Demokraten, Clans und Apparatschiks

Die kirgisische Clanrevolte im März 2005 und das Massaker von Andischan
in Usbekistan haben zu ganz unterschiedlichen Entwicklungen geführt. In
Kirgisien sieht es so aus, als könne sich aus dem anfänglichen Chaos eine
Zivilgesellschaft entwickeln. Dagegen konnte sich in Usbekistan das alte
despotische System stabilisieren, das jeden Ansatz zu sozialem Protest
brutal erstickt.

Nachdem die oppositionellen Bewegungen in Georgien, der Ukraine und in
Kirgisien auf der Straße erfolgreich waren, schien auch Usbekistan für
eine “farbige Revolution” reif zu sein. Doch der Aufstand gegen die
postsowjetische Herrschaftselite wurde blutig niedergeschlagen. Am 13.
Mai schossen Truppen des usbekischen Innenministeriums in eine
demonstrierende Menschenmenge. Laut Human Rights Watch wurden dabei mehr
als 500 meist unbewaffnete Demonstranten getötet. Nach diesem Massaker
hat die Regierung unter Präsident Islam Karimow ihr despotisches
Zwangssystem weiter gefestigt.

Die Hoffnung des Westens, die usbekische Gesellschaft sei langfristig
durch Reformen – unter Leitung der herrschenden Elite – zu
demokratisieren, hat sich zerschlagen. Vollends deutlich wurde dies im
September, als in der Hauptstadt Taschkent ein veritabler stalinistischer
Schauprozess begann. Vor dem Obersten Gericht sind 15 Männer als
“Terroristen” angeklagt, die angeblich in Andischan mit ausländischer
Hilfe einen Staatsstreich versucht haben, der nur durch die heldenhaften
usbekischen Sicherheitskräfte vereitelt worden sei.

Schauprozess in Taschkent

Die Angeklagten sitzen in einem Käfig. Ihre Gesichter sind aufgedunsen,
die Augen leer. Sie sprechen mit stockender Stimme. Über ihnen thront das
Richtertrio, der Staatsanwalt blättert finster in den Akten. Gleich am
zweiten Prozesstag gestehen die Männer in dem Eisenkäfig in allen
Anklagepunkten. Die Terrorgruppen Hizb ut-Tahrir und die Islamische
Bewegung Turkestan hätten aus dem Ausland einen Aufstand in Andischan
geplant und finanziert. Sie selbst seien in Kirgisien von einem
Tschetschenen ausgebildet worden und hätten dann versucht, am 12. Mai die
Stadt zu stürmen. In Andischan habe es weder eine Demonstration noch ein
Massaker der usbekischen Sicherheitskräfte gegeben. Gemordet und
gefoltert hätten allein die Terroristen. Danach beschuldigten sie die
Presse, die Aufständischen aufgewiegelt und eine Desinformationskampagne
zugunsten der Terroristen organisiert zu haben. Auch die US-Botschaft in
Taschkent habe den geplanten islamischen Putsch mit Geld unterstützt. Die
monotonen Schuldbekenntnisse klingen wie auswendig gelernt und
bestätigen die Anklage des Staatsanwaltes in jedem Punkt.

Alles spricht dafür, dass diese Aussagen unter Folter zustande gekommen
sind. Die staatlichen Medien kommentieren die Geständnisse in höhnischem
Ton. Von einer Unschuldsvermutung kann keine Rede sein, die Angeklagten
sind bereits vor dem Urteilsspruch Terroristen und Mörder. Akribisch wird
das bedrohliche Bild einer Verschwörung gegen den usbekischen Staat
gezeichnet, an der angeblich nordamerikanische NGOs, die US-Botschaft,
islamistische Terroristen und ausländische Journalisten beteiligt waren.

Unzweifelhaft ist in Usbekistan nach dem Zerfall der Sowjetunion eine
Hinwendung vor allem der jüngeren Menschen zum Islam zu beobachten. Das
dichtbesiedelte Ferghanatal, wo die Grenzen dreier Staaten Zentralasiens
ineinander verkeilt sind, wurde seit der zentralasiatischen
Unabhängigkeit zur Brutstätte zweier radikalislamischer Bewegungen: der
Hizb ut-Tahrir (HT) und der Islamischen Bewegung Usbekistans (IMU). Die
HT unterhält konspirative Kleinstgruppen und predigt die Errichtung eines
islamischen Kalifats. Sie beschränkt sich bisher jedoch auf Propaganda
und lehnt in ihren Aufrufen jegliche Gewalt strikt ab.

Die IMU unterhielt Ende der Neunzigerjahre eine schlagkräftige
Mudschaheddin-Armee, die unter dem Schutz der Taliban in Nordafghanistan
agierte, aber immer wieder auch usbekisches Staatsgebiet angriff. Im
Antiterrorkrieg von 2001 in Afghanistan wurde die Kampfkraft der IMU
jedoch weitgehend vernichtet; die meisten Kämpfer und ihr militärischer
Führer wurden durch Bomben der US-Luftwaffe getötet.

Einige versprengte Gruppen halten sich bis heute im
pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet versteckt. Doch zu größeren
Operationen ist die IMU kaum mehr in der Lage. Dennoch verfolgt der
usbekische Staat unerbittlich die angeblichen Anhänger der HT und der
IMU. Geständnisse werden mit Folter erpresst; viele tausend junge Männer
verschwinden in den Gefängnissen.

Die usbekische Staatsführung rechtfertigt mit dem Kampf gegen den Terror
das innerstaatliche Repressionssystem. Dabei wird jeder Protest gegen
das Herrschaftssystem – wie in Andischan – als Terrorismus denunziert.
Doch der Aufstand von Andischan hatte interne Gründe: Die städtische
Bevölkerung der usbekischen Provinzstadt wollte sich nur gegen die
allerorts herrschende Justizwillkür wehren.

Ein Jahr zuvor hatten die Behörden in der usbekischen Provinzstadt 23
Unternehmer unter dem Vorwand verhaftet, sie hätten eine islamistische
Gruppierung gegründet. Die Männer waren Besitzer von Schreinereien,
Textilunternehmen, Restaurants oder Mühlen; sie beschäftigen in ihren
Betrieben an die 2 000 Menschen. Sie bekannten sich zu den Geboten einer
Arbeitsethik, die ein Religionslehrer aus Andischan namens Akram
Judaschew 1992 ersonnen hat: Schaffe wirtschaftliche Werte, ernähre die
Familie, sei gottesfürchtig, und tue Gutes. Er hatte weder zur Bildung
eines Gottesstaates noch zur Opposition gegen die usbekische Regierung
aufgerufen. Gleichwohl sitzt der muslimische Religionslehrer als
Terrorist im usbekischen Gefängnis ein.

Die Geschäftsleute in Andischan halfen einander mit Krediten, zahlten
überdurchschnittliche Löhne und spendeten ein Teil ihres Gewinns für
wohltätige Zwecke. Lange wurden sie vom usbekischen Staat gehätschelt und
im usbekischen Fernsehen als die erfolgreichen Unternehmer von Andischan
gefeiert. Doch im Sommer 2004 wurden sie plötzlich verhaftet und ihre
Unternehmen geschlossen.

Dagegen wehrten sich die entlassenen Arbeiter wie auch die Freunde und
Verwandten der Inhaftierten und demonstrierten während des Prozesses
schweigend und friedlich vor dem Gerichtsgebäude. Die Angeklagten
beteuerten – mit der usbekischen Verfassung in der Hand – ihre Unschuld.
Selbst der Staatsanwalt musste zugeben, dass die Angeklagten eigentlich
gar nichts verbrochen hatten. Den Vorwurf des Terrorismus und der
Verfassungsfeindlichkeit hatte er gleich zu Beginn fallen lassen. Dennoch
sollten die Männer verurteilt werden. Als unabhängige Geschäftsleute
waren sie der usbekischen Regierung einfach suspekt, weil sie sich der
Kontrolle des in Usbekistan herrschenden Beamtenapparats entzogen.

In der Nacht zum 13. Mai schlug der zunächst friedliche Bürgerprotest in
einen Aufstand um. Noch ist unklar, wie es zu dem Sturm auf die Kaserne
von Andischan und zu der Geiselnahme durch die Aufständischen kam, die
den Gouverneurssitz von Andischan besetzt hatten. Fest steht aber, dass
die vieltausendköpfige Menschenmenge, die sich vor dem Gebäude
eingefunden hatte, von den usbekischen Sicherheitskräften beschossen
wurde. Natürlich ist nicht auszuschließen, dass bei der Protestbewegung
der Andischaner Bürger auch radikale islamische Gruppen mit von der
Partie waren. Doch während der Demonstrationen wurde keinmal “Allahu
Akbar” gerufen oder die Errichtung eines islamischen Staates gefordert.

Die restriktive usbekische Gesellschaft eröffnete den Menschen in
Andischan keinen anderen zivilen Protestweg, um die offensichtliche
Unrechtmäßigkeit der Verhaftungen anzuprangern. Denn es gibt keine
handlungsfähigen NGOs und keine unabhängige Presse, die den Protest hätte
artikulieren können. Selbst die Bittbriefe an den Präsidenten blieben
ungehört.

Die Brutalität, mit der die usbekischen Sicherheitskräfte den Aufstand
in Andischan niederschlugen, lässt sich zum Teil sicher auch aus den
Ereignissen in Kirgisien vom März 2005 erklären. Damals hatten Anhänger
der kirgisischen Opposition binnen wenigen Tagen zunächst die
administrativen Zentren in den Südprovinzen besetzt und dann die
Hauptstadt Bischkek gestürmt. Der kirgisische Präsident Askar Akajew
musste nach Moskau fliehen. Als Islam Karimow den Aufstand in Andischan
niederschlagen ließ, dürfte er die schmähliche Flucht seines kirgisischen
Kollegen vor Augen gehabt haben. Doch während sich in der Provinzstadt
Andischan ein Bürgertum artikuliert hatte, dass seine Freiheit und seine
Besitztümer durch eine Willkürjustiz bedroht sah, war der kirgisische
Machtumsturz lediglich eine als Revolution maskierte Clanrevolte.

Anders auch als in Georgien und der Ukraine wurde der Protest in
Kirgisien nicht von der städtischen Bevölkerung getragen. Dennoch gibt es
einige Parallelen: Der Protest gegen das Herrschaftssystem Akajews in
dem zentralasiatischen Gebirgsstaat hatte sich ebenfalls an der Empörung
über die gefälschten Parlamentswahlen vom Februar entzündet. Und
kirgisische Demokratieaktivisten, die zum größten Teil in US-finanzierten
NGOs organisiert waren, hatten Korruption und Machtmissbrauch von
Präsident Akajew angeprangert, dessen Familienclan den Staat als seine
Beute behandelte. Ungeniert hatten sich Haidar, der Sohn des Präsidenten,
und der Mann seiner Tochter Bermet an den wenigen lukrativen
Wirtschaftsunternehmen Kirgisiens bereichert. Zudem hatten sich beide
Sprösslinge des Präsidenten bei den Parlamentswahlen, die von der OSZE
als undemokratisch kritisiert wurden, ein Mandat gesichert.

Die von der US-amerikanischen Organisation Freedom House finanzierte
Zeitung Maja Stalitza war das Kommunikationsmedium einer Opposition, die
allerdings von ausrangierten Politikern der südlichen Clans dominiert
wurde. Die Kirgisen sind trotz ihrer langjährigen Sowjetisierung nach wie
vor auf die Clanstrukturen festgelegt. Diese aus der Nomadenzeit
stammenden Normen und Beziehungen stiften immer noch eine übergeordnete
Loyalität. Da aber Aksar Akajew, der Kirgisien seit dem Ende der
Sowjetunion regiert, den nördlichen Clans des kirgisischen Gebirgsland
entstammt, fühlte sich der Süden übergangen.

Über die Jahre hat die Regierung Akajew allerdings an Autorität
eingebüßt. Das ermutigte die Clanführer des Südens, nach den
offensichtlich gefälschten Parlamentswahlen im Februar, zum Sturz der
Regierung Akajew aufzurufen. Dabei taten sich besonders südliche
Oppositionspolitiker hervor, die ihre Clanverbände in die politische
Auseinandersetzung einbrachten. Die verarmten Dörfler, die sich mit Mühe
von Viehzucht und Weidewirtschaft ernährten, waren dankbare
Demonstranten. Bezahlt wurden sie teilweise von zweifelhaften
Geschäftsleuten und auch ganz normalen Kriminellen, die mit den südlichen
Clanführern verbandelt sind.

Kirgisische Wahlen mit sowjetischen Resultaten

Etwa 500 dieser unzufriedenen Provinzler erstürmten am 21. März die
Stadt Osch im Süden Kirgisiens. Deren Bewohner, großenteils Usbeken,
verrammelten ihre Geschäfte und Marktstände und flüchteten sich hinter
die starken Tore ihrer Häuser. Die kirgisischen Sicherheitskräfte taten
nichts, um ihren Präsidenten zu verteidigen. So konnte die mit Wodka
aufgeputschte Landbevölkerung in den menschenleeren Straßen der
zweitgrößten kirgisischen Stadt marodieren. Als sich diese Szenen zwei
Tage später in der kirgisischen Hauptstadt Bischkek wiederholten,
flüchtete Akajew außer Landes.

Die Clanführer des Südens waren nun die neuen Herrscher Kirgisiens. Und
sie verloren keine Zeit, sich zu bedienen. Im Juli wurde Kurmanbek
Bakijew mit einem sowjetisch anmutenden Wahlergebnis (80 Prozent) zum
Präsidenten gewählt. Seine Brüder erhielten Botschaftsposten und wichtige
Schlüsselpositionen, auch die wenigen Wirtschaftsunternehmen wurden neu
verteilt.

Obwohl es sich in Kirgisien um einen Clanputsch handelt, hat er durchaus
zur Stärkung der Zivilgesellschaft beigetragen. Die staatliche Macht ist
nicht mehr das Monopol nur einer Clique. Die Bevölkerung ist durch den
Machtumsturz hochgradig politisiert; die Medien können ungehindert
berichten. Das staatliche Fernsehen überträgt ungekürzt die Debatten des
Parlaments, in denen Abgeordnete den neuen kirgisischen Präsidenten
Kurmanbek Bakijew der Korruption und krimineller Machenschaften
bezichtigen – ein für zentralasiatische Verhältnisse einmaliger Vorgang.
Und die Bevölkerung schaut zu und diskutiert auf dem Basar und den
Straßen das Gesehene. Die konkurrierenden Machtzentren eröffnen
Freiräume, die eine selbstbewusst werdende Zivilgesellschaft ausfüllen
und für sich nutzen kann.

Demonstrierende Gruppen vor dem Weißen Haus, dem Regierungssitz in
Bischkek, sind heute ein fast alltäglicher Anblick. Und während solche
Demonstrationen in anderen zentralasiatischen Staaten von Polizeiknüppeln
auseinander getrieben werden, klären in Kirgisien die Demonstranten die
anrückenden Polizisten darüber auf, dass sie nichts anderes machten, als
ihre staatsbürgerlichen Rechte wahrzunehmen. Bei einer dieser
Demonstrationen ging ein sichtlich nervöser Polizist auf den Anführer des
Demonstrationszugs zu und hielt ihm höflich vor, dass er die öffentliche
Ordnung störe. “Genau das ist unser Ziel”, lautete die Antwort an den
Ordnungshüter.

Auch anderswo werden die Konflikte ganz öffentlich ausgetragen. Eine
Delegation aus der südlichen Provinz Narin begab sich unlängst nach
Bischkek, um die ausgebliebenen Kohlelieferungen für den Winter
anzumahnen. Auf einer Pressekonferenz drohte sie mit der Blockierung der
wichtigsten Handelsstraße, die Bischkek mit China verbindet. “Wir haben
leider keine andere Wahl, sonst frieren wir im Winter”, sagt der
Vertreter einer Jugendorganisation aus Narin vor der Hauptstadtpresse.
Seine Rede wird von den privaten und staatlichen Fernsehkanälen direkt
übertragen.

Noch fehlt der kirgisischen Zivilgesellschaft eine ökonomische
Grundlage. Nach dem Zerfall der Sowjetunion gingen die meisten Fabriken
und Produktionsanlagen in Kirgisien Bankrott. Die Menschen in den Städten
haben ihre Arbeitsplätze verloren und ernähren sich heute überwiegend
von kleinen Handelsgeschäften.

Der Tatar Ramil Bucharow hat in einer alten Fabrikhalle eine Werkstatt
eingerichtet, wo er Mullbinden aus Baumwolle herstellt. “Wir haben viele
Aufträge, kriegen aber keinen Kredit, um Rohmaterial zu erwerben”, klagt
Ramil Bucharow. Und doch hat der Machtwechsel auch für ihn etwas
gebracht. Denn was die Bestechungsgelder betrifft, so treten die
Vertreter des Staates jetzt zumindest diskreter und bescheidener auf:
“Man merkt, dass Polizisten und Beamte jetzt einfach mehr Respekt vor der
Bevölkerung haben.” Bucharow hofft nur, dass es ein Wandel auf Dauer
ist.

Published 20 October 2005
Original in German
First published by Le Monde diplomatique 10/2005

Contributed by Le Monde diplomatique © Marcus Bensmann//Le Monde diplomatique Eurozine

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