Der Abriss des Star Ferry Pier

Stadterneuerung und Bewahrung lokaler Kultur in Hong Kong

Die rein ökonomisch ausgerichtete Stadtentwicklung in Hong Kong, die generell die Entwicklung lukrativer Immobilien favorisiert, ist zunehmend mit dem kulturellen Erbe und mit der lokalen Kultur (im Allgemeinen) im Konflikt. Der Abriss des Star Ferry Piers (eigentlich Edinburgh Place Ferry Pier) im Dezember 2006 hat nicht nur einen großen Aufschrei bei lokalen AktivistInnen ausgelöst, sondern ganz generell zu einer Diskussion über das mangelnde politische Bewusstsein für die Bewahrung des kulturellen Erbes in der Stadtplanung und -entwicklung geführt. Das manifestiert sich speziell in der kurzsichtigen, profitorientierten Einstellung de Regierung ebenso wie in der Gleichgültigkeit gegenüber dem Interesse der BürgerInnen von Hong Kong an ihrem kulturellen Erbe.

Dieser Essay nimmt den Abriss des Star Ferry Piers als Ausgangspunkt, um die aktuellen problematischen Stadtentwicklungsprogramme in Hong Kong und deren zersetzende Auswirkungen auf die lokale Kultur und die kollektiven Erinnerungen zu diskutieren. Neben dem Hinweis auf “provokative” Reaktionen und Proteste wird eine Serie von künstlerischen Aktionen im öffentlichen Raum, die sich als alternative Stellungnahme zu den Regierungsbeschlüssen verstanden, im Vordergrund stehen.

Eine Anlegestelle für Fährschiffe? Warum sich darum kümmern?

Konfrontiert mit der Notwendigkeit, eine zentrale Figur in der Liga der Weltstädte zu werden, erfinden sich Großstädte weltweit, vor allem postindustrielle und asiatische Städte, ständig neu, um sich dem internationalen Umfeld und dessen Veränderungen anzupassen. Im Gegensatz zu ihren europäischen Kontrahentinnen, deren städtebaulicher Fokus eher auf Regeneration anstatt auf Neuentwicklung liegt, hat Planung in asiatischen Städten, inklusive Hong Kong, einen radikaleren Ansatz: Alte Gebäude und Viertel werden einfach über Nacht abgerissen; historische Stadtviertel weichen Einkaufszentren; sogar eine völlig neue Stadtlandschaft kann ohne Rücksicht auf Bestehendes entworfen werden, wenn aufsehenerregende Projekte geplant sind, die mit den lokalen oder internationalen Mitbewerberinnen konkurrieren können.

Die Zerstörung und das Verschwinden des kulturellen Erbes ist für Hong Kong also nichts Neues. Sogar die Hutongs, das enge Gassenwerk, das seit der Ming-Dynastie das Zentrum von Peking umgibt, wurden ohne besondere Emotionen teilweise abgerissen. Warum verdient die Demolierung einer Anlegestelle für Fährschiffe mitsamt ihrem Turm unsere Aufmerksamkeit?

Bevor die Briten Hong Kong übernommen haben und es zu einem Zentrum der Finanzwelt entwickelten, war Hong Kong bloß eine Ansammlung kleiner Dörfer mit wahrnehmbarer, traditioneller (Volks-)Kultur. Mit einer (Kolonial-)Geschichte von nur 155 Jahren hat die Region keine bedeutenden Orte von nationaler oder historischer Bedeutung, die in die ausschließlich auf nationaler Ebene operierende UNESCO-Liste für kulturelles Erbe passen würden.1 In Hong Kong hat die Bewahrung des kulturellen Erbes viel mehr mit dem Erhalt der Alltagskultur und den kollektiven Erinnerungen zu tun.

Der Star Ferry Pier mit seinem Turm, der 1958 errichtet wurde und eines der wenigen verbliebenen öffentlichen Gebäude der Streamline-Moderne in Hong Kong war, trug einen Teil der Geschichte Hong Kongs, seiner ausgeprägten Alltagskultur, speziell der lokalen Lebenswelt, und der kollektiven Erinnerung von Millionen BürgerInnen Hong Kongs. Vor allem weil es der Ort war, an dem 1966 drei Nächte dauernde Proteste gegen die Regierung statt fanden, die von der Entscheidung der britischen Kolonialverwaltung, den Fährtarif um 25 Prozent zu erhöhen, ausgelöst wurden.

Hong Kongs kulturelle Identität

Die Suche nach Hong Kongs Identität war bereits lange vor der Übergabe an China im Jahr 1997 ein schwieriges und komplexes Thema. Obwohl Hong Kong ein “postkolonialer” Raum ist, passt es in keine der konventionellen Definitionen von “postkolonial”, weil es weder vor der britischen Herrschaft ein unabhängiger Nationalstaat war noch nach der Übergabe unabhängig wurde. Heute ist es eine selbstverwaltete Region, jedoch auf chinesischem Hoheitsgebiet gelegen und China zugehörig. Regiert wird Hong Kong nach der Formel “ein Land, zwei Systeme” und “Hong Kong¹s people governing Hong Kong”. Deshalb ist Hong Kongs Kampf mit seiner kulturellen Identität und die Notwendigkeit, sich auf der internationalen Bühne zu positionieren und zu repräsentieren, eine ideologisch fürwahr herausfordernde Aufgabe und in seiner gegenwärtigen Praxis sehr widersprüchlich. Das Thema der Bewahrung des kulturellen Erbes in Hongkong findet deshalb im Unterschied zu sonstigen asiatischen Städten auf einer zusätzlichen Bedeutungsebene statt und bedarf einer Untersuchung mit anderer Dimension.

Die Landgewinnung entlang des Victoria Harbour

Der Victoria Harbour, der buchstäblich der Ursprung Hong Kongs ist und der Grund, weshalb die Stadt prosperiert, wurde Sanierungsphasen unterzogen, seit die Regierung in den 1990er Jahren das Central and Wan Chai Reclamation-Projekt gestartet hat. Entlang beider Seiten des Ufers befinden sich die zentralen Geschäftsviertel – ein Umstand, der das Projekt vorantreibt. Dort befinden sich die teuersten Grundstücke der Stadt und weltweit.

Die dritte Phase des Central Reclamation-Projekts schloss die Gewinnung von 16 Hektar Land entlang des Hafens für die eine Station des Flughafenexpresses, den westlichen Abschnitt der beabsichtigten North Island Line, die Überbrückung von Central-Wan Chai, neue Star Ferry Piers, neue Straßen und weitere Geschäftsflächen mit geschätzten Kosten von ca. 330.ooo Euro ein. Mit der Verabschiedung des Antrags im Jahr 2002 war das Schicksal des Star Ferry Pier (im Dezember 2006 abgerissen) und des Queen’s Pier (im April 2007 für den Abriss geschlossen) besiegelt.

Es war nicht das erste Mal, dass ein Ferry Pier wegen eines Landgewinnungsprojekts geschlossen worden war. Blake’s Pier wurde in den frühen 1990er Jahren abgerissen, um für die erste Phase des Central Reclamation-Projekts Platz zu machen.2 Der Antrag für die dritte Phase der Reclamation und die Entscheidung, die Piers abzureißen, haben heftige öffentliche Reaktionen und Proteste der lokalen Bevölkerung ausgelöst.

Öffentliche Reaktionen

Am letzten Betriebstag, dem 11. November 2006, kamen 15.000 BesucherInnen, um einen letzten Blick auf den Pier zu werfen und eine letzte Fahrt zu machen.3 Vor der Demolierung drängten mehrere politische Parteien und Bürgerinitiativen die Öffentlichkeit, für den Erhalt des Piers zu kämpfen; AktivistInnen starteten öffentlichkeitswirksame Proteste; In-Media, ein von AktivistInnen betriebenes Online-Magazin, unterstützte das Anliegen auf seiner Website; das SEE-Network (Society, Environment, Economy), das Kampagnen für die Bewahrung von lokalen Kulturen und eine nachhaltige Stadtentwicklung in Hong Kong betreibt, organisierte Aktivitäten, um das Thema einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln; und auf Initiative und unter der Leitung des Pädagogen und Künstlers Kith Tsang besetzte eine Gruppe junger Leute öffentlichen Raum in der Nähe des Piers und inszenierte künstlerische Performances als Antwort auf die Entscheidung der Regierung.

Künstlerische Aktionen im öffentlichen Raum

Kunst im öffentlichen Raum wird in Hong Kong selten angewandt, besonders wenn es darum geht, soziale und politische Anliegen zu vermitteln. Diese von Tsang initiierte Serie der künstlerischen Interventionen war die erste ihrer Art in Hong Kongs Kunstszene. Die Gruppe von KünstlerInnen trat – beginnend im August 2006 bis nach dem Abriss – ohne Unterbrechung jeden Sonntag von drei bis fünf Uhr am Nachmittag auf. Unter den ProtagonistInnen waren u. a. der Performance-Künstler Leung Po Shan und eine Gruppe junger KünstlerInnen, die ursprünglich TeilnehmerInnen des von Kith Tsang geleiteten Sommer-Workshops Kunst im öffentlichen Raum waren. Die Aktionen hatten das Ziel, eine breitere Öffentlichkeit auf die Demolierung aufmerksam zu machen und einer jüngeren Generation das Konzept des öffentlichen Raums zu vermitteln.

Tsang versteht Kunst im öffentlichen Raum als eine ausdrucksstarke und effektive Möglichkeit, zu den Geschehnissen in der Stadt Stellung zu nehmen; das gilt speziell für diejenigen, die keine Möglichkeit haben, ihre Meinung via Massenmedien zu verbreiten. Tsang wies darauf hin, dass die Regierung sehr ausgeklügelte Methoden anwandte, um den Central Reclamation-Plan voranzutreiben, öffentliche Partizipation zu verhindern und das Recht der Teilnahme am städtischen Planungsprozess zu negieren.

Tsang, selbst Aktivist, glaubt, dass die Bewahrung der Kultur nicht nur mit der Hardware, sondern mit dem menschlichen Leben selbst zu tun hat. Die Regierung sollte dieses Anliegen fördern und zu einer positiven Lebensqualität der Bevölkerung beitragen. Das Entwicklungsmodell für die Stadterneuerung, das in Hong Kong angewendet wird, neigt zur Zerstörung von sozialen Netzwerken, speziell denjenigen von älteren Menschen. Eine Methode, Menschen umzusiedeln, die die Stadtregierung anwendet, besteht darin, diese nach den Marktpreisen ihres Eigentums zu entschädigen. Das ist für SeniorInnen, die in älteren Gebäuden leben, die in den letzten Jahrzehnten nicht renoviert wurden und deswegen einen niedrigen Marktpreis haben, eine große Benachteiligung.

Die Abrissbirne schafft freie Flächen für Developer

Der Star Ferry Pier ist nur einer von vielen Orten, die einen wichtigen Teil lokaler Kultur verkörpern und bereits abgerissen wurden. Andere erwähnenswerte sind:

– Lee Tung Street (wird gerade neu entwickelt) – wird bei der lokalen Bevölkerung auch Wedding Card Street genannt, weil sie für das Drucken und Verkaufen von Hochzeits- und Visitenkarten sowie Kalendern bekannt ist. Das Viertel wurde für neue Wohntürme und Shopping-Malls abgerissen. Eine Bürgerinitiative kämpfte drei Jahre lang gegen die Zerstörung.

– Queen’s Pier (im April 2007 für den Abriss geschlossen) ist der zweite Pier, der in Hong Kong gebaut wurde. Er wurde in den Jahren 1953/54 für Zeremonien und öffentliche Anlässe errichtet. Er war Landungsbrücke für die An- und Abreise vieler früherer Hong Konger Gouverneure sowie einheimischer und von außerhalb kommender prominenter Würdenträger und Persönlichkeiten.4 AktivistInnen, DenkmalschützerInnen und Bürgerinitiativen führen seit einigen Monaten eine Kampagne in Form von Sitzblockaden, Protesten und Hungerstreiks, um den Queen’s Pier zu retten.

– Wan Chai Market (die Zerstörung ist für Anfang 2008 geplant) – wurde 1937 gebaut und ist einer der letzten Märkte mit Streamline Moderne-Architektur. Am Gelände wird ein luxuriöser Wohn- und Geschäfts-Komplex entwickelt.5

– Central Police Station (Betrieb wurde im Dezember 2005 eingestellt ) und Victoria Prison sind benachbarte Gebäude und gehören zu den declared monuments6 Hong Kongs. Es sind zwei der wenigen noch existierenden kolonialen Zeitzeugen. Der älteste Teil der Polizeistation wurde 1864 errichtet. ImmobilienentwicklerInnen haben ihr Auge auf diese nun funktionslosen Gebäude geworfen.

Wie geht es weiter?

Während die Regierung wertvolle Plätze Hong Kongs, die über Jahrzehnte Teil der Alltagskultur waren, niedergewalzt hat, investiert sie riesige Summen in ein neues “kulturelles Erbe” für die lukrative Tourismus-Industrie. Eines der Hauptprojekte in diesem Zusammenhang ist Ngong Ping 360, das aus der Ngong Ping Skyrail und dem Ngong Ping Village besteht. Ngong Ping Skyrail ist eine 5,7 km lange (derzeit wegen mehrerer Unfälle stillgelegte) Seilbahn, die Ngong Ping auf der Insel Lantau, auf der der gigantische Tin Tan Buddha steht und das Po Lin Kloster liegt, mit Tung Chung, einem Gebiet nahe dem Flughafen von Hong Kong, verbindet. Das Ngong Ping Village wurde in der Nähe der Seilbahnstation im Design traditioneller chinesischer Architektur gebaut und ist mit kulturellen Attraktionen chinesischen Ursprungs und Shops internationaler Ketten ausgestattet.

Auf der Suche nach einem neuen Image nach der britischen Herrschaft, speziell für die finanzstarke Tourismus-Industrie, entschied die Tourismusbehörde 2001, Hong Kong als “Asia’s World City” neu zu erfinden. Sie hat unversehens – einer stereotypen Mode folgend – entschieden, Hong Kongs Wurzeln in der chinesischen Kultur und ihrem Erbe auszubeuten. Hong Kong Disneyland, Ngong Ping 360 und weitere touristische Sehenswürdigkeiten (wie z. B. eine Bruce-Lee-Statue auf der Avenue of Stars) am Ufer des schrumpfenden Victoria Harbours zeigen, dass das Hauptziel der Regierung die Generierung von Einkünften ist; der lokale kulturelle Kontext und die Lebensqualität bleiben unberücksichtigt.

Die problematische Stadterneuerung geht Hand in Hand mit einer ungeschickten Image-Strategie: Shopping-Malls schießen nach wie vor wie Pilze aus dem Boden, obwohl es wenig Platz gibt und kaum echter Bedarf dafür besteht; weitere “spektakuläre” Erlebnisse für TouristInnen werden geplant und endlose klischeehafte kulturelle Repräsentationen ständig entwickelt. Ohne echtes Verständnis und Respekt für seine lokale Kultur wird die Regierung von Hong Kong auf lange Sicht höchstwahrscheinlich einen weiteren charakterlosen Ballungsraum schaffen, der seinen Platz neben einer Reihe vieler anderer chinesischer Städte einnimmt und seine Ambition, “Asia’s World City” zu werden, ziemlich sicher ersticken wird.

Siehe die Artikel der Konvention: UNESCO World Heritage Convention, verabschiedet 1972: http://whc.unesco.org/?cid=175

Wallis, Keith (2000): Harbour reclamation plans gathering pace. In: The Standard. 31. Juli 2000

South China Morning Post, 17. Dezember 2006

Cha Sui-San, Peter (2001): A survey report of Historical Buildings and Structures within the Project Area of the Central Reclamation Phase III, February 2001: A Historical and Architectural Appraisal of Queen¹s Pier, Central (Annex B, P.3). Im Auftrag der Regierung von Hong Kong, EIA (Environmental Impact Assessment).

So, Una & Tong, Stephanie (2004): Hopes Raised for Historic Market. In: The Standard, 4. August 2007. http://www.thestandard.com.hk/news_detail.asp?pp_cat=2&art_id=50548&sid=14791822&con_type=1&d_str=20070804&sear_year=2007

Published 29 October 2007
Original in German
First published by dérive 29 (2007)

Contributed by dérive   © Hilary Tsui / dérive / Eurozine

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