Demokratie und Ausgrenzung
Demokratie, insbesondere die liberale, beruht auf einer Philosophie der Inklusion. Sie versteht sich als Volksherrschaft: Herrschaft durch das Volk und für das Volk, wobei “Volk” jeden und jede einschließt – anders als in früheren Zeiten, als die Sklaven, die Bauern oder die Frauen ausgenommen waren. Kein Politikmodell in der Geschichte der Menschheit hat einen stärkeren Anspruch auf Inklusion als die Demokratie.
Gleichwohl gibt es etwas in der Dynamik der Demokratie, das auf Exklusion, auf Ausgrenzung drängt. Am deutlichsten zeigte es sich in den frühen Demokratien, in der antiken Polis oder Republik, heute aber verursacht es tiefes Unbehagen. Im Folgenden möchte ich versuchen, diese Dynamik zu analysieren, um dann nach Mitteln und Wegen zu suchen, wie man ihr entgegenwirken kann.
Identität durch Exklusion
Was drängt die Demokratie zur Ausgrenzung? Vielleicht kann man es so formulieren: Inklusiv ist die Demokratie als Herrschaft des ganzen Volkes; exklusiv ist sie als Herrschaft des ganzen Volkes. Die Exklusion ist ein sekundärer Effekt von etwas anderem, nämlich dem Bedarf selbstregierter Gesellschaften an einem hohen Grad sozialen Zusammenhalts. Demokratische Staaten sind auf eine gemeinsame Identität angewiesen.
Warum das so ist, wird sofort klar, wenn wir näher betrachten, was im Begriff der Selbstregierung impliziert ist, genauer: was mit dem Prinzip der Souveränität des Volkes als der Legitimationsbasis demokratischer Staaten verbunden ist. Damit ein Volk überhaupt souverän sein kann, muß es sich eine Gestalt geben und eine Personalität annehmen. Anders gesagt: Wenn das Volk herrschen soll, müssen seine Mitglieder einen Körper bilden, der in der Lage ist, Entscheidungen zu treffen und sie gemeinsam zu tragen. Diesen Entscheidungen soll ein Konsens, zumindest aber eine Mehrheit der als gleich und autonom begriffenen Subjekte zugrunde liegen. Der Prozeß der Entscheidungsfindung wäre vielleicht effizienter, stünden bestimmte Bürger unter der Kontrolle anderer Bürger, aber er wäre damit undemokratisch und ohne Legitimation.
Mit einer Bestandsaufnahme der Meinungen aller Bürger ist es aber nicht getan. Sie müssen nicht nur gemeinsam entscheiden, sondern ihre Entscheidung auch gemeinsam erwägen. Ein demokratischer Staat sieht sich ständig mit neuen Fragen konfrontiert, über die ein Konsens hergestellt werden muß. Dieser kann aber nicht einfach die Resultante diffuser Meinungen sein. Es geht darum, daß jeder die Chance hat, seine Meinung im Austausch mit anderen, in einem Diskussionsprozeß zu bilden oder zu revidieren.
Das setzt einen gewissen Grad an sozialem Zusammenhalt voraus. Die Mitglieder der Gesellschaft müssen einander kennen, einander zuhören, einander verstehen. Wie sonst sollten sie die anstehenden Fragen gemeinsam abwägen? Hier berühren wir die zentralen Voraussetzungen für die Legitimität eines demokratischen Staates.
Wenn beispielsweise eine Gruppe den Eindruck hat, daß der Rest der “Nation” ihr keine Beachtung schenkt oder unfähig ist, ihren Standpunkt zu verstehen, dann wird sie sich vom Prozeß der gemeinschaftlichen Deliberation ausgeschlossen fühlen. Volkssouveränität setzt aber voraus, daß wir unter Gesetzen leben, die sich aus einem solchen Prozeß herleiten. Wer davon ausgeschlossen wird, für die oder den verlieren die getroffenen Entscheidungen ihre Legitimität. Eine Gruppe, die ungehört bleibt, ist von der Nation ausgeschlossen, aus demselben Grund aber auch nicht mehr an deren Willen gebunden.
Doch auch wenn alle einander zuhören, reicht das nicht aus. Moderne Demokratien bedürfen der zusätzlichen Sicherheit, daß diese Bereitschaft auch von Dauer ist. Dazu bedarf es einer Art gegenseitiger Verpflichtung. In der Praxis kann eine Nation nur dann eine stabile Legitimität garantieren, wenn ihre Mitglieder einander in hohem Maße verpflichtet sind kraft einem von allen geteilten Gefühl der Zugehörigkeit zur politischen Gemeinschaft. Und es ist das allgemeine Bewußtsein dieser Verpflichtung, das in den verschiedenen Gruppen wiederum das Vertrauen schafft, daß sie das Ohr der anderen finden werden trotz des Potentials an Mißtrauen, welches in den Unterschieden beschlossen liegt, die die einzelnen Gruppen voneinander trennen.
Kurz, ein moderner demokratischer Staat braucht ein “Volk” mit einer starken kollektiven Identität. Die Demokratie verlangt uns sehr viel mehr Solidarität und Engagement für das gemeinsame politische Vorhaben ab als dies die hierarchischen und autoritären Gesellschaften der Vergangenheit taten. In den guten alten Zeiten der Österreichisch-Ungarischen Monarchie brauchte der polnische Bauer in Galizien keine Notiz zu nehmen vom ungarischen Gutsherrn, so wenig wie der Prager Bourgeois vom Wiener Arbeiter, ohne daß dies die Stabilität des Staates im mindesten gefährdet hätte, im Gegenteil. Das gegenseitige Ignorieren wird erst in dem Augenblick prekär, wenn die Idee der Volksherrschaft in Umlauf kommt. In diesem Moment beginnen einzelne Gruppen, die sich nicht mehr ins Ganze fügen (wollen), ihren je eigenen Staat zu fordern. Damit hebt die Epoche des Nationalismus und des Zusammenbruchs der Imperien an.
Die Herstellung einer starken gemeinsamen Identität für demokratische Gemeinwesen muß sich nicht auf die Herausbildung eines Volkes beschränken. Eine ganze Reihe von politischen Denkern der humanistischen Tradition von Aristoteles bis Hannah Arendt hat bemerkt, daß freie Gesellschaften einen höheren Grad an Engagement und Partizipation fordern als despotische oder autoritäre. Was in diesen die Herrscher für ihre Untertanen erledigen, müssen in jenen die Bürger selbst tun. Dies wird ihnen aber nur gelingen, wenn sie gegenüber ihrem Gemeinwesen ein starkes Zugehörigkeitsgefühl entwickeln, wenn sie sich mit dieser Gemeinschaft identifizieren können, und damit mit all jenen, die ihr gegenüber ähnlich empfinden.1
Weil moderne Gesellschaften ihren Bürgern mehr abverlangen als andere, setzen sie auch ein besonderes Maß an gegenseitigem Vertrauen voraus. Daß einige ihren Bürgerpflichten nachkommen, andere aber nicht, etwa indem sie Steuern hinterziehen, das Wohlfahrtssystem mißbrauchen oder von ihm profitieren, ohne dessen Kosten mitzutragen, all dies ist hier viel schwieriger zu tolerieren als in traditionellen Gesellschaften. Das Mißtrauen, das in solchen Fällen entsteht, kann extreme Spannungen erzeugen, unter denen das tragende Geflecht demokratischer Verpflichtungen und Gepflogenheiten am Ende zerreißt.
Das Verhältnis zwischen Nation und Staat wird vielfach zu einseitig gesehen: als wären es immer die Nationen gewesen, die sich einen Staat geschaffen haben. Es gibt auch den umgekehrten Prozeß. Oft sind es Staaten, die versuchen, ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu schöpfen. Das läßt sich z.B. in der Geschichte Kanadas gut verfolgen.
Fassen wir zusammen: Wenn moderne demokratische Gesellschaften einen Staat bilden, stehen sie vor der schwierigen und niemals zu vollendenden Aufgabe, ihre kollektive Identität zu definieren.
Wie generiert dieser Identitätsbedarf nun Exklusion? Darauf gibt es eine ganze Reihe von Antworten. Beginnen wir mit Gesellschaften, die über ein hohes Maß an ethnischer Homogenität verfügen. Hier ist der Gemeinschaftssinn über so lange Zeit an eine gemeinsame Sprache, Kultur, Geschichte etc. gekoppelt, daß es schwer ist, sich an eine neue Situation anzupassen, in der plötzlich Menschen anderer Herkunft zur Gesellschaft gehören. Es entsteht ein Unbehagen, das sich auf verschiedene Weisen artikulieren kann.
Die Gesellschaft kann sich gegen die “Fremden” wehren, indem sie ihnen die Staatsbürgerschaft verweigert oder den Zugang dazu erschwert. Das bekannteste Beispiel ist Deutschland, wo “Gastarbeiter” der dritten Generation immer noch als Ausländer behandelt werden, auch wenn ihre erste Sprache Deutsch ist, sie in einer deutschen Stadt aufgewachsen sind und vielleicht nie in ihrer “Heimat” waren.
Aber selbst in Gesellschaften, welche Neuankömmlingen nach einer Wartezeit ein Recht auf Einbürgerung einräumen und sogar eine offizielle Integrationspolitik betreiben, die von der “eingesessenen” Bevölkerung weitgehend akzeptiert wird, kann sich ein Unbehagen ausbreiten, diesmal subtiler und ambivalenter. Denn die Mehrheit ist es so sehr gewohnt, politisch unter sich zu bleiben, daß es ihr schwer fällt, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen, und selbst wenn sie es will, weiß sie oft noch nicht, wie. So werden politische Fragen in der Öffentlichkeit, in Funk, Fernsehen und und Presse, weiterhin auf eine Weise diskutiert, als gehörten die Immigranten nicht selbst zu dieser Öffentlichkeit, als wären nicht auch sie Diskussionspartner. “Wir” sprechen nicht mit ihnen als Unseresgleichen, sondern von ihnen als “sie”.
Die Ankunft neuer Menschen stellt für jede Gesellschaft eine Herausforderung dar. Die Mechanismen gegenseitiger Verständigung, gegenseitigen Vertrauens und wechselseitiger Verpflichtungen müssen dann neu definiert, ja neu erfunden werden. Das ist immer eine schwierige Aufgabe, und so verwundert es nicht, daß viele sich an die alten Formen klammern und die Probleme nicht sehen wollen.
Doch gibt es ähnliche Phänomene auch in gemischten Gesellschaften. Man denke nur an die Vereinigten Staaten, wo die jeweils neuen Einwandererwellen von vielen amerikanischen “Altbürgern” als Bedrohung für die Demokratie und den American Way of Life angesehen wurden. Das fing mit den irischen Immigranten der 40er Jahre des letzten Jahrhunderts an; nicht besser erging es den Süd- und Osteuropäern der 90er Jahre. Und nicht zu vergessen die alteingesessene Bevölkerungsgruppe der Schwarzen, denen nach dem Bürgerkrieg alle Rechte verliehen wurden, an deren Ausübung sie aber de facto auf unterschiedliche Weise gehindert wurden.
Nicht immer handelte es sich um ein blindes Vorurteil. In der Tat fiel es den eben genannten Immigrantengruppen anfangs schwer, sich in die amerikanische politische Kultur der WASPs (White Anglo-Saxon Protestants) einzugliedern. So bildeten sie oft “vote banks” für ihre Arbeitgeber in den Städten, was von den Progressiven stark angegriffen wurde, da es deren Verständnis von Bürgerdemokratie widersprach.
Der Drang zur Exklusion war in der frühen amerikanischen Geschichte stark, und er bezog seine Motivation nicht selten aus einem Engagement für die Demokratie. Trotz aller Schwierigkeiten stellen die USA das Beispiel eines gelungenen Übergangsprozesses dar, aus dem eine neue Demokratie hervorgegangen ist, die auf ein hohes Maß an Verständigungsbereitschaft, Vertrauen und Verpflichtung verweisen kann (mit der eklatanten Ausnahme der immer noch bestehenden Kluft zwischen Schwarz und Weiß). Allerdings wurde dieser Erfolg mit dem Verblassen der frühen republikanischen Ideale bezahlt. Statt der Bürgerrepublik triumphiert heute in Amerika die “prozedurale Republik”, um einen Terminus Michael Sandels zu gebrauchen.2
Die Fälle von Exklusion, welche wir bis jetzt betrachtet haben, betreffen Menschen, die von außen in eine Gesellschaft gekommen sind. Aber Ausgrenzung kann auch entlang einer anderen Trennlinie funktionieren. Gerade im Namen des gesellschaftlichen Zusammenhalts und einer gemeinsamen politischen Kultur versuchen Demokratien zuweilen, ihre Bürger in eine bestimmte Form zu pressen. Das bekannteste Beispiel ist die “jakobinische” Tradition der französischen Republik.
Hier besteht die Strategie darin, die Menschen von vorneherein einem rigorosen und kompromißlosen Schema zu unterwerfen. Verständigung wird erreicht und garantiert durch eine klare Definition dessen, um was es in der Politik gehen soll und welche Rechte und Pflichten der Bürgerstatus impliziert. Und dies beides definiert wiederum die Loyalität der Bürger gegenüber ihrem Staat. Sie wird leidenschaftlich verteidigt gegen ihre Herausforderer, seien es ideologische Feinde, “Asoziale” oder Immigranten.
Die Ausgrenzung richtet sich hier nicht in erster Linie gegen Menschen, die bereits als Außenseiter abgestempelt sind, sondern gegen andere Lebensweisen. Sie brandmarkt alle Facetten als unpatriotisch, die ein Eigenrecht behaupten statt sich der herrschenden Identität unterzuordnen. In Frankreich etwa wurde das Problem der Religion im öffentlichen Raum radikal republikanisch gelöst. Man kam gar nicht auf die Idee, daß es vielleicht auch andere Wege geben könnte, die weltanschauliche Neutralität des französischen Staates zu garantieren. Von daher die Überreaktionen gegen muslimische Mädchen, die in der Schule ein Kopftuch tragen.3
Der Vorteil dieser Politik besteht darin, daß sie lange dazu beigetragen hat, die andere Art von Exklusion, jene gegen die Neuankömmlinge, zu vermeiden oder zumindest zu minimieren. Es überrascht die Franzosen noch immer, wenn sie erfahren, daß jeder vierte Franzose zumindest einen Großelternteil hat, der außerhalb des Landes geboren wurde. Das Frankreich des 20. Jahrhunderts ist immer ein Einwanderungsland gewesen, hat sich aber nie als solches betrachtet. Die französische Assimilationspolitik scheint heute an den Einwanderungswellen aus Nordafrika zu scheitern, doch die Italiener, Polen, Tschechen, die zwischen den beiden Weltkriegen kamen, machte sie mit Erfolg zu einem Teil der Gesellschaft. Diesen Gruppen wurde gar keine andere Wahl gelassen, und am Ende waren sie ununterscheidbar von den “Français de souche”.
Heute wird oft auf eine andere Dimension dieser Art innerer Ausgrenzung verwiesen, die entlang der Trennungslinie zwischen den Geschlechtern verläuft, und zwar nicht nur in jakobinischen Gesellschaften, sondern in allen liberalen Demokratien, wo die Frauen das Wahlrecht bekanntlich ausnahmslos später erhielten als die Männer. Der Stil der Politik, der Ton der öffentlichen Debatte seien, so wird argumentiert, von einer politischen Klasse geprägt worden, die ausschließlich männlich war. Diese Art politischer Kultur müsse verändert werden, um auch die Frauen endlich voll zu beteiligen. Daran ist sicher etwas Wahres, man braucht sich nur die von Männern dominierten Fragestunden im Parlament anzusehen, die oft genug den Rangeleien im Pausenhof einer Knabenschule gleichen.
Das neue Selbstbewußtsein
Fassen wir zusammen, was die Exklusion in der Demokratie ausmacht: Es handelt sich um eine Dynamik, die über die üblichen, historischen Vorurteilen oder Engstirnigkeit entspringenden Ressentiments hinausgeht – um einen Drang zum Ausschluß, der aus den Erfordernissen der demokratischen Herrschaftsform selbst resultiert, nämlich der Notwendigkeit, ein hohes Maß an (Ein-)Verständnis, Vertrauen und Verpflichtung herzustellen. Die Versuchung ist groß, diesen Zusammenhalt durch die Ziehung einer Grenzlinie um die “ursprüngliche” Gemeinschaft zu schaffen und auf diese Weise “den anderen” die Integration in diese Gemeinschaft zu erschweren. Nicht geringer ist die Versuchung, durch die Schaffung einer keine Alternativen zulassenden, rigide definierten staatsbürgerlichen Identität eine Art “innerer Ausgrenzung” zu praktizieren.
Die beiden Exklusionsformen können natürlich kombiniert werden. In Gesellschaften, die sich auf innere Exklusion stützen, kann es auch zur äußeren Ausgrenzung kommen. Das beste Beispiel hierfür liefert die Politik des Front National in Frankreich. Ebenso können Gesellschaften, die sich durch eine erfolgreiche Integrationspolitik auszeichnen, versucht sein, auf innere Exklusion zurückzugreifen, um das Übermaß an Vielfalt durch ein vereinheitlichendes Moment zu kompensieren.
Die demokratischen Gesellschaften am Ende unseres Jahrhunderts zeichnen sich durch einen doppelten Wandel aus. Zum einen sind sie so gut wie alle einem vermehrten Druck von außen ausgesetzt. Das schiere Ausmaß der internationalen Migration macht alle diese Gesellschaften zwangsläufig immer “multikultureller”. Zum anderen greift die jakobinische Antwort auf diese Herausforderung, also eine rigorose Assimilationspolitik, verbunden mit starker innerer Exklusion, immer weniger.
Das zweite Phänomen scheint mir unbestreitbar, es ist aber nicht so leicht zu erklären. Es hängt wohl zusammen mit einer Verschiebung im Selbstverständnis unserer Kultur, die vermutlich in den 60er Jahren eingesetzt hat. Die Vorstellung, daß man sein Anderssein im Namen der Anpassung an die dominierende Lebensweise und Identität zu unterdrücken habe, hat ihre Selbstverständlichkeit verloren. Feministinnen, kulturelle Minderheiten, Homosexuelle, religiöse Gruppen, sie alle fordern, daß das herrschende gesellschaftliche Selbstverständnis so modifiziert wird, daß es die ganze Vielfalt der Unterschiede aufnehmen kann, statt sie länger zu ignorieren oder auszuschließen.
Damit verbunden, zugleich aber eigenen Motiven entspringend, ist ein weiterer, ebenso wenig unmittelbar greifbarer Wandel zu verzeichnen. Die Migranten empfinden heute die Notwendigkeit sich zu assimilieren, nicht mehr in der gleichen Weise. Wohlgemerkt, sie wollen sich im Allgemeinen durchaus der Gesellschaft, in die sie eintreten, weitgehend anpassen und als vollwertige Mitglieder akzeptiert werden. Aber immer öfter bestehen sie darauf, den Weg dorthin und das Tempo selbst zu wählen. Darüber hinaus beanspruchen sie das Recht, die Gesellschaft, an die sie sich anpassen, im Prozeß der Assimilation ihrerseits zu ändern.
Ein gutes Beispiel hierfür sind die Hispanoamerikaner. Nicht daß sie keine anglophonen Amerikaner werden wollten, denn damit würden sie sich um entscheidende Vorteile bringen. Doch fordern sie verstärkt spanische Schulen und Versorgungseinrichtungen, um den Assimilationsprozeß abzufedern, aber auch, weil ihnen die Bewahrung ihrer ursprünglichen Kultur am Herzen liegt. Sie werden also alle irgendwann Englisch lernen, gleichzeitig aber die vorherrschende Bedeutung dessen, was es heute heißt, Amerikaner zu sein, ein wenig verschieben. Dies geschah natürlich auch schon bei früheren Immigrantenwellen, doch eher als erst retrospektiv wahrnehmbarer Effekt, während dieser Prozeß heute mit einem gewissen Selbstbewußtsein der Immigranten und dem Sinn für ihre Rolle bei der Mitgestaltung der Kultur verbunden ist.
Der Unterschied zwischen dem einstigen unbestreitbaren Erfolg Frankreichs bei der Assimilation von Osteuropäern und anderen Nationalitäten (wer nimmt Yves Montand schon als Italiener wahr?) und den gegenwärtigen Schwierigkeiten mit den nordafrikanischen Immigranten ist eklatant. Sicher liegen dieser Entwicklung eine ganze Reihe von Faktoren zugrunde – etwa die schärferen kulturell-religiösen Unterschiede und das Ende der Vollbeschäftigung -, dennoch reflektiert sie wohl auch einen Einstellungswandel unter den Immigranten selbst. Das früher vorherrschende Gefühl tiefer Dankbarkeit gegenüber dem Gastland, das nicht nur Zuflucht, sondern auch neue Chancen gewährte, ließ jede Forderung nach Anerkennung von Differenz ungerechtfertigt und unangebracht erscheinen. Dieses Gefühl wurde inzwischen ersetzt durch etwas, das einer alten, von vielen Religionen geteilten Lehre ähnelt, nämlich der Überzeugung, daß die Erde dem ganzen Menschengeschlecht geschenkt wurde. Das heißt, daß kein Flecken Land einem Volk allein deshalb gehören kann, weil es dort geboren wurde. Folglich ist niemand, dem Zuzug gewährt wird, verpflichtet, die Auflagen des Gastlandes bedingungslos zu akzeptieren.
Das Gesicht unserer Gesellschaften verändert sich damit in zweifacher Weise. Die Kultur wird stärker als Evolutionsprozeß wahrgenommen, an dem sich neue Gruppen kontinuierlich beteiligen. Diese Einstellung löst das alte, als Einbahnstraße funktionierende Assimilationsverständnis ab und begleitet den Akt der Migration mehr und mehr. Zum anderen hat sich die immer schon vorhandene Tendenz von Immigrantengruppen verstärkt, kulturell, moralisch und politisch als mit dem Heimatland verbundene “Diaspora” fortzuexistieren. Heute ist zur Normalität geworden, was früher von vielen Einheimischen mit Stirnrunzeln oder Befremden registriert wurde; “Doppelloyalität” erregt weniger Argwohn, und Toleranz hängt weniger von der Sympathie für das Ursprungsland ab. Sicherlich gibt es noch immer Extremfälle, die starke Gegenwehr auslösen, etwa wenn Terroristen das Gastland als Operationsbasis benutzen. Aber hier entspringt die Ablehnung einer von der Mehrheit geteilten politischen Moral und nicht einem Affekt gegenüber dem Herkunftsland.
Kant oder Herder?
Wenn unsere Diagnose zutrifft, werden die demokratischen Gesellschaften des nächsten Jahrhunderts sich einem fortlaufenden Prozeß der Selbst- und Neuerfindung unterziehen müssen: Sie werden ihr Selbstverständnis immer wieder neu definieren, um neue Menschengruppen aufnehmen zu können, und sie werden ihre tradierte politische Kultur immer wieder Revisionen unterwerfen, um neue Identitäten zuzulassen, gleich ob diese sich innerhalb der eigenen Gesellschaft herausbilden oder von Neuankömmlingen mitgebracht werden.
Wie sollen wir mit diesen Herausforderungen umgehen? Rezepte gibt es wohl kaum. Und noch weniger hat die Philosophie hier beizutragen. Sie sollte sich wohlweislich damit begnügen, allen Beteiligten viel Glück zu wünschen, um sich dann zu verabschieden. Nun habe ich aber einen ununterdrückbaren Hang, die Grenzen der Philosophie über die geltenden Absteckungen hinaus zu schieben, und will daher doch einige Bemerkungen allgemeiner Natur über den hier skizzierten Prozeß machen.
Angesichts der Notwendigkeit, eine wachsende Fülle von Differenzen im Hinblick auf Kultur, Herkunft, politische Erfahrung und Identität zusammenzubinden, liegt es nahe, das gemeinsame Verständnis einer Gesellschaft eher unter den Prämissen des Liberalismus zu sehen als unter jenen der Selbstherrschaft, d.h. immer mehr im Hinblick auf individuelle Rechte und demokratische Prozeduren und immer weniger im Hinblick auf die Definition von Bürgertugenden. Kurz, die Versuchung ist groß, Sandels “prozedurale Republik” zum Modell für die Zukunft zu machen. Für dieses Modell scheinen nicht nur gute pragmatische Gründe zu sprechen, es hat auch tiefe philosophische Wurzeln, deren Verständnis für die Bewertung der pragmatischen Seite wichtig ist.
Die Alternative ist geläufig: Wollen wir eine Demokratie, die die individuelle Freiheit zu ihrem Mittelpunkt macht, oder eine, die mehr auf Partizipation und Selbstregierung setzt? Die Geschichte der Demokratie zeigt Beispiele für beide Modelle. Inzwischen hat sich aber das Gleichgewicht so weit verschoben, daß die republikanische Variante in Vergessenheit zu geraten droht.
Dafür gibt es mehrere Gründe, die sich z.T. auch aus der philosophischen Tradition speisen. Wir beobachten heute eine Abwendung von der Ethik des guten Lebens hin zu einer Ethik, die sich auf etwas anderes gründet, das angeblich weniger umstritten ist und eher geeignet, allgemeines Einverständnis herzustellen. Daraus erklärt sich zumindest teilweise die Beliebtheit sowohl des Utilitarismus als auch kantianisch inspirierter deontologischer Theorien. Beide sind in der Lage, von der Frage zu abstrahieren, welches Leben lebenswerter, vorbildlicher, menschlicher ist, und bieten, wie es scheint, einen festeren Boden. Der Utilitarismus akzeptiert alle Wertpräferenzen, ungeachtet der Qualität der angestrebten Ziele; der kantianische Ansatz erlaubt es, von den Präferenzen zu abstrahieren, und konzentriert sich auf die Rechte des Subjekts, solche Präferenzen zu wählen.
Für diesen Akt der Abstraktion gibt es drei wichtige Argumente. Erstens: In einer (oder in Vorbereitung auf eine) Zeit des Skeptizismus gegenüber allen moralischen Positionen erlaubt dieser Akt, sich von einem Terrain zurückzuziehen, auf dem Argumente mehr als irgendwo anders von Interpretationen abhängen, wo sie in hohem Maße umstritten sind und daher kaum Aussicht auf allgemeine Zustimmung haben; hingegen können wir uns viel leichter darauf einigen, den Leuten ihren Willen zu lassen und ihre Entscheidungsfreiheit zu respektieren. Zweitens: Der Verzicht darauf, eine bestimmte Vorstellung vom guten Leben zur Norm zu machen, überläßt die Entscheidung dem Individuum und entspricht damit dem Antipaternalismus der Moderne. Und drittens: Angesichts der in modernen Gesellschaften herrschenden enormen Vielfalt von Anschauungen stellen Utilitarismus und kantianische Deontologie einen vielversprechenden Weg dar, die anstehenden Probleme gemeinsam zu lösen, ohne sich auf bestimmte und kontroverse Positionen einzulassen.
Die beiden ersten Punkte stützen sich auf viel diskutierte philosophische Argumente, die sich um Fragen nach Wissen und Gewißheit in bezug auf das Gute und nach dem Wesen der Freiheit drehen. Der dritte Punkt argumentiert hingegen politisch. Gleich, wie der Streit zwischen den Vertretern der prozeduralen Ethik und jenen des guten Lebens ausgehen mag, es lassen sich überzeugende Argumente dafür anführen, daß für komplexe Gesellschaften eine Art neutraler Liberalismus den besten gemeinsamen politischen Nenner darstellt. Das ist jedenfalls die heute vorherrschende Auffassung. Der Einschnitt im Denken von John Rawls belegt dies deutlich. Er qualifiziert seine Theorie der Gerechtigkeit heute als “politisch, nicht metaphysisch”. Dieser Wandel läßt sich zum Teil auf Probleme zurückführen, in die sich die rein philosophische Argumentation verwickelt hat. Er reflektiert aber auch die weit verbreitete Vorstellung, daß die Vielfalt von Differenzen zu einer wichtigen und entscheidenden Dimension unserer Gesellschaften geworden ist. Diese Vorstellung verdankt sich zum einen der u.a. durch internationale Migrationsströme tatsächlich zunehmenden Vielfalt innerhalb der Gesellschaft, zum anderen dem wachsenden Anspruch oft jahrhundertelang unterdrückter Differenzen auf Anerkennung. Ein Beispiel dafür ist die Frauenbewegung.
Man könnte die Frage also folgendermaßen stellen: Welche Konzeptionen von Freiheit, Gleichheit, Fairneß und von einer Basis für das soziale Zusammenleben sind für moderne demokratische Gesellschaften praktikabel (im Gegensatz zu richtig)?
Die prozedurale Republik hat hier gleich einen Startvorteil. Wenn man die Rolle und die Rechte des Bürgers so definiert, daß man von jeglicher Vorstellung vom guten Leben abstrahiert, dann vermeidet man damit auch, eine Gruppe und ihre Vorstellungen auf Kosten anderer mit anderen Vorstellungen zu unterstützen. Darüber hinaus steht man von vorneherein auf einem gemeinsamen Boden, der für alle zugänglich ist: Respektiere mich und räume mir Rechte ein, weil ich ein Bürger bin, und nicht, weil ich diesen oder jenen Charakter, diese oder jene Wertvorstellungen habe, ganz zu schweigen von meinem Geschlecht, meiner Hautfarbe oder sexuellen Orientierung.
Niemand würde heute bestreiten, daß dieses Modell ein wichtiges Element jeder liberalen Gesellschaft darstellt. Das Wahlrecht etwa steht jeder und jedem ohne Einschränkungen zu, unter der Voraussetzung freilich, daß die Kriterien für die Staatsbürgerschaft erfüllt sind. Über deren Definition mag man streiten, sie sind aber sicher neutral gegenüber Merkmalen wie den eben genannten. Die Frage, die wir hier stellen müssen, ist nun, ob dieses Modell eine tragfähige Basis für das Zusammenleben in einem demokratischen Staat ist, ob es für alle Kontexte gleichermaßen geeignet ist, und ob der Liberalismus sich in dem Maße vervollkommnet, wie er uns hilft, mit den Menschen auf eine Weise umzugehen, die von ihrem jeweiligen Standpunkt absieht.
Zumindest kann man sagen, daß dieser Umgang es uns erleichtert, zusammenzukommen und uns als Teil eines gemeinschaftlichen Vorhabens zu fühlen. Denn uns allen ist gemein, daß wir zwischen Optionen wählen und daß wir in unserem Bestreben, die damit verbundenen Ziele zu erreichen, unterstützt und nicht behindert werden wollen. Ein Gemeinwesen, das dies auf einer für alle fairen Basis versprechen kann, scheint in der Tat optimal zu sein und ohne Alternative.
Diese Alternativlosigkeit deutet aber eher auf einen Mangel in der zeitgenössischen Philosophie: Es fehlt uns an Modellen, die es den Menschen erlauben, sich zusammenzutun und untereinander Bindungen zu entwickeln – unter Wahrung ihrer Differenzen und ohne von diesen Differenzen zu abstrahieren. Es gab solche Modelle, und ich möchte hier an eines erinnern, dem ich selbst anhänge. Es wurde von so verschiedenen Denkern wie Herder und Durkheim vertreten und gründet sich auf die Idee, daß Menschen in der Lage sind, Bindungen einzugehen nicht nur trotz, sondern wegen der Differenzen, die sie voneinander unterscheiden. Das heißt, sie empfinden die Eigenarten des und der anderen als Bereicherung, weil sich ihr Lebenshorizont durch die Gemeinschaft mit ihnen öffnet und erweitert. Hier erhält die Differenz den Charakter einer willkommenen Ergänzung.
Diese Auffassung taugt zur Begründung einer starken Theorie der individuellen Freiheit, wie sie etwa Wilhelm von Humboldt in seinem 1792 entstandenen Essay “Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen” entwickelt hat. Die Argumentation ist hier nicht klassisch negativ im Sinne der Definition von Freiheit als unveräußerlichem Recht jeder Person, ihre Ziele selbst zu wählen. Humboldt will vielmehr zeigen, daß die authentische Entwicklung des anderen für jeden einzelnen von entscheidendem moralischen Interesse ist. Weil jedes Leben nur einen kleinen Teil des in der Menschheit beschlossenen Potentials verwirklichen kann, kommen wir nur dann in den Genuß des ganzen Reichtums menschlicher Errungenschaften und Fähigkeiten, wenn wir uns mit Menschen verbinden, die in ihrer Entwicklung andere Wege eingeschlagen haben. Indem wir andere zur Konformität zwingen, verurteilen wir uns nur selbst zu einem beschränkteren und ärmeren Leben.
Eine der historischen Quellen dieser Argumentation liegt in einem bestimmten theologischen Verständnis des menschlichen Lebens, das sich insbesondere aus dem Christentum speist. Humboldt dürfte bereits nicht mehr direkt daraus geschöpft haben, wohl aber Herder. Es ist die Idee der Menschheit als etwas zu Verwirklichendem, und zwar nicht im einzelnen menschlichen Wesen, sondern in der Gemeinschaft aller. Das Wesen der Menschheit ist etwas, das nicht einmal zu einem winzigen Teil von einer einzelnen Person realisiert werden könnte. Nicht wegen der Endlichkeit und Beschränktheit des einzelnen Lebens, denn diesen Mangel könnte man ja beheben, indem man so viele andere Leben dazugibt, bis die Spannweite der menschlichen Vielfalt abgedeckt ist. Diese Fülle ist aber nicht durch die Addition von Unterschieden zu erreichen, sondern nur durch den Austausch, die communio zwischen ihnen. Herder gebrauchte das Bild eines Chors: Der volle Reichtum entsteht erst, wenn all die verschiedenen Stimmen zusammengeführt werden und etwas schaffen, das in dem Raum zwischen ihnen existiert. (Theologisch findet dies seine Entsprechung z.B. in der Lehre von der Dreifaltigkeit oder der Gemeinschaft der Heiligen.)
Wenn wir vor diesem Hintergrund auf die Frage nach der geeigneteren Form gesellschaftlicher Verständigung zurückkommen, scheint die Entscheidung für die prozedurale Republik nicht mehr so evident. Vielleicht ist es sogar so, daß das gegen Differenzen neutrale Modell am Ende eher eine Quelle von Zwietracht ist. Um Mißverständnissen zuvorzukommen: Ich bin keineswegs darauf aus zu bestreiten, daß dieses Modell funktionstüchtig ist. Mir geht es vielmehr um eine etwas komplexere und reichere Version des Liberalismus.
Untersuchen wir die Unterschiede der beiden Modelle, des prozeduralen und des Herder-Humboldtschen, einmal genauer im Hinblick darauf, wie sie mit Differenzen umgehen. Das prozedurale hält uns dazu an, in unseren politisch-rechtlichen Angelegenheiten von Differenzen abzusehen, und zwar aus zwei Gründen. Auf der politischen Ebene wäre die Einbeziehung von Differenzen unangebracht, entzweiend oder unfair, oder eine Mischung von alledem. In Bezug auf die zugrundeliegende philosophische, d.h. kantianische, Anthropologie liegt die Abstraktion von Differenzen auf der Hand, weil das, was an der Person wirklich interessant ist, in dem besteht, was sie mit allen anderen teilt, also in der Fähigkeit, ihre Ziele selbst zu wählen und ihr Leben selbst zu gestalten, kurz: in ihrer Autonomie. Diese Sicht regt allerdings nicht gerade dazu an, uns für die Wahrnehmungsweisen anderer Menschen zu interessieren. Ja, es scheint, je weniger wir über andere Menschen wissen, desto leichter ist es, sie gleich zu behandeln; anders gesagt, je besser wir ihre Einstellungen bis in all ihre vielleicht abstoßenden Details kennenlernen, desto weniger können wir in unserem Verhalten darüber hinwegsehen. Hasse die Sünde und liebe den Sünder. Der kantianische Heilige sieht über die nicht eben erbaulichen Anschauungen hinweg, die sich die meisten Menschen zurechtlegen, und richtet seinen Blick auf die autonome Instanz, die letztlich für sie zuständig ist.
Das alternative Modell hingegen regt dazu an, mehr über die andere und den anderen zu erfahren. Denken wir nur an den starken Impuls, der von Gadamers philosophischer Hermeneutik ausgeht, die in dieser Hinsicht stark von Herder inspiriert ist. Eines der zentralen Prinzipien dieser Lehre besagt, daß jeder gelungene Versuch, den anderen zu verstehen, unser eigenes Verständnis verändert. Denn was uns ursprünglich davon abhält, den anderen zu verstehen, ist ein undurchschauter Bann: unser allzu enger Horizont und die unhinterfragten Voraussetzungen, unter denen wir unser Leben buchstabieren. Die Anstrengung des Verstehens führt, im Falle des Erfolgs, zu einer “Horizontverschmelzung”, zu einer Verbreiterung des Repertoires an Grundbegriffen, in dessen Rahmen die Lebensweise des anderen fortan leichter, d.h. ohne Verzerrungen, einen Platz findet – als eine Möglichkeit unter vielen. Natürlich heißt dies auch umgekehrt, daß unsere Lebensweise als eine unter vielen figuriert: Darin genau besteht ja die Revolution im Selbstverständnis.
Diese Dezentrierung könnte auch als Verlust gesehen werden. Gadamer allerdings teilt diese Auffassung keinesweg, im Gegenteil. Damit fügt er sich, so scheint mir, deutlich in die Herder-Humboldt-Tradition, für die ich hier plädiere. Nüchtern und teleologisch gesprochen: Wir sind dazu bestimmt, einander zu verstehen, und dieses gegenseitige Verstehen ist Wachstum und Erfüllung.
Wir diskutieren hier zwei Modelle. Aber Modelle sind Modelle, und keine Menschen. Die meisten von uns bedienen sich wohl beider. Wir behandeln verschiedene Unterschiede unterschiedlich. Kein Mensch ist ein dermaßen reines moralisches Subjekt, daß er oder sie nicht wenigstens einige Differenzen auch als Ergänzungen sähe und sich entsprechend verhielte. Letztenendes geht es darum, wie man in konkreten Fällen handelt. Und hier diktieren die beiden Modelle, die uns eine übergreifende politische Formel für den gesellschaftlichen Zusammenhalt liefern sollen, ganz verschiedene Ansätze.
Bisher hat noch niemand eine Prozedur entwickelt, die von allen Betroffenen als neutral angesehen wird. Der Sinn einer Prozedur, einer Charta oder ähnlicher Übereinkünfte ist, daß sie helfen sollen, das unwegsame Gelände der Differenzen im alltäglichen Leben zu umgehen. Doch in der Praxis gibt es kein Verfahren, daß dies wirklich erlaubte.
Amerika liefert hier wieder ein gutes Beispiel. Die Trennung von Kirche und Staat ist von ihrer Intention her eine prozedurale Regelung, die neutral bleibt gegenüber allen betroffenen Gruppen. Doch in Wahrheit ist diese Regelung offen für verschiedene Interpretationen, von denen einige alles andere als neutral sind, zumindest in den Augen bestimmter wichtiger gesellschaftlicher Kräfte. Das zeigt sich z.B. deutlich in der Debatte um das Schulgebet. Pointiert gesagt, kann das Insistieren auf einer prozeduralen Lösung gerade die Unstimmigkeiten vertiefen, gegenüber denen neutral zu sein sie vorgibt.
Darüber hinaus bietet dieses Verfahren den Kontrahenten keine Gelegenheit, sich mit den Motiven der jeweils anderen Seite vertraut zu machen, im Gegensatz zu politischen Lösungen, die auf Verhandlung und Kompromiß zwischen konkurrierenden Forderungen beruhen. Schlimmer noch – weil seine Forderung als verfassungswidrig erkannt wurde, wird der Verlierer im amerikanischen Modell zwangsläufig delegitimiert und stigmatisiert, was ernste Folgen für seine Anerkennung in der Gesellschaft nach sich ziehen kann: Nicht nur, daß wir deine Forderungen nicht erfüllen können, sie sind auch primitiv und unamerikanisch. Kurz, es scheint mir, daß der laufende amerikanische Kulturkampf durch den starken Rekurs des politischen Gemeinwesens auf juristische Prozeduren und Entscheidungen eher angefacht als beigelegt wurde und wird. Ich kann diese Problematik hier nicht weiter verfolgen, möchte aber noch einmal unterstreichen, daß es mir nicht darum geht, den prozeduralen Ansatz pauschal zu verwerfen, sondern darum, seine Schwächen zu benennen, um die Debatte wieder mit ein wenig gesunder Empirie anzureichern.
Kritik des Multikulturalismus
Zum Schluß möchte ich prüfen, wie sich die beiden hier diskutierten Modelle in der Debatte um den sog. Multikulturalismus bewähren, in den Kämpfen also um Kultur und Identität, wie sie vor allem an den amerikanischen Universitäten ausgetragen werden.
Vieles daran scheint steril, ja destruktiv. Aber vielleicht lohnt es sich, noch einmal zu sagen, warum das so ist. Der Kampf um Anerkennung bezieht in diesem Kontext oft die Position des Opfers. Aus Gründen, die ich hier nicht weiter darlegen kann, genießt der Opferstatus in unserer Gesellschaft ein immenses Prestige. Nietzsche würde auf das Christentum als Quelle verweisen, und in mancher Hinsicht hätte er wohl recht. Aber es gilt nicht für die ganze Geschichte des Christentums. Im Gegenteil, bis vor nicht allzu langer Zeit stand kaum jemand der Sinn danach, sich als Opfer und Geschundenen zu profilieren. Doch heute scheinen alle um die Palme des bittersten Leidens zu wetteifern.
Nun kann es für den gesellschaftlichen Zusammenhalt aber nur einen destruktiven Effekt haben, wenn sich im Prozeß der Verständigung die eine Seite als Opfer definiert. Denn wie soll sich auf dieser Basis ein Verständnis unseres politischen Gemeinwesens einstellen, das Bürgersinn und gegenseitiges Vertrauen stärkt? Dies setzt einen freien Austausch voraus, wohingegen die Kommunikation zwischen dem Opfer und Ankläger auf der einen und dem Unterdrücker und Angeklagten auf der anderen Seite eine Einbahnstraße ist. Das Ziel ist hier, daß der Angeklagte am Ende seine Schuld gesteht und Reue zeigt oder, noch besser, für Wiedergutmachung sorgt.
Wo immer es sich um Fälle schweren historischen Unrechts handelt, ist dies sicher gerechtfertigt und kann ein erster Schritt sein auf dem Weg zu einer neuen Gemeinsamkeit. Doch die Anklage selbst, der Vorwurf von Ungerechtigkeit und Arroganz, kann dafür kaum eine Basis sein. Solange in der öffentlichen Debatte eine Gruppe auf ihre Opferrolle fixiert bleibt, wird sie sich bestenfalls im Vorfeld des Gemeinwesens bewegen statt sich aktiv an ihm zu beteiligen.
Daher die Sterilität des Anklagediskurses. Es scheint zudem, daß er Partizipation am Gemeinwesen nicht einmal anstrebt, denn er geht immer wieder von der Prämisse aus, daß alles nur ein Kampf um die Macht ist, in dem es darum geht, eine Gegenmacht zu formieren, die die Herrschenden von ihrem Podest stößt. Überflüssig zu unterstreichen, daß diese Sicht keinen Platz läßt für eine echte Zusammenarbeit in dem gemeinsamen Vorhaben der Demokratie.
Gegenüber der universalen Anwendbarkeit des prozeduralen Modells scheint also Skepsis angezeigt, und Klarheit muß geschaffen werden über den destruktiven Charakter bestimmter Formen des Identitätskampfes. In der Tat handelt es sich hier um zwei verschiedene Dinge. “Postmodernisten” und “Multikulturalisten” werden von Konservativen oft in einen Topf mit den “Liberalen” geworfen. Nichts unfairer als das, zumal es gerade die Postmodernisten sind, die die unglückseligen Liberalen mit deutlich größerem Vergnügen attackieren als sie es mit der illiberalen Rechten tun.
Dennoch, es gibt einiges, das Prozeduralismus und Multikulturalismus verbindet. Der Opferdiskurs speist sich letztenendes aus philosophischen Quellen, die er mit dem prozedural orientierten Liberalismus teilt. Insbesondere sind sie beide dem Konzept der negativen Freiheit verpflichtet. Hinzu kommt, daß bei beiden oft eine Ablehnung des Herder-Humbodtschen Modells zu finden ist. Kurz, die in der Sprache des Postmodernismus artikulierten Politikmodelle weisen entscheidende Gemeinsamkeiten mit denen ihrer liberalen Gegner auf.
Als Beispiel möchte ich einen Philosophen anführen, dessen Werk in diesem Zusammenhang einen enormen Einfluß hat: Michel Foucault. Foucaults Denken war der Idee der Freiheit zutiefst verpflichtet, obwohl er dies fast zeitlebens bestritt. Sein philosophischer Anspruch war, Herrschaft zu demaskieren und die Verinnerlichung der Machtverhältnisse durch deren Opfer aufzudecken. Wenn er auch unermüdlich bestritt, daß die Macht ein Subjekt hat, so hatte sie in seinen Augen doch Opfer. Foucaults Analysen implizieren einen moralischen Anspruch, der seine Wucht aus der philosophischen Sprache bezieht. Sie ruft zum Widerstand im Namen der Opfer auf, zur Befreiung vom herrschenden System der Macht und von ihrem Griff nach unserem Selbstverständnis. Foucault folgte diesem Appell selbst, indem er in Politik und Öffentlichkeit intervenierte. Gegen Ende seines Lebens, insbesondere in den letzten Bänden seiner “Geschichte der Sexualität”, präzisierte er seine Vorstellung von Freiheit, von einer Identität, die sich vom herrschenden System nicht kolonisieren läßt. Es war eine ganz und gar negative Konzeption der Freiheit, zu der er sich vorbehaltlos in einem Interview bekannte, das einige von uns ein Jahr vor seinem Tod in Berkeley führten.4
In der feministischen Theorie, in der Schwulenbewegung, in vielen Aufrufen zur Anerkennung von Differenz ist der Einfluß Foucaults offensichtlich, zumindest eine starke Affinität zu seinem Denken. In allen Fällen liegt die Betonung auf den Unterdrückungsverhältnissen und ihrer Abschaffung. Das Ziel scheint zu sein, der betroffenen Person oder Gruppe volle Autonomie zu verschaffen, und das heißt hier, sie von jeglicher Kontrolle und Einflußnahme zu befreien. Für ein anderes Ziel ist in diesem Kampf kein Platz. Immerhin wäre es denkbar, daß die gegnerischen Parteien ihren Kampf austragen, um dann nach einem Arrangement zu suchen, das ihnen erlaubt, das alte Herrschaftsverhältnis durch eine gemeinsame Basis zu ersetzen. Die Beschwörung des Opfer-Szenarios schließt diese Lösung aus. Ein guter Teil der Geschichtsschreibung verfährt nach demselben Szenario und trägt auf diese Weise wenig dazu bei, alternative Formen der Gemeinschaft zu entwickeln, geschweige denn den Gedanken zu fördern, daß beide Seiten diese Formen zu ihrer Vervollkommnung brauchen.
Die Ablehnung des Herder-Humboldtschen Modells läßt sich ebenfalls auf wesentliche Elemente der Foucaultschen Position beziehen. Nirgendwo beschreibt Foucault die gegenseitige Durchdringung von Identitäten als potentiellen Gewinn. In diesem Sinne ist er der antidialogische Denker par excellence. Nicht daß er die dialogische Position explizit ablehnen würde. Vielmehr wird sie durch seine Konzeption der Entwicklung von Identität ausgeschlossen, wie er sie in den verschiedenen Stadien seines Werkes anbietet: Soweit der andere an ihrer Herausbildung beteiligt ist, wird dies immer als Eindringen einer feindlichen Macht interpretiert, gegen die Widerstand geboten ist.
In seinem Buch Überwachen und Strafen untersucht Foucault die verschiedenen Formen der Disziplinierung, wie sie im 17. und 18. Jahrhundert entstanden sind. Prototypisch sind hier Gefängnis und Asyl. Aus dem von ihm gezeichneten Geschichtsbild bleibt die Entwicklung moderner Formen kollektiver Disziplin jedoch komplett ausgespart, ebenso Hannah Arendts Vorstellung, daß Macht das Resultat eines Zusammenschlusses der einzelnen Kräfte zu gemeinsamem Handeln ist. In seinem Interview machte Foucault keinen Hehl daraus, daß er das für eine Illusion hielt.
Die von ihm vertretene, in seinen Augen einzige gesunde Form der Identitätsbildung, nämlich die Kultivierung des Selbst in der ästhetischen Dimension,5 ist ein reiner Soloakt, die Leistung einsamer Virtuosen, die vielleicht voneinander lernen können, sich deshalb aber noch lange nicht zusammentun müssen. Weiter kann man sich nicht entfernen von der Perspektive Herders und Humboldts.
Doch lassen sich die destruktiven Varianten des Multikulturalismus von den kreativen vielleicht nur aus dieser Perspektive unterscheiden. Die Gretchenfrage an die verschiedenen unter der Parole des Multikulturalismus angetretenen Positionen wäre: Was ist euer Ziel? Wollt ihr ein Gemeinwesen schaffen, das, ohne auf Unterdrückung und Ausgrenzung zurückzugreifen, der Tatsache Rechnung trägt, daß wir aufeinander angewiesen sind? Oder deutet die Art und Weise, wie eure Forderung gestellt wird, nicht eher auf eine Befreiung in Richtung solitärer Selbstgenügsamkeit? Schlimmer noch, haltet ihr an diesem Ziel fest, obwohl eine solche Befreiung niemals gelingen kann, mit der Folge, daß euer Protest sich in einem Ritual endloser Anklagen auf ewige Zeiten wiederholt?
Wenn wir den Gefahren und Versuchungen demokratischer Exklusion begegnen wollen, ist der Kampf um eine Erneuerung des politischen Lebens unausweichlich. Er wird sich im nächsten Jahrhundert noch verschärfen. Wer ihn bestehen will, kann sich auf keine Patentlösung und kein Rezept stützen. Doch lassen sich zumindest zwei Handicaps vermeiden: ein allzu rosiges Bild von uns selbst, und untaugliche philosophische Ansätze. Dazu müssen wir uns, erstens, klar machen, daß demokratischer Politik ein Hang zur Exklusion innewohnt, daß sie aber ebenso eine Bestimmung zur Inklusion hat; und zweitens müssen wir uns aus dem Bann einiger mächtiger zeitgenössischer philosophischer Illusionen befreien.
Vgl. hierzu den Essay des Autors "Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie?" im 5. Heft der vorliegenden Zeitschrift sowie seine einschlägigen Beiträge in der Reihe (Hg. Krzysztof Michalski), Stuttgart 1985-97. (d. Red.)
Michael Sandel, , Harvard UP 1996. Vgl. auch ders., , Wien 1995 (d. Red.).
Gérard Noiriel, , Paris 1989.
Vgl. Paul Rabinow (ed.), , New York 1984, S. 373-380.
Vgl. Hubert L. Dreyfus and Paul Rabinow, , Chicago 1983, S. 237.
Published 11 July 2000
Original in English
Contributed by Transit © Charles Taylor / Transit / Eurozine
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