"Den Onkel Tom, den spiele ich nicht!"

Ein Gespräch mit dem deutsch-iranischen Schriftsteller und Orientalisten Navid Kermani

Ali Fathollah-Nejad: Sie sagen von sich selbst, dass Sie es bevorzugen, auf Deutsch zu schreiben, jedoch lieber Persisch sprechen! Woher kommt das?

Navid Kermani: Ich spreche schon besser Deutsch als Persisch, aber wenn ich im Ausland die persische Sprache höre, ist sie mir vertrauter. Als meine Tochter zur Welt kam, waren die ersten Worte, die ich zu ihr sprach – ohne, dass ich vorher darüber nachgedacht hätte – Persisch. Persisch war einfach die erste Sprache, die ich gehört habe und das bleibt einem im Ohr.

AF-N: Und das hat nicht so sehr mit dem Klang der Sprache zu tun?

Natürlich hat das Persische einen sehr schönen Klang, aber ich glaube, beim Finnischen ist es wahrscheinlich genauso. Es ist einfach eine prinzipielle Sache: Zweisprachigkeit heißt nicht, dass beide Sprachen identisch sind, sondern dass verschiedene Sprachen verschiedene Bereiche abdecken und im Idealfall den Horizont der eigenen Sprache erweitern. In Deutschland haben wir uns angewöhnt zu denken, dass Einsprachigkeit normal und Zweisprachigkeit so etwas wie eine Krankheit sei. Kulturgeschichtlich ist Zweisprachigkeit eigentlich die Regel gewesen, zum Beispiel hat man eine Sprache für den täglichen Umgang und eine Hochsprache für andere Anlässe. Oder man lebt in einer Stadt, in der viele Sprachen gesprochen werden, ob das nun Aserisch und Persisch oder Tschechisch und Deutsch ist. Viele der größten deutschen Dichter und Schriftsteller waren keine Deutschen im nationalen Sinne.

AF-N: Unter dem Eindruck Ihrer Reise nach Marokko haben Sie im Oktober 2005 die Rede zum 50. Jahrestag der Wiedereröffnung des Wiener Burgtheaters gehalten.1 Da haben Sie auch über die blutbeschmierten Grenzen gesprochen, die Europa umzäunen. Hat Europa sein humanistisches Ideal verloren?

Nein, das nicht; es ist ja da. Es stellt sich eher die Frage, ob Europa sein humanistisches Ideal auch gegenüber denjenigen zum Tragen kommen lässt, die nicht Europäer sind. Europa ist heute ein Kontinent, der es nach all den blutigen Erfahrungen, den vielen Opfern und Verbrechen, die ja wirklich unglaublich und einzigartig und in anderen Kulturen nicht in dieser Dichte vorhanden sind, zu einem vergleichsweise toleranten und humanistischen Miteinander gebracht hat. Ich bin sehr gern in Europa. Ich fühle mich auch wirklich als Europäer mit allem, was das bedeutet: der europäischen Aufklärung und den Idealen der Französischen Revolution, und der Tatsache, dass man die eigene Vielfalt nicht nur akzeptiert – das war im Osmanischen Reich oder unter den Habsburgern auch so –, sondern dass man sie als einen Wert an sich gutheißt und schätzt. Dazu war Europa erst fähig, nachdem es versucht hatte, die Vielfalt mit Gewalt auszutreiben. Ich befürchte, dass Europa gerade dabei ist, diesen (Menschen-)Schatz wieder zu verlieren; zum einen durch den Umgang mit denjenigen, die nicht zu Europa gehören. Hier verrät Europa tagtäglich seine Ideale. Das fängt mit der Außenpolitik an, wo nur oder fast nur materielle Interessen zählen. Und das hat auch mit denen zu tun, die nach Europa wollen – die Grenzzäune von Ceuta und Melilla2 sind hier nur ein Beispiel unter vielen – und über die dann ein deutscher Innenminister wie über eine Krankheit spricht. Man kann immer sagen: Anderswo ist es auch nicht besser. Doch so kann ich nicht denken. Mit diesem Argument wäre sogar das Europa von Berlusconi immer noch besser als Saudi-Arabien. Das mag ein Trost sein. Aber eigentlich kann ich Europa nur daran messen, was es sein will. Europa war immer eine Art von Utopie, die nationalistischen Realpolitikern entgegengehalten wurde. Diese Utopie ist Wirklichkeit geworden. Die Gipfeltreffen, die zwischen den Ländern Europas stattfinden, die Selbstverständlichkeit, mit der man heute miteinander umgeht, umher reist oder sich auch streitet, war vor fünfzig Jahren überhaupt nicht abzusehen. Europa ist nicht mehr nur eine Worthülse. Wenn man sieht, was Europa war und wie weit es in diesen fünfzig Jahren gekommen ist, und wenn man dann fünfzig Jahre weiterdenkt, könnte Europa wirklich ein guter Ort werden.

AF-N: Es gab in der Geschichte sehr viele Kritiker, die von ihrer Jugendliebe Europa im Nachhinein sehr enttäuscht waren. Zu denen gehört auch beispielsweise der ehemalige iranisch-stämmige Präsident des deutschen Schriftstellerverbandes PEN, Said, der 1992 einen “Brief an Europa” verfasst hat.3 Er fängt an mit der Geschichte eines jungen Iraners, der sich unter der Schah-Diktatur nach dem freiheitlichen Europa sehnt, aber sobald er hier ist, von diesem Europa sehr enttäuscht wird. Da schreibt Said: “Er ist müde geworden, weil Du, Europa, deren Sprache [die der Diktatoren] besser verstehst als unsere. Er ist müde geworden, weil Du immer Sieger, nie aber ein Freund sein willst. Weil Du die Tagesvernunft gegen den Anstand stellst und gegen Brüderlichkeit. Nur dort wo keine Liebe ist, wächst auch kein Verstehen!” Frantz Fanon, einer der Vordenker des Anti-Kolonialismus, schließt daraus: “Verlassen wir dieses Europa!” Ist das die falsche Schlussfolgerung?

Das ist mir ja alles bewusst. Ich habe mich nicht ohne Grund dazu entschieden, meine Rede zu Europa zum 50. Jahrestag des Burgtheaters aus der Perspektive der Flüchtlinge zu schreiben. Ich bin bewusst dort hingegangen, wo sich Europa am schmutzigsten verhält, wo Europa am brutalsten ist. Und gerade, indem ich schreibe, wie Europa seine Ideale verrät, glaube ich an diese Ideale. Sonst wäre ja alles egal. Die größten Europäer, die am emphatischsten an Europa glaubten, waren die, die Europa am schärfsten kritisiert haben. Während die, für die Europa nicht so wichtig war, einen mehr oder weniger pragmatischen Umgang mit dem europäischen Projekt pflegen. Sehen Sie sich die Staatsführer von heute an, Angela Merkel, Tony Blair oder Nicolas Sarkozy in Frankreich. Für sie ist Europa nicht mehr ein Teil ihrer politischen Identität wie für die Politikergeneration nach dem Krieg, ob links oder rechts, bis hin zu Kohl, Schröder, Mitterrand und Chirac. Diese hatten noch eine Erinnerung an den Krieg und sind damit aufgewachsen, dass man für Europa kämpft. Doch für die jetzigen wird Europa zu einer Wirtschaftsgemeinschaft und verliert, wie ich finde, etwas Wesentliches.

Zum anderen: Schauen wir uns die Geschichte mit den Flüchtlingen in Nordafrika an. Es ist absolut brutal, was da passiert. Und es passiert im Namen und im Auftrag der Europäer, selbst wenn es zum Teil marokkanische Polizisten sind, die das Übel anrichten. Aber sie sind so brutal, weil die Europäer sie dazu anstiften, da kann ich nicht viele Worte zur Verteidigung finden. Und auch der Umgang mit Asylanten, wie über Fremde und andere Kulturen zum Teil gehetzt wird und wie Politiker das Ressentiment auch im Wahlkampf nutzen, etwa in Dänemark, Österreich oder Holland – all das ist grässlich. Und trotzdem, alles zusammengenommen ist es noch besser als im Iran. Zwar war die Wahl zwischen Merkel und Schröder weit entfernt von den Idealen der europäischen Aufklärung, aber immerhin war es eine Wahl. Nur was man wertschätzt, kann man auch mit Leidenschaft kritisieren.

AF-N: Sie sagen, dass die Liebhaber Europas auch erbitterte Feinde Europas gewesen sind. Zu dem ’Gesinnungstest¹, den die CDU durchzusetzen versucht, hat der Politikwissenschaftler Dieter Oberndörfer4 bemerkt: “Kenntnisse der Geschichte und Kultur Deutschlands verbürgen keine positive Identifikation mit Deutschland. Hervorragende Kenner der deutschen Geschichte und Kultur waren dennoch erbitterte Feinde Deutschlands.” Was für Konzepte verbergen sich hinter dem nationalen und europäischen Rahmen?

Natürlich ist der deutsche nationalstaatliche Rahmen ein anderer als der europäische Rahmen. Ich glaube, wir kennen das alle. Gerade das deutsche Nationalstaatskonzept beruht – und das geht bis zum Staatsbürgerschaftsrecht – auf der Einheit von Rasse, Blut, Religion und Kultur. Mit der Folge, dass ein Russe, der vor vier oder fünf Generationen eine deutsche Mutter hatte, deutscher ist als der türkischstämmige Migrant, der in der dritten oder vierten Generation in Deutschland lebt und nur Deutsch spricht. Das heißt, man kann kein Deutscher werden, denn Deutschland ist keine Wertegemeinschaft, sondern immer noch eine nationale, eine ethnische Kategorie.

Europa hingegen ist eine Willensgemeinschaft. Europa hat nie von sich selbst behauptet, eine Einheit zu sein. Es geht nicht um die Nivellierung von Unterschieden, sondern um die Aufgabe, Unterschiede zu bewahren, indem man sie politisch entschärft. Willensgemeinschaft heißt, dass Werte geteilt werden, nicht die Abstammung. Zu Werten kann man sich bekennen oder nicht. Es gibt viele Europäer, die sich nicht zu den europäischen Werten bekennen: Faschisten und Rechtsradikale etwa. In dem Sinne sind sie weniger Europäer als ein türkischer Intellektueller, der für diese Werte bereit ist ins Gefängnis zu gehen. Das heißt, Europas Grenzen kann man nicht definieren wie man eine nationale, sprachliche Grenze definieren kann, sondern Europa ist im emphatischen Sinne durch Werte gekennzeichnet.
Bei den Fragebögen zur Staatsbürgerschaft, die in Deutschland eingeführt werden sollen, spürt man die Angst, die Abwehr und diesen Geist des Misstrauens.5 Das steht natürlich völlig im Widerspruch zu dem, was Europa eigentlich ist. Ganz abgesehen davon, dass solche Tests auch vollkommen abstrus und lächerlich sind. Das Absurde an der ganzen Debatte ist, dass ausgerechnet diejenigen, die die 68er und ihre Folgen – wie die Homoehe und ähnliches – am allermeisten bekämpft haben, diejenigen sind, die gerade die Homoehe zum Oberbegriff europäischer Aufklärung machen. Ich hoffe, dass man auch weiterhin darüber lachen kann. Aber meine Befürchtung ist, dass alles noch so ernst wird, dass einem das Lachen vergeht.

So sehr ich Europa liebe und mich als Europäer verstehe, habe ich ein großes Misstrauen. Jeder weiß, was vor sechzig Jahren in Europa passiert ist. Srebrenica ist gerade mal zehn Jahre her. Und das war in Europa, fand vor den Augen der Europäischen Union statt. Die europäischen Soldaten sahen tatenlos zu, wie 7.000 Muslime innerhalb von wenigen Tagen massakriert worden sind. So wertvoll das ist, was Europa bislang erreicht hat, so gefährdet ist es. Ich glaube, dass die Kräfte der Liberalität in Deutschland nicht sehr stark sind – möglicherweise auch, weil Deutschland keine lange Tradition des Zusammenlebens mit anderen Kulturen hat wie etwa England. Noch fühle ich mich in meiner Stadt, meinem Umfeld wirklich wohl. Aber ich habe schon Angst, dass das einmal kippen könnte.

AF-N: Sie fordern, dass Muslime sich auch mit der Bibel und der Thora befassen sollten. Wieso ist das von Bedeutung?

Ich glaube, dass eine islamische Religion auch in Deutschland und Europa ihre eigenen Strukturen herausbilden muss, dass es andere sind als in einem anatolischen Dorf und dass die heutige Religiosität sich über Generationen hinweg verändern wird. Gerade dann, wenn man mit Angehörigen anderer Religionen zusammen lebt, ist es wichtig, ein Minimum an Kenntnis ihrer Religion zu haben. Ich glaube ohnehin, dass man Religionen – auch die eigene – nur angemessen verstehen kann, wenn man sie im Kontext ihrer Nachbartraditionen studiert. Keine Religion ist isoliert entstanden, sondern in der Auseinandersetzung mit anderen religiösen Traditionen. Wenn wir die Fragen nicht verstehen, auf die die islamische Theologie antwortet, dann werden wir die Antworten auch nicht verstehen können. Daher darf das Studium religiöser Traditionen nicht delegiert werden an das Fach “Dialog mit anderen Kulturen”, sondern es gehört zum Innersten eines religiösen Verständnisses. Der Kontext, in dem sich der Islam bewegt, ist eben vor allem das Judentum und das Christentum. Entsprechend wird das für das Christentum und das Judentum auch gelten.

AF-N: Wie kann man als Schriftsteller Aufklärung betreiben in einer Zeit der angeblich unvereinbaren Gegensätze?

Mit denen, die ganz abgedriftet sind, wie z.B. mit Terroristen, kann man wahrscheinlich nicht viel reden. Es ist Aufgabe der Politik und der Sicherheitsdienste, mit ihnen umzugehen. Man muss aber versuchen zu verhindern, dass mehr Menschen sich solchen Leuten anschließen. Wenn wir die kulturelle Sprache, mit der solche politischen Konflikte artikuliert werden, übernehmen, werden wir auch zu einem Teil des Problems. Ich glaube also nicht, dass wir das Palästinenser-Problem durch einen “Dialog der Kulturen” lösen werden. Ein solcher Dialog mag ein Bestandteil einer möglichen Lösung sein und für eine bestimmte Gesprächsebene gelten, aber es handelt sich hier um einen territorialen, um einen nationalen Konflikt. Ich glaube auch nicht, dass wir die Frage der Atomwaffen im Iran auf der Ebene der Theologie diskutieren sollten, das ist vielmehr eine Frage der Politik. Das Gleiche gilt für die Frage der muslimischen Migranten in Europa.

Dieses Subjekt “Islam”, wer oder was soll das sein? Und wer oder was soll das Subjekt “Westen” sein? Man sieht doch schon, welche Unterschiede es allein im Westen gibt, zwischen, sagen wir, dem Amerika von George W. Bush und einem Europa, das sich gegen den Irak-Krieg gewendet hat. Wer oder was soll “der Islam” sein? Ist damit der Wahhabismus gemeint? Und was ist mit uns? Gehören wir, die wir hier aufgewachsen sind und uns als Europäer verstehen, dem Westen an oder dem Islam? Diese Konzepte schaffen Identifikationen, die in der Realität sehr kompliziert sind. Indem wir diese Konzepte annehmen, verfestigen wir sie. Das heißt, Leute wie wir fühlen sich dann plötzlich primär als Muslime, denn zum Westen gehören wir ja scheinbar nicht. Manche radikalisieren sich daraufhin und sind dann nur noch Muslim. Die Leute, die in den Terrorismus abgeglitten sind, waren oft auffallend gut integriert. Sie waren eigentlich vollkommen westlich, haben aber irgendwann gemerkt, dass sie am Ende doch nicht wirklich dazu gehören. Sie haben dann für sich eine islamische Identität konstruiert, die mit dem Islam ihrer Mütter und Väter nichts zu tun hat.

Insofern sehe ich meine Aufgabe als Schriftsteller darin, Dinge zu verkomplizieren, also feste Identitäten aufzulösen, Widersprüche zu beschreiben, Ambivalenzen, und nicht Abziehbilder zu generieren. Für mich hat ein iranischer Intellektueller in Teheran, der für die Demokratie kämpft, viel mehr mit einem englischen Intellektuellen zu tun – und zwar nicht nur in Bezug auf seine Ansichten, sondern auch in Bezug auf die Kultur, mit der er aufgewachsen ist, die Ideale, die er vertritt, die Art des Lebens, das er führt –, als mit dem Bauer fünfzig Kilometer außerhalb von Teheran. Das heißt, die Schneise geht nicht zwischen dem Islam und dem Westen hindurch, sondern sie geht mitten durch den Iran. Und das Gleiche gilt auch im Westen: Ich würde sagen, dass eine Susan Sontag mit dem evangelikalen Pfarrer aus dem Bible Belt viel weniger zu tun hatte als mit Orhan Pamuk. Das Problem ist nur, dass Leute aufgrund von solchen Karikaturen politisch oder militärisch handeln. Osama bin Laden oder die Terroristen des 11. September, die das World Trade Center attackiert haben – das Symbol des Westens –, haben eine bestimmte Vorstellung des Westens und aufgrund dessen terroristisch gehandelt. Umgekehrt agieren immer mehr westliche Politiker aus der Vorstellung heraus, dass es den Islam gibt, mit dem man sich auseinandersetzen muss. Und in dem Augenblick, in dem diese Karikaturen zu einer politischen Handlung führen, muss man sie ernst nehmen. Es reicht dann nicht mehr zu sagen: “Die Wirklichkeit ist komplizierter.”

AF-N: Komplexitäten aufzeigen ist also ein Ausweg, den Sie mit Ihrem Schriftstellerdasein bezwecken. Wann setzt jedoch in einer Umwelt, die zum Teil von sehr starken Feindbildern, von Simplifizierungen und Kulturalisierung bestimmt ist, Frustration ein? Ist das Engagement des Intellektuellen unerschöpflich?

Auf dieser Ebene bin ich total frustriert. Wenn ich an einer Debatte teilgenommen habe, bin ich hinterher oft erbittert. Immer diese Talkshows, in denen es den Islam-Kritiker gibt und den Muslim. Ich merke, dass ich das eher überleben kann, wenn ich es weit gehend ignoriere, und nicht, wenn ich versuchen würde, auf einer solchen Ebene mitzudiskutieren: “Der Islam ist dies und der Islam ist das!” – “Aber der Islam ist gar nicht so!” Ich komme sofort in eine apologetische Haltung, die mir zuwider ist. Meine eigentliche Aufgabe ist ja die Kritik und nicht die Rechtfertigung. Ich muss mich entscheiden: Entweder nehme ich solche Debatten ernst, bringe mich ein und werde zum Multikulti- oder Islam-Verteidiger – oder auch zum Islam-Ankläger, welche Rolle auch immer mir dann zugeschoben werden würde. Oder – was für mich viel wichtiger ist – ich schreibe meine Bücher, und zwar so, dass sie noch in zwanzig oder fünfzig Jahren gelesen werden können, das heißt, ohne dass sie allzu sehr von Debatten tangiert sind, die man hoffentlich in zwei Jahren wieder vergessen hat.

AF-N: Ist das ein frustrierter Rückzug aus dem öffentlichen Diskurs?

Es ist eher eine Askese, damit ich mich auf etwas konzentrieren kann. Ich mache viel lieber eine Lesung, als dass ich an einer Debatte oder Podiumsdiskussion teilnehme. Außerdem merke ich, dass ich bei einer Lesung eine größere Wirkung erziele als mit einem Zwei-Minuten-Statement im Fernsehen. Die Leute gehen nach Hause und bei ihnen ist etwas ausgelöst worden. Sie gehen mit Fragen nach Hause. Da entsteht ein Dialog auf einer anderen Ebene. Meine Aufgabe liegt vielmehr darin, Verwirrung zu stiften oder Wirklichkeiten zu beschreiben, als Lösungen vorzuschlagen. Das ist der eigentliche Dialog des Schriftstellers: seine Texte müssen im Leser weitergären und eine andere Art von Wirklichkeit annehmen. Der Leser, der von einem Buch angestiftet worden ist, liest weiter, und ich glaube, er sieht dann sein Leben, seine Wirklichkeit komplexer als vorher. Als Schriftsteller muss ich bewusst mit den Worten umgehen, die auf mich einströmen. Ich muss mich auch oft abschotten und manches ignorieren. Auf keinen Fall darf ich auf alles reagieren. Ein Sportler, der nicht auf seine Nahrung, seinen Körper achtet, missachtet seinen Beruf. Ich, als jemand der schreibt, muss darauf achten, was ich lese. Und, wenn wir schon von Wirkung sprechen: Lieber halte ich einmal im Jahr eine große Rede, wie die Rede im Wiener Burgtheater, als dass ich bei möglichst vielen Anlässen spreche. Wobei das jetzt reine Theorie ist. In der Praxis rede ich natürlich immer noch viel zu viel und viel zu oft. Die Inflation der eigenen Worte ist schrecklich. Ich muss noch viel asketischer werden.

AF-N: Ihre Frau, die Islamwissenschaftlerin und Publizistin Katajun Amirpur, und Sie haben beide sehr offensive Offene Briefe an den Chefredakteur des Nachrichtenmagazins Der Spiegel geschrieben und dem Blatt unter anderem vorgeworfen sich kein “anständiges Redigat” zu leisten6, wenn Der Spiegel mit den Themen Integration und Islam aufmachte. Lesen Sie noch den Spiegel?

Beim Spiegel ist das ärgerlich, denn bei rechten Blättern weiß man ja, woher etwas kommt. Als ich ihn noch ab und zu gelesen habe, wirkte er auf mich, gerade weil er aus einem linken Milieu kommt, um Vieles dogmatischer als etwa Die Welt. Wenn man dann auch noch Leute im Spiegel kennt, dann weiß man, dass es intern wirklich so läuft: die Artikel werden von der Chefredaktion noch schärfer gemacht, als sie ohnehin schon sind. Im Spiegel-Diskurs tauchen Leute wie ich nicht auf, weder als Schriftsteller, noch als Intellektueller. Da hat man als Muslim nur Platz, wenn man seine eigene Religion anklagt. Aber den Onkel Tom spiele ich nicht.

"Die enthusiastischsten Europäer findet man dort, wo Europa nicht selbstverständlich ist, in Osteuropa, auf dem Balkan oder in der Türkei, unter Juden und Muslimen. Wer wissen will, wie viel das Gebilde namens Europäische Union wert ist, muss dorthin fahren, wo es aufhört. Wie viele seiner klügsten Geister hat Europa verloren, weil sie vor verschlossenen Toren standen, weil sie keine gültigen Ausweispapiere vorzuweisen hatten, keine Visa, keine Devisen. Wie viele Europäer haben nur deshalb überlebt, weil sie vor sechzig Jahren von Tarifa nach Tanger übersetzen durften. Durch die Literatur, die Kunst, den Film haben wir teilgenommen an unzähligen europäischen Flüchtlingsschicksalen. Weshalb rufen wir dann reflexartig Schimpfwörter aus, wenn sie uns heute aus der anderen Perspektive begegnen: Illegale, Kriminelle, Menschenhändler, Wirtschaftsasyl, Drogenströme, Terrorismus, das Boot ist voll?" Auszug aus Navid Kermani, "Nach Europa -- Rede zum 50. Jahrestag der Wiedereröffnung des Burgtheaters Wien", ISBN 3-250-20006-9, Ammann Verlag, Januar 2006.

Ceuta ist eine autonome spanische Exklave an der Mittelmeerküste Afrikas, nahe der Straße von Gibraltar. Wie Melilla gehört Ceuta politisch zu Spanien, geographisch jedoch zu Afrika. Sie ist eine 18,5 km große Halbinsel, die 21 km von der spanischen Küste entfernt ist. Die Stadt ist bekannt als Anlaufpunkt für illegale Immigration von Afrikanern in die Europäische Union.

Die vom ORB ausgestrahlte Lesung "Brief an Europa" erhielt im selben Jahr den CIVIS-Medienpreis im Bereich Hörfunk. Zu hören unter http://freieradios.net/portal/content.php?id=1160.

Dieter Oberndörfer (geb. 1929 in Nürnberg) hatte bis zu seiner Emeritierung 1997 den Lehrstuhl für Politikwissenschaft an der Universität Freiburg im Breisgau inne. Er gilt als einer der wichtigsten Vertreter der Freiburger Schule der Politikwissenschaft und als bedeutender Wahlforscher und Experte für Entwicklungshilfe. Siehe auch Oberdörfer, Dieter: "Die Rückkehr der Gastarbeiterpolitik", in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 6, (2005) S. 725-735.

Mit einem umfassenden Fragebogen sollen einbürgerungswillige Ausländer in Deutschland geprüft werden, ob sie die bundesdeutsche Staatsbürgershaft erhalten können.

"Natürlich gibt es anständige Muslime, nur sind sie die Ausnahme. Das zumindest suggerieren Medien wie etwa Der Spiegel." Navid Kermani, "Feindliche Übernahme: Offener Brief an den Herausgeber", in: taz, Nr. 7177 vom 9.10.2003, S. 12. Diese Glosse wurde als Reaktion auf die Titelstory "Symbol der Intoleranz" des Spiegel-Titelthemas "Das Prinzip Kopftuch" (Heft Nr. 40 vom 29.09.03) verfasst. In einem Kommentar zur selbigen Ausgabe merkte Katajun Amirpur an, die zusammen mit ihrem Mann zu Deutschlands führenden Islamwissenschaftlern gezählt wird: "Billigste Scharfmacherei, journalistische Hetze, kombiniert mit Plattitüden, Unwahrheiten und Klischees"; vgl. Amirpur, Katajun: Das Kreuz mit dem Spiegel. In: Qantara.de, 02.10.2003. http://www.qantara.de/webcom/show_article.php?wc_c=469&wc_id=45.

Published 27 July 2007
Original in German

© Navid Kermani/Ali Fathollah-Nejad Eurozine

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