Denkmäler inmitten des Kriegs

Die Denkmalslandschaft der Ukraine seit Russlands Großangriff

Weltweit sind Denkmäler in den letzten Jahren zu Problemfällen geworden. Insbesondere Statuen „großer Männer“ werden unsanft der Unsichtbarkeit entrissen, die Robert Musil seinerzeit zum auffallendsten Merkmal eines Denkmals erklärte. Die Ehrfurcht vor Helden und Wohltätern in Stein und Bronze weicht vielerorts einer kritischen Beschäftigung mit deren Verwicklung in Kolonialismus, Sklaverei und Antisemitismus. Unzählige Beispiele dafür finden sich im englischsprachigen Raum, aber auch westeuropäische Länder wie die Niederlande oder Deutschland beginnen, sich mit steingewordenen Andenken an die Geschichte ihrer jeweiligen kolonialen Gewaltherrschaft auseinanderzusetzen.

In Österreich ist es vor allem die Statue des antisemitischen Wiener Bürgermeisters Karl Lueger auf dem nach ihm benannten Platz in der Hauptstadt, die seit Jahren die Gemüter erregt. Während Rufe nach Umsetzung und Umbenennung bislang verhallt sind, hat die Beschäftigung mit dem Denkmal eine Fülle künstlerischer Ideen generiert, wie die Statue des problematischen Politikers verfremdet und kontextualisiert werden kann. Derzeit ist auf dem Platz eine temporäre Installation zu sehen, es läuft ein Wettbewerb für eine permanente künstlerische Umrahmung.

Dabei ist die Denkmalssituation in Westeuropa und Nordamerika noch verhältnismäßig einfach. Umstritten sind vor allem einzelne Statuen, die besonders exponiert an wichtigen öffentlichen Orten stehen. Oft ehren sie Personen, zu denen die meisten Betrachter und Besucher kaum noch einen Bezug haben und deren Verdienste sich in der Rückschau als bescheiden darstellen, gerade im Vergleich zu ihrer unleugbaren Beteiligung an Verbrechen.

Die Soldaten vergangener Kriege hingegen werden in westlichen Ländern zumeist auf Militärfriedhöfen geehrt, auf die sich nur selten ein zufälliger Besucher verirrt. Oder aber in Form von Namenslisten, wie man sie in Österreich oder Deutschland in fast jedem Dorf findet – selbst für die Einwohner inzwischen oftmals ein bloßes Relikt vergangener Zeiten, für Ortsfremde zumeist bedeutungslos: Steine, an denen kaum jemand anstößt.

Kriegsdenkmäler in den russisch besetzten Gebieten der Ukraine

Anders verhält es sich in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Dort galt der Denkmalsbau jahrzehntelang als Instrument der Volkserziehung: monumentale Ehrenmale, aber auch zahlreiche seriell gefertigte Büsten und Statuen von Staats- und Armeeführern, Schriftstellern und Künstlern begegnen einem dort auf Schritt und Tritt. Doch diese Denkmalslandschaften sind keineswegs nur Ausdruck von Propaganda. Ehrenmale für die Millionen Soldaten, oft auch für die zivilen Opfer des Zweiten Weltkriegs finden sich in jedem Ort. Nicht wenige von ihnen wurden auf Anweisung von oben aufgestellt, etliche auch auf Initiative Überlebender und Hinterbliebener. Sie alle wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts allmählich zu zentralen Orten des Gemeinschaftslebens. Oft um zusätzliche Denkmäler für spätere Kriege und Katastrophen—Afghanistan, Tschernobyl, Tschetschenien—erweitert, stehen sie für eine zumeist verklärende, dafür umso intensivere Identifikation mit der Leidensgeschichte des eigenen Ortes oder auch der eigenen Familie.

Die Ukraine besitzt eine besonders reichhaltige und komplexe Denkmalslandschaft. Im Zweiten Weltkrieg komplett besetzt und Schauplatz grausamster Vernichtungsaktionen, war sie in den ersten Nachkriegsjahren diejenige Sowjetrepublik, in der die meisten Denkmäler für die Toten gebaut wurden—ein Prozess, der nie aufhörte und sich auch nach der Auflösung des Sowjetreichs fortsetzte. Neben Ehrenmalen für die Opfer vergangener Kriege sind in den letzten Jahren auch unzählige Denkmäler entstanden, die die Toten der „Antiterror-Operation“ ehren, wie in der Ukraine der Widerstand gegen die russische Intervention seit 2014 bezeichnet wird.

Seit jenem Jahr und insbesondere seit dem großflächigen Einmarsch im Februar 2022 sind Kriegsdenkmäler in der Ukraine immer wieder stark umkämpft. Dies zeigt sich bereits während der eigentlichen Kriegshandlungen: Oft stehen solche Denkmäler an Orten, die bereits während der deutschen Invasion von strategischer Bedeutung waren und es nun wieder sind. So geraten die Ehrenmale rasch ins Kreuzfeuer. Doch da der aktuelle Krieg sich für beide Seiten wie eine Wiederholung des Zweiten Weltkriegs darstellt—für Russland ein erneuter Kampf gegen vermeintliche Nazis, für die Ukraine ein vaterländischer Widerstand gegen Aggression, Besatzung und Massenmord—kommt den Denkmalen darüber hinaus eine extrem hohe symbolische Bedeutung zu.

Gleich nach dem Großangriff im Februar 2022 nahm ich Kontakt zu meinem ukrainischen Kollegen Mykola Homanyuk an der Staatlichen Universität Cherson auf, mit dem mich schon zuvor ein gemeinsames Interesse an den vielfältigen Formen des Umgangs mit sowjetischen Kriegsdenkmälern in ländlichen Gebieten der Ukraine verband. Während wir noch eine Art wissenschaftliche Luftbrücke mit Zoom-Vorlesungen für Studierende und DozentInnen der besetzten Stadt organisierten, begannen wir, Beobachtungen über das Schicksal von Kriegsdenkmälern in den von Russland neu besetzten Regionen des Landes auszutauschen. Uns fiel auf, welche wichtige Rolle Denkmäler, insbesondere Kriegsdenkmäler, für die Besatzer spielten. Zum einen nutzten sie sie als Kulisse für Siegesfotos. Zum anderen inszenierten Propagandavideos die Denkmalspflege als Beleg dafür, dass die Erinnerung an die glorreiche Vergangenheit nach Jahren angeblicher Vernachlässigung wieder hochgehalten würde.

Wir beschlossen, Online-Propagandakanäle und andere Medien systematisch nach Quellen zu diesen und anderen Formen des Umgangs mit Denkmälern in allen besetzten Bezirken der Ukraine zu durchforsten. Doch wir sammelten nicht nur online: Mykola verharrte Monate in seiner besetzten Heimatstadt Cherson und dokumentierte wagemutig das Schicksal alter und neuer Denkmäler, obwohl Einwohner der Stadt bereits verhaftet werden und „verschwinden“ konnten, wenn auf ihrem Smartphone bei einer Zufallskontrolle verdächtige Inhalte gefunden wurden.

Auf diese Weise kam eine Fülle an Material zusammen, das Aufschluss über die verschiedenen Formen des Umgangs mit Denkmälern in Zeiten von Krieg und Besatzung gibt. In dem Buch, das wir gemeinsam darüber schreiben, analysieren wir unzählige Belege für die ungebrochene Bedeutung unterschiedlichster Mahn- und Ehrenmale sowohl für die Besatzer als auch für den Widerstand gegen sie.

Während eine Reihe von Denkmälern – darunter auch Holocaust-Mahnmale in Kyjiw und Charkiw – zu Kollateralschäden der Invasion wurden, wurden andere von den Angreifern gezielt zerstört. Dabei hatten sie es vor allem auf Gedenksteine und –tafeln für Ukrainer abgesehen, die bei der Verteidigung des Landes seit 2014 gestorben sind—oder auch andere, die mit nationaler Symbolik wie dem ukrainischen Dreizack an vergangene Kämpfe gegen Russland erinnern. Um Gedenktafeln zu schützen, die oftmals an Schulgebäuden angebracht sind, bedeckten die Leiter der entsprechenden Institutionen sie oftmals vorsorglich mit schwarzer Folie, um sie bis zur Befreiung aus dem öffentlichen Raum verschwinden zu lassen.

Waren Denkmale, die offen an den ukrainischen Widerstand gegen Russland erinnern, den Besatzern ein Dorn im Auge, so hielt sich ihre Zerstörungswut in anderen Fällen in Grenzen. Ehrenmale etwa, die im Dienst verstorbener ukrainischer Polizeibeamter gedachten, ließen sie unangetastet, auch wenn einige dieser Polizisten als Freiwillige im Kampf gegen Russland ihr Leben gelassen hatten. Auch improvisierte Gedenkzeichen für die zu Beginn der russischen Großinvasion Gefallenen der ukrainischen Territorialverteidigung – also des aus Reservisten und Freiwilligen bestehenden Heimatschutzes – überlebten in Cherson die Monate der Besatzung. Während die Symbolik der ukrainischen Armee den Besatzern verhasst ist, sind sie zumindest in einigen Fällen offensichtlich bereit, Angehörige anderer Verbände als schuldlose Kriegsopfer anzusehen. Mit der ukrainischen Polizei, die auch der eigenen Toten aus sowjetischen Zeit gedenkt, verspüren die Einheiten von Russlands Nationalgarde vielleicht sogar so etwas wie eine korporative Solidarität.

Es ist allerdings nicht so, als würden die Besatzer ein in sich stimmiges Konzept des Denkmalssturzes oder Denkmalsbaus verfolgen – vielmehr gestaltet sich der Umgang mit Denkmälern situativ und lokal unterschiedlich. In Dörfern fernab der großen Einfallsstraßen etwa, deren Besetzung für Russland strategisch irrelevant war, ist die ukrainische Symbolik zum Teil bis heute nicht aus dem öffentlichen Raum verschwunden. Andererseits werden Ehrenmale für den Zweiten Weltkrieg zwar zumeist nicht angetastet – doch gibt es auch Fälle, in denen die russischen Truppen Teile davon vorsätzlich beschädigen, wenn etwa Inschriften in ukrainischer Sprache zu sehen sind.

Generell dienen Denkmäler, die an den Großen Vaterländischen Krieg erinnern, den Besatzern jedoch eher zur Rechtfertigung der Invasion. In russischen Propagandatexten und –videos wird immer wieder behauptet, solche Denkmäler seien in der Ukraine in den acht Jahren seit dem Euromaidan oder gar in den gesamten dreißig Jahren seit der Unabhängigkeit dem Verfall preisgegeben worden. Russland sei nun „wieder da“, um historische Gerechtigkeit herzustellen und den heldenhaften Vorfahren das ihnen gebührende Andenken zu erweisen. In Wirklichkeit jedoch werden Kriegsdenkmäler in der Ukraine nicht weniger gepflegt und instandgehalten als in Russland – ja es entstehen immer wieder neue Ehrenmale, wenn etwa Körper toter Soldaten aus dem Weltkrieg entdeckt und ehrenvoll bestattet werden. Russlands Propaganda greift daher zu ausgefallenen Mitteln, um die Mär von einer militärischen Spezialoperation zu Zwecken des Denkmalsschutzes plausibel zu machen. So werden etwa vielerorts an Ehrenmalen Ewige Flammen entzündet – auch an solchen, wo diese ursprünglich nicht vorgesehen waren. Eine andere originelle Art, einen respektvollen Umgang mit Kriegsdenkmälern zu inszenieren, ist der Einsatz von Farbe. Denkmälern aus Beton oder Gips gerade in ländlichen Gegenden einen neuen Farbanstrich zu geben, war bereits zu sowjetischen Zeiten üblich. Insbesondere vor Gedenktagen sollten sie auf diese Art verschönert und vor der Witterung geschützt werden. Da sich Kriegsdenkmäler in der Ukraine generell bereits in gutem Zustand befinden, greifen die Besatzer für die Kameras gerne auf besonders bunte und grelle Farben zurück, um keinen Zweifel an ihrem Engagement aufkommen zu lassen. So werden etwa verschiedene Elemente von Statuen oder Reliefs durch verschiedene Farben hervorgehoben: schwarze Soldatenstiefel, goldene Orden, rote Sterne. Selbst vor Bronzestatuen macht die Lust an bunter Bemalung keinen Halt.

Interessanterweise ist diese Vielfarbigkeit keineswegs eine russische Erfindung: In ländlichen Gebieten der Südukraine verschönern die Menschen „ihre“ Kriegsdenkmäler seit Jahren auf diese Weise, die an die Polychromie griechischer und römischer Statuen erinnert. Während zu sowjetischen Zeiten strengere Regeln für den Umgang mit Denkmälern galten, hat der Wegfall autoritärer staatlicher Kontrollinstanzen die örtliche Kreativität entfesselt. Indem die russischen Besatzer diese Praxis nun aufgreifen und als ehrendes Gedenken nach Jahren der Missachtung präsentieren, folgen sie einer alten sowjetischen Tradition. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hielten die Behörden immer wieder Ausschau nach lokal entwickelten Formen des Gedenkens. Fanden diese in der Bevölkerung Anklang, wurden sie aufgegriffen, mithilfe des Staatsapparats in Umlauf gebracht und dabei eingehegt, um etwaige subversive Botschaften zu unterdrücken.

Für die Besatzungsmacht ist der Umgang mit Denkmälern eine Form der Entukrainisierung und Russifizierung. Für die Zerstörung ukrainischer und die Pflege sowjetischer Denkmäler werden oft Ortsansässige herangezogen, darunter Kriegsgefangene, deren Teilnahme an solchen Aktionen dann propagandistisch als Straf- und Umerziehungsmaßnahme dargestellt wird.

Es werden jedoch nicht nur bestehende Denkmäler zerstört, beschädigt, umgestaltet oder auch gepflegt, sondern auch neue entworfen und gebaut. So nahmen sich die von Russland eingesetzten Verwaltungen mitten im Krieg Zeit dafür, eine ganze Reihe von Denkmälern neu aufzustellen, zum Teil an Orten, an denen sie zuvor Denkmäler für ukrainische Soldaten zerstört hatten. Diese neuen Symbole russischer Herrschaft reichen von kleinen Büsten bis hin zu aufwändig produzierten Bronzestatuen. Im fast vollständig zerstörten Mariupol etwa errichteten die neuen Machthaber sowohl eine Plastikstatue einer älteren Frau, die die russischen Truppen bei Charkiw mit einer sowjetischen Fahne begrüßt hatte, als auch eine monumentale Reiterstatue des mittelalterlichen Fürsten Alexander Newski. In mehreren Fällen wurden auch Leninstatuen neu aufgestellt, die zuvor im ukrainischen „Leninfall“ aus dem öffentlichen Raum verschwunden waren – eine Ironie der Geschichtspolitik, hatte doch Wladimir Putin in seiner Rede zum Kriegsbeginn Lenin für die Existenz einer von Russland unabhängigen Ukraine verantwortlich gemacht.

Der Besitzanspruch, den Russland auf Denkmäler in den besetzten Gebieten erhob, führte schließlich auch dazu, dass einige von ihnen beim Rückzug einfach gestohlen wurden. Cherson etwa hatten die Besatzer Ende September zu einem Teil Russlands erklärt. Als sie kaum vier Wochen später begannen, ihre Flucht aus der Stadt vorzubereiten, ließen sie Denkmäler für Alexander Suworow und Fjodor Uschakow, beides russische Heerführer aus dem 18. Jahrhundert, kurzerhand mitgehen, ebenso die sterblichen Überreste des Fürsten Grigori Potemkin. Nach der verqueren räuberischen Logik der Besatzer handelte es sich ja nun um russisches Kulturerbe, das vor der Ukraine geschützt werden müsse.

Der neue Bildersturm in der Ukraine

Diese rabiate Denkmalspolitik, vor allem aber die Invasion selbst haben ihrerseits auch in den nicht besetzten Teilen der Ukraine einen neuen Denkmalssturz ausgelöst. Denkmäler von Staats- und Parteiführern aus sowjetischen Zeiten waren bereits nach dem Euromaidan und in der ersten Phase des Kriegs hundertfach aus dem öffentlichen Raum entfernt worden. Seit dem 24. Februar 2022 trifft es auch solche Denkmäler aus der Zarenzeit und der sowjetischen Periode, die die Präsenz Russlands und der russischen Kultur verankern sollten: Denkmäler für die „Wiedervereinigung“ der Ukraine mit Russland im 17. Jahrhundert, Statuen von Alexander Puschkin, Maxim Gorki und anderen Schriftstellern, deren breite Präsenz nun als Symbol für die von Russland deklarierte Überlegenheit der eigenen Kultur gelesen wurde. Auch Kriegsdenkmäler sind von diesem Bildersturm nicht mehr ausgenommen: Zumeist trifft es Denkmale, die eher für sowjetische Militärherrschaft standen als für einfache Rotarmisten, doch vereinzelt werden auch Denkmäler für die „Befreiersoldaten“ entfernt. In den meisten Fällen handelte es sich um demokratisch legitimierte Entscheidungen der jeweiligen Stadtverwaltungen, doch es gibt auch Fälle, in denen AktivistInnen auf eigene Faust Denkmäler entfernen, wie bereits zuvor zu Beginn des „Leninfalls“ – darunter auch solche, die zwar Figuren aus der sowjetischen Zeit ehrten, aber bereits in der unabhängigen Ukraine aufgestellt worden waren, in Charkiw etwa eine Büste von Georgij Shukow, dem berühmten Feldherrn aus dem Zweiten Weltkrieg. In Mykolajiw standen sich im Oktober 2022 Gegner und Beschützer eines Denkmals für Polizeibeamte gegenüber, die im Dienst ihr Leben gelassen hatten. Die Denkmalsstürmer sahen es als Symbol des sowjetischen Unrechtsstaates. Diejenigen, die für den Erhalt der Statue eintraten, wiesen darauf hin, dass sie zwar zu sowjetischen Zeiten, aber auf Initiative von unten durch eine Spendenaktion zustande gekommen war. Schließlich demolierten die Gegner das Denkmal in einer Nacht- und Nebelaktion, ohne einen offiziellen Beschluss abzuwarten.

Werden auf diese Art und Weise ohne vorherige Diskussion Tatsachen geschaffen, so wirft dies die Frage auf, ob der Denkmalssturz Rückhalt in der Bevölkerung hat – oder ob er einen aktiven Rückhalt überhaupt benötigt. Im November 2022 führte Mykola Homanyuk gemeinsam mit Kollegen eine repräsentative Umfrage durch, in der (verbliebene und geflüchtete) Einwohner von Charkiw nach ihrer Einstellung zur Umbenennung von Straßen und zur Entfernung von Denkmalen befragt wurden. Die Ergebnisse waren gerade in ihrer Komplexität interessant. So sprachen sich die meisten Befragten dafür aus, so viele Einwohner wie möglich in die Debatte einzubeziehen—gleichzeitig erklärten sich nur wenige selbst zu einer Beteiligung bereit, die über die Teilnahme an Online-Umfragen hinausginge. Es gibt viel Unterstützung dafür, Verweise auf Orte in Russland und Belarus, ideologische Begriffe aus der Sowjetzeit sowie russische und sowjetische Feldherrn aus dem Katalog der Straßennamen und aus der Denkmalslandschaft zu streichen. Mehr als die Hälfte der Befragten sprach sich jedoch dafür aus, russische bzw. sowjetische Persönlichkeiten aus Kultur und Wissenschaft beizubehalten – insbesondere wenn sie nach konkreten Namen gefragt wurden (so möchten 79% den Kosmonauten Jurij Gagarin bewahren). Rückwirkend befürworteten die meisten zwar die Entfernung der Shukow-Büste, hätten das ebenfalls entfernte Puschkin-Denkmal jedoch lieber erhalten.

Perspektiven auf Denkmäler dezentrieren

Russlands brutale Invasion ist nicht nur ein direkter Angriff auf die Menschen in der Ukraine, sondern auch auf deren kulturelle Vielgestaltigkeit – auf die Vielfalt, Pluralität und Hybridität, die dieses Land so einzigartig macht. Nicht nur versucht der Angreiferstaat, durch Terror und die Vernichtung von Menschen, Büchern und Denkmälern die Vielschichtigkeit und Flexibilität der Alltags- und Erinnerungskultur in den besetzten Gebieten durch eine postmodern interpretierte russisch-sowjetische Einheitlichkeit zu ersetzen. Auch für die Ukraine schafft es einen ständigen Anreiz, die eigene Landschaft von Symbolen zu säubern, die als russisch oder sowjetisch wahrgenommen werden können.

Wie lässt sich unter solchen Bedingungen überhaupt über Denkmäler diskutieren, zumal über solche, die auf die eine oder andere Weise Assoziationen mit dem Aggressorland hervorrufen, auch wenn sie in den meisten Fällen von Ukrainerinnen und Ukrainern aufgestellt wurden?

Ich möchte hier einen Vorschlag aufgreifen, den die ukrainische Künstlerin, Fotografin und Schriftstellerin Yevgenia Belorusets unlängst in einer Diskussion über sowjetische Denkmäler in der Ukraine machte. Belorusets setzt sich seit Beginn des Krieges im Jahr 2014 unermüdlich dafür ein, die Menschen im Donbas, die ihre Heimat um keinen Preis verlassen wollen, nicht pauschal als Kollaborateure zu verteufeln. Viele von ihnen fühlen sich dem sowjetischen industriellen Erbe in ihrer Region verbunden. Dazu gehören auch die mit Denkmälern übersäten Stadtlandschaften. Sie sehen darin einen Ausdruck ihrer eigenen Lebensleistung statt nur Symbole des sowjetischen Unrechtsstaates. Um der Vieldeutigkeit der Denkmäler an solchen Orten Rechnung zu tragen—Sinnbilder der Repression für die einen, Symbole der Schaffenskraft und Teil der vertrauten Lebenswelt für die anderen—schlug sie den Begriff der „Dezentrierung“ vor. Diese vom Entwicklungspsychologen Jean Piaget geprägte Kategorie bezeichnet die erst im späten Kindesalter ausgebildete Fähigkeit, mehrere Dimensionen eines Objektes oder mehrere Aspekte einer Situation gleichzeitig zu berücksichtigen.

So simpel dies klingen mag, so fruchtbar könnte ein solcher Perspektivwechsel für die Diskussion um Denkmäler sein—vor allem, aber nicht nur im postsowjetischen Raum. Heute stehen sich in solchen Debatten oft zwei Lager unversöhnlich gegenüber (von der unbeteiligten oder gleichgültigen Mehrheit einmal zu schweigen). Die einen sehen nur die Schattenseiten, die anderen nur das Erhabene oder Vertraute. Den einen gilt jeder Versuch, eine Statue einer Heldenfigur des sowjetischen Pantheons zu erhalten, als Ausdruck kolonialen Bewusstseins und einer prorussischen Haltung. Die anderen empfinden jeden Aufruf zum Sturz oder zur Umsetzung eines Denkmals als Entwertung der Errungenschaften ihrer Vorfahren und ihres eigenen Heimatgefühls.

Die offensichtliche Tatsache, dass ein und dasselbe Denkmal mehr als eine Bedeutung haben kann, spielt in solchen Diskussionen erstaunlich selten eine Rolle. Besonders deutlich wird dies an Denkmälern, die—ob in Form von Soldatenstatuen oder Panzermonumenten—an den Zweiten Weltkrieg erinnern. Was den einen mit Dankbarkeit für die Befreiung von der nationalsozialistischen Herrschaft erfüllen mag, kann auf den anderen bedrohlich wirken. Dabei muss es auch nicht immer nur um das gehen, was ein Denkmal vordergründig abbildet. Auch dessen künstlerischer Wert kann von Bedeutung sein. Dem 1921 gestorbenen Bolschewik Fjodor Sergejew (bekannt als Artjom) etwa, einem engen Freund Stalins, der während des Bürgerkriegs Bauernaufstände und Nationalbewegungen blutig niederschlug, würde in der heutigen Ukraine wohl niemand ein Denkmal setzen wollen. Trotzdem kann man die außergewöhnliche konstruktivistische Riesenstatue, die der Universalkünstler Iwan Kawaleridse im Jahr 1927 zur Erinnerung an ihn in Swjatohirsk gestaltete, als Ausdruck ukrainischen Schaffensgeistes schätzen.

Viel häufiger als künstlerische Aspekte spielt jedoch die lebensweltliche Vertrautheit mit Denkmälern eine Rolle. Wenn eine Statue verschwindet, die als Treffpunkt in Sommernächten gedient hatte, als Kulisse für den ersten Kuss, als halbbewusst wahrgenommener Orientierungspunkt in der Stadtlandschaft, dann kommt den Menschen ein Stück ihrer Biographie abhanden. Gerade in den ehemals sozialistischen Staaten, in denen Parks, Stadt- und sogar Dorfplätze noch viel häufiger um zentrale Denkmäler herum gebaut wurden als in den meisten westeuropäischen Ländern, spielt dies eine große Rolle. Auch darum finden sich unter denjenigen, die sich gegen den Denkmalssturz stellen, neben Rentnern, Architekturhistorikerinnen oder Geschichtspolitikern oft Vertreter jugendlicher Subkulturen: Skater, Straßenkünstlerinnen oder Musiker, die die Umgebung eines Denkmals als Rückzugsraum inmitten der Öffentlichkeit zu schätzen gelernt haben. Zu Kriegszeiten wirkt die Demontage des Vertrauten noch traumatischer, wie Belorusets anmerkte: Angesichts der tagtäglichen Verwüstung wirkt die mutwillige Zerstörung eines weiteren materiellen Gegenstandes wie ein Attentat auf einen Teil des eigenen Lebens. Genau aus diesem Grund sprachen sich in der erwähnten Umfrage die weitaus meisten Befragten dafür aus, mit Denkmalssturz und ähnlicher Symbolpolitik bis nach Kriegsende zu warten.

Andere—und auch das ist emotional nachvollziehbar—richten ihre Wut über erlittenes Unrecht in Freud’scher Affektverschiebung gegen Statuen. Oder aber sie argumentieren, dass allein die Präsenz russischer oder sowjetischer Denkmale im öffentlichen Raum der Ukraine dem Nachbarland immer wieder Gelegenheiten bieten wird, seine Aggression als Schutz des gemeinsamen Erbes zu rechtfertigen. Das Argument ist nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. Doch hat Russlands Führung gezeigt, dass verschwundene Statuen ihr ebenso gut als Rechtfertigung für Eroberung und Vernichtung dienen können wie erhaltene – im Gegenteil ist es eher der Fortbestand tausender Denkmäler aus sowjetischer Zeit in der Ukraine, der sie immer wieder in Erklärungsnot bringt und zu propagandistischen Verrenkungen zwingt.

Letztendlich ist es in Zeiten von Krieg und politischem Umbruch wohl unvermeidlich, dass Denkmäler entfernt und neue errichtet werden – zumindest so lange, wie wir noch an die sinnstiftende Wirkung öffentlicher Denkmäler glauben. Zorn und Erbitterung sind in diesem Prozess ebenso legitime Gefühle wie Trauer und die Hoffnung auf einen Neuanfang. Dabei ist es jedoch wichtig, dass sich die Wut und der Wunsch nach Vergeltung nicht gegen die eigenen Mitbürger richten, ja diese womöglich aufgrund ihrer Verbundenheit mit Denkmälern und dem, wofür sie stehen, zu Verrätern deklariert werden. Denn letztendlich geht es nicht um die Denkmale selbst, sondern um die Art von Gemeinschaft, die sich durch sie ausdrückt.

Published 11 April 2023
Original in German
First published by Eurozine (German and English versions)

Contributed by RECET © Mischa Gabowitsch / RECET / Eurozine

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