg 1998: 7), wird über die Geschichte der großen Stadt und ihrer Bewohner berichtet. “(A)llbewußtseinserweiternde Drogen” sind daran schuld, daß sie durch alle Wände hindurch und in alle Menschen hineinblicken kann, “als würde einer einen Vorhang öffnen” (ebd.: 12). Und dahinter: Der ganz normale Wahnsinn der Großstadt. Die Ich-Erzählerin reflektiert allerdings bewußt die Subjektivität ihrer Stadt-Blicke und richtet ihre Kritik damit zugleich gegen sich selbst: “Ich wohne in einer Scheißstadt und kann alles auf sie schieben. Mich davon ablenken, daß ich genauso bin wie sie. Verdorben, kaputt, krank (…)” (ebd.: 10).

In Sex II wird die Stadt weder namentlich benannt noch topographisch eingegrenzt: “Eine Großstadt wie alle, alle gleich” (ebd.: 51). Gerade an den großen Städten kann also beobachtet werden, wie sich die Vision vom erfüllt: “(B)ald (wird) die ganze Welt nur noch aus einer großen Stadt bestehen” (ebd.: 9). Für Brinkmann und Berg sind die Massenkultur und die Medien, als Inbegriff von Vermassung und Nivellierung, wesentlich für diese Entwicklung verantwortlich. Die drastische Darstellung urbaner Verwahrlosung in Rom, Blicke , wird in Sex II noch intensiver. Auf ihrem Weg durch die Stadt erblickt die Ich-Erzählerin zum Alltag gewordene Szenen des Grauens: “(…) auf den Straßen der normale Großstadtscheiß. Baulärm, Verkehrslärm, Menschenlärm, Bananenschalen, Omas sterben, der Mist eben, der macht, daß du dir auch ohne Drogen wie ein Irrer vorkommst (…)” (ebd.: 61). Die Stadt wird von ihr als ein riesengroßer Müllhaufen wahrgenommen: “Die Stadt ist voller Dreck. Stinkt, vor lauter Dreck” (ebd.: 141). Inmitten des Dickichts der Berg-Stadt erscheint die “Kirche (…) wie ein Saurier” (ebd.: 80) und veranschaulicht so die anachronistische Bedeutung übergeordneter Sinnzusammenhänge und einer allgemeinverbindlichen Moral. Die Stadt ist die Personifizierung des das die Figuren in Sex II mustergültig vorleben.
Spricht Barthes (1988: 207) noch relativ nüchtern von der “Erotik der Stadt”, womit er meint, daß “die Stadt der Ort der Begegnung mit anderen” sei, möchte man den Bewohnern der Berg-Stadt lieber nicht begegnen. Es ist durchgehend von den Leiden, der Trauer, der Hoffnungslosigkeit, der Verzweiflung, der Frustration, dem Sadismus, den Perversionen der Charaktere die Rede, überall nur gescheiterte oder scheiternde Existenzen, ohne Identität, bloße Rollenspieler und Funktionsträger, ferngesteuert, frei von Gefühl. Wie soll es an “dem Ort (d.i. die Stadt – A.d.V.), der den Ausschuß eines Landes versammelt” (Berg 1998: 9) auch anders sein?

Die Menschen der Berg-Stadt sind naturgemäß Singles: “(D)ie Menschen in einer großen Stadt (leben) alleine. Das ist Gesetz. Die Stadt zwingt die Menschen, depressiv und einsam zu sein” (ebd.). Um ihrer Einsamkeit kurz zu entfliehen und sich der Illusion von Lebendigkeit hinzugeben, wird Zuflucht im Sex gesucht: “Wir sind in das Hurenviertel gelangt, Männer schlurfen über das Trottoir, ihre Schwänze hängen müde in den Hosen, sie schleichen herum, suchen nach etwas, das sie ficken können, (…) um mal kurz irgendwo zu sein. (…) Das Leben reduziert auf kurze Samenergüsse, verkrampfte Orgasmen, für ein bißchen Lebendigkeit. (…) Große Städte. (…) Die Straßen, die Häuser, die verschissenen Grünanlagen, neben Hundekot, im Hundekot, fickende Paare überall” (ebd.: 147).
Eine verwandte Szenerie erlebte Brinkmann vor den Mauern eines Friedhofs und auf den Straßen, die er nach seinem Friedhofsbesuch entlang ging: “Der Boden gefleckt direkt an der Mauer, (…) voller Kondome – die ganze Außenmauer entlang, davor parken sie abends mit ihren Kleinwagen und sitzen in dem Blechgehäuse eingezwängt (…): Körperknäuel, die sich plump bewegen, und das Sperma spritzt in die Gummihäute (…). Und weiter die schlaffen Gummihäutchen der Kondome, in denen das Sperma fault, Hundescheiße und (…) die Cellophanschnipsel der Kondomverpackung. – Der ganze Boden entlang der Mauer, vielleicht 1 km lang, ist mit Kondomen bestreut. (…) Man watet durch die vollgespritzten Gummihäute (…)” (Brinkmann 1997: 292f.).

In der Berg-Stadt sind zudem alle krank: “Die Leute sind krank, in Städten, krank, und es ist scheißegal, wohin man zu fliehen versucht” (Berg 1998: 9). Die Menschen der Berg-Stadt sind eigentlich keine Menschen, sondern vielmehr zu Automaten bzw. Maschinen mutiert, die ihr Leben nur nach stereotypen Mustern gestalten können. Dennoch gibt es immer wieder die stets scheiternde Suche der Figuren nach Individualität, um so dem Seriellen ihrer Persönlichkeit zu entkommen. Dies verdeutlicht zugleich, daß die Stadt alles andere als ein Ort ist, an dem sich extravagante Lebensstile oder interessante Persönlichkeiten herauskristallisieren können. Diese Diagnose bringt auch Brinkmann zum Ausdruck: “Da fuhr ich durch Gegenden, in denen Menschen lebten. Wie lebten sie? Wie Menschen, aber dann doch nicht wie Menschen, sondern wie Automaten, die von Menschen zu Automaten gemacht worden waren” (Brinkmann 1997: 163). Die einzigen Handlungsstimuli in Sex IIsind Gier, Geld und Sex.

In der Berg-Stadt gibt es auch keine Spur mehr vom klassischen intellektuellem Charakter des großstädtischen Lebens, ebenso ist sie weit davon entfernt eine Hochburg von Kultur, Kunst, Schöngeistigem zu sein: “Kultur ist etwas, das andere machen, ist etwas, das die Menschen in der Stadt von ihrer Unfähigkeit ablenkt, ihr Leben mit sich zu füllen. Ist Ablenkung vom Dreck. Ist, um sie in der Stadt zu halten, zu vernichten, in der Stadt, die Menschen” (Berg 1998: 7f.).
“Warum baun sie sich solche Städte” (Fassbinder 1991: 677)?

Beobachtungsprotokoll eines Metropolenvoyeurs

“Hast Du Dich mal in Berlin verliebt?”
(“Unsere Liebe mußte hauptstadtfähig werden” (Maus 2000: 17). Und was dabei herauskommt, läßt Sie nie wieder relaxed in der Hauptstadt lieben, glauben Sie mir!
Alles Mafia! entführt den Leser in ein chaotisches, phantastisches, virtuelles Berlin der letzten Jahre, das durch die Augen der Ich-Erzählerin Nina geschildert wird: “(…) Berlin, die Hauptstadt, alle wissen das heute, fast dreieinhalb Millionen Einwohner, unvorstellbar. (…) Die Metropole war ein unwirtliches Dickicht, ein pfeifender Risikoraum, ein blinkender Pups, ein chiffreartig verschweißter Makrochip, ein Gigafloperlebnispuff, ein hitzig abgewaveter Dudelsack voller Rambazamba-Performance” (ebd.: 35f.). Nina konfrontiert den Leser mit einer urban-brodelnden Szenerie und manischen Metropolen-Landschaft, die sie in einer Sprache schildert, die aus Werbe-Slogans, Produktnamen, Liedzeilen und Intertextualitäten jeglicher (Film, Literatur, Theorie, Presse, Medien, Politik etc.) besteht. Mit diesen Sprachcollagen versucht Nina ebenso ihre Selbstkonstitution im und durch den Text zu arrangieren. Ihre Stadtbeschreibungen sind stets Selbstbeschreibungen, Spiegelungen ihrer psychischen Dispositionen und umgekehrt.

Sie ist die Meisterin des Identitätsshoppings, changiert zwischen “Flittchenpower, Schlampengroove, Girliefunk”, “Hormon-Jogging” und einem “Leben als Four-Letter-Word” (ebd.: 15, 19, 113). Zu Nina gesellen sich die Gangsta, denn sie braucht händeringend “männlichen Input, Moschusdüfte” (ebd.: 12). Ihr Begehren umschließt den vietnamesischen Zigarettenschwarzhändler Thanh, die “Tet-Offensive des Lächelns (…) Asien hautnah” und den Nin?ja!, eine “Ausgeburt des Schattens” (ebd.: 17, 41), Auftraggeber Thanhs, Unterweltboss und Verkörperung des Bösen. Eine bedrohliche entsteht im Ghetto Berlin, genauer, in Ninas Kopfkino: “Die extrem gleichschenklige Nina war in ein kompliziertes Bermuda-Dreiecksverhältnis geraten” (ebd.: 104). Nina im Verbrechergehege: Geliebte eines Wirtschaftsflüchlings und eines Schwerverbrechers. Letztlich tötet der Nin?ja! Thanh und Nina, mittlerweile selbst zum Gangsta mutiert, watet durch die “Pfütze der Desillusion” (ebd.: 142).

Am Anfang ihrer Beziehung zu Thanh wird die Stadt noch als Verbündete ihrer Liebe und Verbrechen geschildert: “Wegen einer irrtümlichen Überlappung in der Patentfaltung aller Pläne dieser Stadt war die Sackgasse, in der wir wohnten, unauffindbar. Dank eines Kunstfehlers im karthographischen Oregami bogen wir abends um einen deplazierten Falz, wurden von einer Falte in der Stadtlandschaft geschluckt, fanden Unterschlupf in einer geheimen Innentasche des Raumes, wechselten in die vierte Dimension im Maßstab 1 : 11 000, unter den Überhang einer Speckrolle der boulemischen Metropole, nie kam uns jemand auf die Spur” (ebd. 23f.). Im weiteren Verlauf der Handlung wird sie aber zunehmend als “düstere Hure Babylon” und Hochburg des Verbrechens, als “Gotham City” (ebd.: 79, 70) erlebt. Auf ihren Streifzügen nimmt Nina das entsprechend als “Terror- und nicht Tempo-30-Zone” (ebd.: 44) wahr.

Berlin erscheint in Alles Mafia! durchgehend als unlesbar und kulissenhaft. Ninas Stadt-Bild ist, wie das der Ich-Erzähler von Brinkmann, Bernhard und Berg, emotional begründet und individuell strukturiert. Die Stadt wird von Nina durch assoziative Stimmungsbilder beschrieben: “In der Stadt wurden Hotels entkernt und Hunde abgeknallt. In stillgelegten Stollen brodelte Schneeschmelzwasser. (…) Jehovas Zeugen mit apokalyptischen Modevorstellungen zelebrierten Outdoor-Exegese. Armageddon in der verkehrsberuhigten Zone. Gott verbirgt sich im Parkscheinautomaten. In den Bushaltestellen machten ampelhörige Frauen ihre lila Menopause (…)” (ebd.: 42, 70f.). Ninas eigenwillige Stadt-Lektüre modelliert ein Stadt-Bild, dem als Etikett zwar Berlin angesteckt wird, das aber letztlich unabhängig von dieser konkreten Situierung ist, sondern allererst in Ninas Kopfkino entsteht. Das Zitieren bekannter Berlin-Orte wie Tegel und Wedding oder von den Berlinern zugeschriebenen Eigenschaften, wie die berühmt-berüchtigte “Berliner Schnauze” sowie die Rede von der “Berliner Republik” (ebd.: 36) ändern daran nichts.

Das individuelle Scheitern Ninas – “Ich sitze vor meinem Leben wie vor einem leergefressenen Adventskalender” -, korrespondiert mit dem Fall der Stadt: “Sie ist gefallen, sie ist gefallen, Babylon, die große Stadt” (ebd.: 142, 143) – die Stadt als Sinnbild einer gefallenen Frau, deutlicher können Raum, Zeit und Existenz wohl nicht miteinander verschmilzen.)
“Ich verliebe mich nicht!”

Stadt, Blicke

“Die Stadt ist eine Schrift; jemand, der sich in der Stadt bewegt,
das heißt der Benutzer der Stadt (was wir alle sind) ist eine
Art Leser, der je nach seinen Verpflichtungen und seinen
Fortbewegungen Fragmente der Äußerung entnimmt
und sie insgeheim aktualisiert.”
(Roland Barthes)

Die Auseinandersetzung mit Stadttexten und Textstädten ist für jeden (urbanen) Menschen eine unmittelbare Form der Verständigung mit sich selbst und seiner sozio-kulturellen Gegenwart.

Jeder, der neu in einer Stadt ist, sucht nach Orientierungsmöglichkeiten, Zeichen, Symbolen im städtischen Raum: wie zum Beispiel dem Bahnhof, dem Zentrum, der Altstadt, den Einkaufspassagen, Clubs, Museen und Theatern. Diesen Stadt-Orten weist er dann spezifische Bedeutungen zu – etwa prachtvoll, schmierig, interessant, gefährlich, langweilig – und richtet danach sein Handeln aus: An diesem Ort kann ich unter anderem gut essen, feiern, ausspannen, Leute kennenlernen, Neues entdecken. So entsteht eine wesenhaft signifikante Natur des städtischen Raums, die zu einer Einschreibung des Menschen in den Raum wird. Wer die Stadt lesen kann, kennt sich in ihr aus; wer nicht, ist darin verloren.
In den Texten von Brinkmann, Bernhard, Berg und Maus wird die Stadt zum All-Ort und Nicht-Ort, austauschbar, kulissenhaft und gibt den Stadtgängern keine Orientierung im urbanen Raum. Dabei werden kaum prototypische, sondern vorwiegend assoziative Stimmungsbilder entworfen. Ihre Textstädte werden als gesichtsloser Ort des Privaten inszeniert, der als subjektive Projektionsfläche dient, als Stadt, die nur noch Kopfgeburt ist. Was bleibt ist eine global-urbane Stadtlandschaft mit Ikonen gesichts- und referenzloser Identität. Ihre Texte veranschaulichen eindringlich, wohin der Uniformitätswahn, mit dem die Vision vom eng verbunden ist, führen kann. Die Stadt-Bilder von Brinkmann, Bernhard, Berg und Maus sind vor allem Beschreibungen eines krankmachenden, menschenverachtenden, zum Selbstmord treibenden, Sinnlichkeit erstickenden, Differenzen nivellierenden, Geist, Kreativität, Innovation und Individualität auslöschenden Panoramas. Sie bzw. diffamieren urbane Wirklichkeiten als gewaltige Simulationsszenarien, in denen Lebendigkeit und Fortschritt, (soziale, kulturelle, politische, künstlerische) Utopien und Visionen sowie individuelle und kollektive Lebensentwürfe lediglich inszeniert und reproduziert werden, ohne ihnen eine Qualität zu geben, die sich von vorgegebenen Mustern befreit. Es gibt in ihren Texten keinen Ausgang aus dieser selbstverschuldeten Unmündigkeit.

In den Texten von Brinkmann, Bernhard, Berg und Maus werden ausschließlich Wahrnehmungen der Ich-Erzähler thematisiert, wodurch der Akzent vom Objekt (d.h. der jeweiligen Stadt) auf das Subjekt der Wahrnehmung (der individuellen Befindlichkeit des jeweiligen Ich-Erzählers) zu einem bestimmten Zeitpunkt, an einen bestimmten Ort verlagert wird. Die beschriebenen Stadt-Räume werden dabei erst durch die Blicke der sie betrachtenden Figuren konstituiert und lassen Textstädte entstehen, die bewußt keine detailgenauen Abbilder ihre vermeintlich städtischen Vorbilder (Rom, Salzburg, Wien, Berlin) sein wollen. Die Stadt-Blicke der Ich-Erzähler lassen sie aber nicht zu Subjekten werden bzw. sich als Subjekte der Handlung begreifen, da sie sich kaum von den sie umgebenden Stadt-Räumen unterscheiden können, sie sind ihnen gegenüber distanzlos. Die Abgrenzung von Innen (Individuum) und Außen (Welt/Umwelt) gelingt nicht mehr, Stadtlandschaft (Umwelt) und psychische Disposition (Individuum) lassen sich kaum noch voneinander unterscheiden, sie bedingen sich wechselseitig.

Es sind also vor allem innere Landschaften, die in ihren Texten beschrieben, auf die Stadt projiziert werden und diese strukturieren. Es handelt sich in den Texten von Brinkmann, Bernhard, Berg und Maus um Begriffs- bzw. Reflexionsprosa, nicht wirklich um beschreibende und erzählende Texte. Der Inhalt gleicht einem Gedankenprotokoll, welches durch das Innere des Erzählers strömt.

Die, in diesem Essay beschriebenen, Stadt-Blicke, sind Erkundungen der Wirklichkeit im Medium Literatur und keine Sozialreportagen. Sie können als Kritik an urbanen, sozialen und kulturellen Wirklichkeiten gelesen werden, die die, von ihnen beschriebenen Zustände, allerdings nicht auch explizit in historischen, politischen oder soziologischen Kategorien erklären wollen. Makrostrukturelle Deutungsansätze für ihre urbanen Zustandsbeschreibungen, wie etwa die urbane Gegenwart als – unter anderem -Auswirkungen der Massen- und Popkultur in den Texten von Brinkmann und Berg oder des Nationalsozialismus und Katholizismus der Österreicher in den Texten Bernhards zu beschreiben, ist bewußt zu allgemein und individuell gehalten, als daß dies wissenschaftlichen (objektiven) Standards genügen könnten. Es handelt sich bei ihren Stadt-Bildern vielmehr um individuelle Psychogeographien, die neben ihrer kritischen Funktion, auch ansatzweise eine utopische Perspektive eröffnen, indem ihr radikaler De-Konstruktivismus urbaner Wirklichkeiten, Räume für neue, unverstellte Stadt-Blicke motivieren könnte.

“Schreiben heißt, den Sinn der Welt erschüttern, eine indirekte Frage in ihr aufwerfen, auf die zu antworten der Schriftsteller wie in einem letzten Aufschub sich untersagt. Die Antwort gibt jeder von uns unter Beibringung seiner eigenen Geschichte, seiner Sprache, seiner Freiheit; da jedoch Geschichte, Sprache und Freiheit sich unablässig ändern, ist die Antwort der Welt auf einen Schriftsteller nie beendet: man hört nie auf, eine Antwort auf das zu geben, was außerhalb aller Antwort geschrieben wurde (…)” (Barthes 1967: 11). Diese Offenheit von Texten für eine nie endende Interpretation kann, bezogen auf diesen Essay, als Aufforderung zur permanenten Re-Lektüre urbaner Wirklichkeiten aufgefaßt werden, um so die Stadt-Räume immer wieder individuell umzubauen, neu zu entwerfen und anders zu erleben. Diese Veränderung auf individueller Ebene könnte so auch vorbildlich für kollektive – d.h. gesellschaftliche und kulturelle – Veränderungen sein.

Literatur

Barthes, Roland (1967), Kritik und Wahrheit, Frankfurt/M.

– (1988), “Semiologie und Stadtplanung”, in: Das semiologische Abenteuer, Frankfurt/M, S. 199-209.

Berg, Sibylle (1998), Sex II, 2. Aufl., Leipzig.

Bernhard, Thomas (1983), Der Untergeher, 2. Aufl., Frankfurt/M.

– (1984), Holzfällen. Eine Erregung, Frankfurt/M.

– (1988), Beton, Frankfurt/M.

– (1991), Thomas Bernhard – Eine Begegnung. Gespräche mit Krista Fleischmann, Wien.

– (1993), Alte Meister. Komödie, Frankfurt/M.

– (1998), Die Ursache. Eine Andeutung, Salzburg/Wien.

Bogdal, Klaus-Michael (1999), “Hinter der Blindtür. Thomas Bernhards Auto(r)biographie”, in: Historische Diskurs-Analyse der Literatur. Theorie, Arbeitsfelder, Analysen, Vermittlung, S. 172-185.

Brinkmann, Rolf Dieter (1997), Rom, Blicke, Reinbek bei Hamburg.

Fassbinder, Rainer Werner (1991), “Der Müll, die Stadt und der Tod”, in: Sämtliche Stücke, Frankfurt/M., S. 665-713.

Maus, Stephan (2000), Alles Mafia! Eine Gangsta Rhapsodie, Berlin.

Published 8 August 2002
Original in German

© FKO Verlag GbR(Duisburg Köln)

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