Das Putin-Regime

Die russische Geschichte des vergangenen Jahrhunderts wurde durch die Parteipublizisten in die “Periode des Personenkults”, die “Epoche der Stagnation”, die “Zeit der Perestrojka” und die “Reformperiode” unterteilt. Im Grunde verbergen sich hinter diesen Bezeichnungen die Stalin-, Breschnew-, Gorbatschow- und Jelzin-Ära. Wie aber wird eines Tages die Putin-Ära heißen, die mit der kommenden Wahl des neuen Präsidenten Medwedew noch lange nicht zu Ende gehen wird? Bisher wurde zu ihrer Charakterisierung keine umfassende Metapher gefunden. Ich werde sie deshalb als das “Regime der Putin-Ära” bezeichnen – ohne in diese Worte überflüssige Emotionen zu legen. Auch wenn das Wort “Regime” in der Regel negativ gefärbt ist, bedeutet es im strengen Sinn die gegebene Herrschaftsform eines Staates und nicht mehr.

Obwohl ich kein Befürworter der in Russland herrschenden Ordnung bin, denke ich dennoch, dass die politisch-wirtschaftliche Konstruktion, die in den Jahren der Regierung Putin aufgebaut wurde, ziemlich fest und widerstandsfähig gegenüber “äußeren Bedrohungen” ist. Das Putin-Regime scheint in der Lage zu sein, jeder Kritik von außerhalb und jeder Massenbewegung innerhalb der Staatsgrenzen standzuhalten. In wesentlich geringerem Umfang als seine Vorgängerregime hängt dieses System von der wirtschaftlichen und finanziellen Konjunktur ab, etwa von den Erdöl- und Erdgaspreisen. Auch wenn in der letzten Zeit unsere Nachbarländer und Partner in der Weltgemeinschaft von Russland immer häufiger als Quelle von Unsicherheit und der damit verbundenen Gefahr sprechen, ist eine außen-politische Isolation des Landes ausgesprochen unrealistisch. Dass Russland in militärische Konflikte hineingezogen wird, die die Wirkungslosigkeit seines Verteidigungspotentials aufdecken könnten, ist ebenso unwahrscheinlich. Auch eine soziale Implosion kann praktisch ausgeschlossen werden – trotz der fortschreitenden Vergrößerung des Wohlstandsgefälles innerhalb des Landes und der Notlage eines beträchtlichen Teils der Bevölkerung.

All dies gibt zu denken: Worauf gründet sich das bestehende System? Und warum ist unsere Entwicklungsrichtung jener diametral entgegengesetzt, die von den erfolgreichsten Staaten der Welt eingeschlagen wird? Von den konzeptionellen Grundlagen des Putin-Regimes zu sprechen, ist insoweit angebracht, als das jetzige System seine Entstehung Präsident Putin zu verdanken hat. In diesem System spiegeln sich die Denkweisen des amtierenden Präsidenten und seines Umfeldes wider, ihre positiven und negativen Eigenschaften, Weltvorstellungen, Träume, Hoffnungen, Kränkungen und Ängste.

Die postsowjetische Mentalität

Präsident Putin unterscheidet sich von seinen Weggefährten nur durch den Rang, den er heute innehat. Er ist Fleisch und Blut der Regierungsmannschaft, die mit ihm in den Kreml einzog. Wenn er “einen Kopf größer” wäre, hätten sie ihn nicht genommen. Das heutige Russland wird nicht von einem Leader regiert, sondern von einer geschlossenen Gruppe der Nomenklatur, in der Personen, die durch ihre Begabungen und Fähigkeiten merklich herausragen, nicht zu erkennen sind, und deren Mitglieder nach dem Prinzip der mentalen und intellektuellen Ähnlichkeit rekrutiert werden.

Bei den Vertretern dieser Spitze haben wir es mit Menschen postsowjetischer Mentalität zu tun. Dabei stammt ein beträchtlicher Teil von ihnen aus Kreisen des Militärs und der Behörden für Staatssicherheit und innere Angelegenheiten (deren Anteil in den Machtstrukturen beträgt gegenwärtig 75 bis 78 Prozent). Die Ergebenheit gegenüber einem vereinfachten, schwarz-weißen Weltbild, die sie sich in den Jahren ihres Werdegangs dauerhaft aneigneten, führt in praktisch allen Fragen zu einer Ablehnung anderer Ansichten. In der letzten Zeit konnte man hartnäckige Versuche beobachten, die Entwicklung der Gesellschaft nach einem Drehbuch zu steuern, das den Interessen der Machtspitze wesentlich mehr entspricht ist als jenen der russischen Bevölkerung.

Der sowjetischen Weltanschauung lag die Vorstellung einer globalen Vorherbestimmung der Sowjetunion zugrunde, die der ganzen Welt den Weg in eine neue, kommunistische Gesellschaft weist. Die Vertreter der heutigen Staatsmacht bewahrten im Wesentlichen dieses Weltanschauungselement, entzogen ihm aber den internationalistischen Inhalt, indem sie ihre Ideale an die berühmt-berüchtigte “russische Idee” knüpften, sprich: die Vorstellung der Überlegenheit der orthodoxen russischen Kultur gegenüber dem Westen.1

Dagegen fehlt der russischen Elite der politische Realitätssinn. Sie erfasst nicht die Notwendigkeit, ihre strategischen Entwicklungsziele mit der Wirklichkeit in Beziehung zu setzen. Doch so sehr die Stützen der Putinschen “Machtpyramide” mit der Realität auf Kriegsfuß stehen mögen, beweisen sie dennoch eine seltene finanzwirtschaftliche Cleverness und Fähigkeit, praktisch jede von der Obrigkeit zu gewährleistende Verwaltungsressource zur persönlichen Bereicherung zu nutzen. In kaum einem anderen Land der Welt sind die Mitglieder der Regierung so stark in den Vorständen der größten Wirtschaftsunternehmen vertreten. Nirgends sind diese intransparenter und weniger rechenschaftspflichtig gegenüber den anderen Aktionären. Das Ausmaß der Korruption im Land erhöhte sich in nur fünf Jahren einer erfolgreichen Wirtschaftskonjunktur um das Drei- bis Fünffache.

Fetisch Staat

Zentrales Element der Ideologie des Putin-Regimes ist der Staat. Im Unterschied zu den meisten westlichen Ländern ist in Russland der Begriff Staat äußerst fetischisiert: Der Staat ist in der Vorstellung der Putinschen Nomenklatura ein Hobbesscher Leviathan, der nicht mit der Verantwortung gegenüber dem Volk belastet ist und ausschließlich seine eigenen Interessen verfolgt. Im Wesentlichen ist der “Staat” in unserem Land ein besonderes Synonym für die herrschende Klasse und die Mechanismen, die von dieser Klasse zur Festigung ihrer Oberherrschaft über die Gesellschaft geschaffen werden – und nicht zur Effektivitätssteigerung der Verwaltung und der Befriedigung der elementaren Bedürfnisse der Bevölkerung.

Bei näherer Betrachtung weist die russische Gesellschaft eine regelrecht archaische, dreischichtige Struktur auf. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, das Volk, verfügt zwar über wesentlich größere Freiheiten als zu sowjetischen Zeiten. Trotz der Verfassung gibt es jedoch im Land keine Volksherrschaft; Demokratie wurde durch Populismus ersetzt. Die zweite Schicht umfasst einen ziemlich begrenzten Teil der Bevölkerung, dem es als föderaler oder örtlicher Elite gestattet ist, sich an bedeutenden Wirtschaftsprojekten zu beteiligen. Aber auch diese soziale Gruppe, obschon weit vermögender als das Volk, ist in ihren Möglichkeiten ernstlich eingeschränkt, da die eigentliche Machtelite das “Business” und die gesellschaftlichen Verbindungen der Vertreter dieser zweiten Gruppe auf mannigfache Art zerstören kann. Die dritte Schicht sind schließlich die Beamten, die als Staatsapparat die eigentliche Macht verkörpern, nach ihrem Ermessen die Spielregeln bestimmen und ändern und für das Ergebnis dieses Spiels keine persönliche Verantwortung tragen.

Aufgabe des Staates in der Regierungsperiode Putins ist es nämlich nicht, diese oder jene Probleme zu lösen, sondern Befugnisse anzuhäufen. Der Staat ist nicht darauf ausgerichtet, dass die Bürgerinnen und Bürger die von der Verfassung garantierten sozialen Leistungen erhalten, sondern darauf, ihnen bei der Ausübung ihrer gesetzlichen Rechte Hindernisse in den Weg zu legen. Obwohl das Staatssystem Russlands als “superpräsidial” und von nur einer Person fest beherrscht erscheinen kann, ist dies bei weitem nicht so. Der russische Staat ist nicht nur ineffektiv, sondern auch verantwortungslos. Er ist dadurch gekennzeichnet, dass die Angehörigen der Klasse derjenigen, die in öffentliche Ämter bestellt sind, sich bedingungslos unterstützt.

Hieraus erklärt sich die erstaunliche Stabilität des Putin-Regimes. Im Prinzip wird diese nur durch zwei Faktoren gefährdet: erstens durch den Verfall der Rohstoffpreise und die daraus resultierende Kürzung der Budgeteinnahmen sowie zweitens durch die massenhafte Desorganisation der Beamtenklasse selbst. Eine Verringerung der Exporteinnahmen stellt nach Auffassung internationaler Experten und der hiesigen “Demokraten” den bedeutendsten “Risikofaktor” dar. Ich bin jedoch nicht geneigt, jene Gefahren überzubewerten, die dadurch heraufbeschworen würden. Der Umfang des in der Periode des Rohstoffbooms angehäuften Vermögens ist mittlerweile höchst beachtlich. Außerdem darf auch der von den entsprechenden Einnahmen bewirkte allgemeine Wirtschaftsaufschwung nicht unberücksichtigt bleiben. Die Wirtschaft Russlands wächst heute nicht mehr nur aufgrund der Erdöldollar, sondern auch wegen der gestiegenen inländischen Nachfrage.

Somit stellt die latente Illoyalität des Beamtentums vermutlich die ernsthaftere Gefahr dar. Im Unterschied zur Sowjetunion ist das heutige Russland ein offenes Land. Wenn die Vertreter der Elite eine Instabilität bemerken, haben sie die Möglichkeit, Kapital ins Ausland zu überweisen, Eigentum in Off-Shores zu schaffen und ihre Familie in andere Länder zu bringen. Jede Feuerprobe, selbst wenn die Wirtschaft sie besteht, kann hinsichtlich der Geschlossenheit der Elite und ihrer Fähigkeit, die Lage in Russland zu kontrollieren, katastrophale Folgen haben.

Die Entintellektualisierung des Landes

Um den starken Staat in den Mittelpunkt jeglicher Politik zu rücken, schuf das Putin-Regime einen entsprechenden Propaganda-Apparat. Unverständlich bleibt dagegen, warum Russland in den 15 Jahren seiner Unabhängigkeit keine eigene “nationale Idee” entwickelt hat. (Diejenigen Versionen, die in der Gesellschaft eine gewisse Verbreitung fanden, erweisen sich nicht so sehr als “national”, sondern vielmehr als nationalistisch.) Stattdessen wurde, quasi als “Ausweg”, die (angebliche) Entideologisierung zur Ideologie erkoren. Gleichzeitig wurde die höchstmögliche Isolierung der Bevölkerung sowohl von Informationen als auch von jeglicher Propaganda, außer der staatlichen, zur Hauptaufgabe der Informations- und Propagandamaschine gemacht.

Die gezielte Entwertung objektiver Informationen ist jedoch nur eine der “Arbeitsrichtungen” der staatlichen Propagandisten. Als zweite würde ich die Schaffung von in der Regel äußerst abstrakten Bildern nennen, die als Ersatz für jene großen Ideologien dienen sollen, die fast während des gesamten 20. Jahrhunderts die Gemüter beherrschten. Russland, der Kosmos, die Russische Idee, Gott, der Staat, das Volk, der Westen, die Gemeinschaftlichkeit – alle diese verschiedenartigen Begriffe (die im Russischen unbedingt groß zu schreiben sind) überschwemmen neuerdings die nichtssagenden Abhandlungen der modernen Politologen.

Neben den “positiven” Bildern werden gleichzeitig auch “negative” Bilder produziert. Unter den gängigen “Gefahrenquellen” befinden sich in Ungnade gefallene Oligarchen, die angeblich bestrebt sind, die politische Stabilität in Russland zu stören; Unternehmer der Firma Jukos, die mehr Steuern hinterzogen haben sollen, als sie an Verkaufserlösen aus beinahe der Hälfte des gesamten russischen Erdöls in Gestalt der “Bohrlochflüssigkeit” erhielten; ausländische Gesellschaften, die Raubbau an den russischen Naturreichtümern betreiben würden; Moldawien und Georgien, deren Regierungen angeblich beabsichtigten, das nüchterne russische Volk mit minderwertigen “alkoholhaltigen Flüssigkeiten” zu vergiften, und schließlich die Ukraine und Weißrussland, die den gerechten Preis für russisches Erdgas nicht zahlen wollen. Quasi “hauptamtliche” Gegner sind die Vereinigten Staaten mit ihrer “aggressiven Politik” und Europa, das halsstarrig nicht begreifen wolle, welches Wohl ihm die “Energiesupermacht” Russland bringe.

Das Einzige, was die Machthaber niemals als Bedrohung der nationalen Sicherheit des Landes betrachten, ist die eigene ineffektive Staatsmaschinerie. Dabei produziert deren gedankenlose Tätigkeit gewaltige finanzielle Ausgaben, von denen ein nicht geringer Teil in den Taschen der Beamten verschwindet. Zudem führt das rasante Wachstum der Auslandsanleihen durch staatliche Unternehmen dazu, dass die Schulden des vermeintlich wirtschaftlich so erfolgreichen Russlands bei der übrigen Welt konstant wachsen.

Die Ursache dafür liegt darin, dass das Putinsche System in den letzten Jahren das meritokratische Prinzip, das zuvor in den Verwaltungsstrukturen existierte, praktisch völlig entwertete. Fundamentale Besonderheit Russlands ist heute das völlige Fehlen der Konkurrenz im Verwaltungskörper des Landes. Die Aufnahme neuer Angehöriger der Beamtenkaste geschieht allein unter Berücksichtigung ihrer Fähigkeit, die Position derjenigen zu untergraben, von denen ihre Einsetzung abhängt. Es entstand das klassische System einer “negativen Auslese”, in der das Fehlen von Begabung und Fähigkeiten keinen Mangel, sondern einen Vorzug des Bewerbers darstellt, der ihn für diejenigen, die sich bereits am “Futtertrog” befinden, ungefährlicher macht. Daher nimmt der Professionalismus bei gefällten Entscheidungen drastisch ab, und der bürokratische Apparat arbeitet immer schlechter. Unterschwellig drängen sich der gesamten Gesellschaft die Vorzüge des Dilettantismus und die Geringschätzung fachlicher Eignung als eine Art “neuer Ideologie” des modernen Russland auf. Die entintellektualisierte Elite des Putinschen Russlands stellt heute die Hauptgefahr für die Sicherheit des Landes dar.

Spekulations- statt Produktionswirtschaft

Das ökonomische Fundament des Putin-Regimes ist die Rohstoffwirtschaft, die von der Sowjetunion geerbt wurde. Der Anteil des Staates am gesamten Grundkapital russischer Gesellschaften beträgt zurzeit mehr als 35 Prozent. Da sie sich “unter den Fittichen” der Staatsmacht völlig sicher fühlten, begannen große Unternehmen, enorme Kredite aufzunehmen, die nicht selten auf den Erwerb von Nicht-Kernaktiva statt auf die Entwicklung der Haupttätigkeit ausgerichtet waren. Infolgedessen stiegen die Schulden der russischen Banken und Produktionsgesellschaften zwischen 2003 und 2007 von 31 auf 418 Mrd. US-Dollar oder um das 13,5fache.

Gleichzeitig entstanden im Verlauf der 90er Jahre immer größere Monopolisten – mit allen negativen Folgen fehlender Konkurrenz. So nahmen die mittleren Produktionskosten zwischen 2003 und 2007 um das 3,8fache zu, während die offizielle Inflationsrate unter elf Prozent sank. Da sie offensichtlich mit der unbegrenzten Nachfrage sowohl der Verbraucher als auch der Produzenten rechnen, unternehmen die Behörden bis heute nichts, um den Appetit der Monopolinhaber zu zügeln. Russland verliert auf diese Weise schnell die letzten Konkurrenzvorteile im produzierenden Sektor und verwandelt sich in einen Gnadenbrotempfänger der Weltwirtschaft, der Rohstoffe gegen Industriewaren eintauscht.

Diese Spekulationswirtschaft, deren Produktionssektor rapide schrumpft, erzeugt ein spezifisches System der Einnahmenverteilung. Wenn, wie gegenwärtig, die direkt mit der Produktion und dem Export von Energieträgern verbundenen Einkünfte 55 bis 60 Prozent der Staatseinnahmen sichern, können die Staatsausgaben entsprechend dem Wachstum der Erdölpreise erhöht werden. In den letzten Jahren sind ganz in diesem Sinne die Ausgabenposten jährlich um 25 bis 30 Prozent gestiegen. Da jedoch Bildung, Gesundheitswesen und sonstige staatliche Investitionstätigkeiten nicht auf der Prioritätenliste stehen (weil der Rohstoff- und Finanzsektor an ihnen nicht interessiert ist), wird das Hauptaugenmerk auf jene staatlichen Dienste gerichtet, die dafür sorgen, den Status quo aufrechtzuerhalten. Insgesamt wird die gegenwärtige staatliche Ordnung von fast fünf Millionen Menschen “geschaffen” und aufrechterhalten; das sind mehr als 15 Prozent der männlichen Arbeitskräfte, die in der Volkswirtschaft des Landes beschäftigt sind. Kehrseite ihrer Bemühungen sind jene 780 000 Personen, die sich derzeit in Strafanstalten oder Isolierzellen des Innenministeriums befinden.

Die in den letzten Jahren auf diese Weise entstandene sogenannte dynamische Oligarchie leistet keinen positiven Beitrag zur Wirtschaft, da sie nicht fähig ist, ein effektives Schutzsystem für das Eigentum (und auch das Leben) der Bürger zu schaffen, eine straffe Tätigkeit des Gerichtswesens zu organisieren und Korruption und Willkür zu verhindern. Gleichzeitig kommt ihre Erhaltung das Land immer teurer zu stehen: Die für diese Zwecke freigegebenen Budgetmittel steigen von Jahr zu Jahr um 20 bis 25 Prozent und betragen nun etwa 7,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Die Belastung der Wirtschaft durch diese Pyramide kann unter Berücksichtigung aller mit ihr verbundenen negativen Auswirkungen mit 14 bis 17 Prozent des BIP beziffert werden.

Das Hauptproblem besteht jedoch darin, dass die Bevölkerung sich durch die herrschende Spekulationswirtschaft rasch den Müßiggang angewöhnt. Das betrifft sowohl die Staatsbeamten und Angehörigen der Rechtsschutzorgane als auch einen beträchtlichen Teil der in allen Gewerbebranchen und Dienstleistungsbereichen Beschäftigten. Anzahl und der Anteil der Personen, die eine für die Gesellschaft wirklich nützliche Tätigkeit ausüben, sinken rasch, während die Bedürfnisse derjenigen, die sich als Elite dünken, genauso schnell wachsen. Sollten sich die Wirtschaftsprobleme eines Tages verschärfen, dürfte es sich als äußerst schwierig erweisen, den entstandenen Appetit dieser vermeintlichen Elite zu mäßigen – umso mehr, als ein bedeutender Teil von ihr die soziale Machtbasis des Putin-Regimes bildet.

Das “beherrschbare Chaos”

Das Erreichen und die Erhaltung der “Stabilität” ist eine der verbreitetsten Parolen des Putin-Regimes. Doch kann man wirklich von Stabilität sprechen, wenn die Entscheidungen von Staatsorganen so oft geändert werden, wie die Obrigkeit es benötigt, um zum gewünschten Ergebnis zu kommen? Wenn Gerichtsentscheidungen mehrmals angefochten werden und die Staatsanwaltschaft große Strafsachen bald eröffnet, bald wieder schließt? Und ist es nicht seltsam, dass in einem Land, in dem der Stabilität derart gehuldigt wird, die Parlamentswahlen nicht ein einziges Mal zweimal hintereinander nach ein und denselben Regeln durchgeführt wurden?

Tatsächlich erweist sich, dass, obwohl das Putin-Regime die Stabilität ständig im Munde führt, es diese in Wirklichkeit nicht gewährleisten kann. Diese Unfähigkeit stellt für Putin und die von ihm an die Macht gebrachten Personen das politische Hauptproblem dar. Wie sehr alles dem Prinzip der Stabilität untergeordnet wird, bewies die ausschließliche Fokussierung während des letzten Jahres auf das sogenannte Problem 2008 – die Nachfolge Wladimir Putins. Mit der Kandidatur seines Vertrauten Dmitri Medwedew für den Präsidentenposten, während Putin das Amt des Ministerpräsidenten übernehmen wird, scheint für dieses Problem vorerst eine Lösung gefunden – deren Beständigkeit sich jedoch noch erweisen muss.

Allerdings illustriert diese riskante Ämterrochade einen der grundlegenden Kunstgriffe der herrschenden Elite des Putin-Regimes: nämlich das Regieren im “beherrschbaren Chaos”. Dies zeigt sich sowohl in der Innenpolitik, in der entweder verwegen Funktionen überschnitten oder komplizierte Verwaltungsstrukturen mit mehrfacher Kontrolle aller durch alle aufgebaut werden, als auch in der Außenpolitik, in der Russland endgültige Entscheidungen umgeht, um sich einen möglichst großen Handlungsspielraum zu bewahren, dabei aber latenten Druck auf die Nachbarn ausübt. Das Prinzip des “beherrschbaren Chaos” ist eine im Allgemeinen adäquate Taktik, wenn es sich um ein System handelt, in dem ein offensichtlicher Mangel an strikten Richtlinien und Regeln zu bemerken ist. Die Frage ist jedoch, ob und wann es sich zu einem “unbeherrschbaren” Chaos auswächst.

Aller Voraussicht nach wird es kein Problem mit der “Volksabstimmung über das Vertrauen” geben, in die sich die Wahl des von Putin höchstselbst aufgestellten Kandidaten Medwedew verwandelt hat. Die Probleme könnten jedoch mit dem Amtsantritt beginnen – zumal dann, wenn nun auf dem höchsten Posten des Landes eine Person amtiert, die noch gestern ein Zahnrad im reibungslosen System war. Damit werden ausnahmslos alle an der Machtpyramide Beteiligten eine neue Legitimation benötigen. Dann könnte auf allen Führungsebenen ein Krieg jeder gegen jeden ausbrechen, wobei dieser wahrscheinlich mit einer immer heftigeren Opposition der neuen Ordnung gegen die alte, Putinsche, verbunden sein wird. Haupttrumpf dürfte kompromittierendes Material sein – für die gegenseitige Vernichtung wird man längst genügend gesammelt haben. Für eine Auseinandersetzung zwischen neuer und alter Ordnung spricht nicht nur die traditionelle Neigung der russischen Eliten, ihren politischen Aufstieg mit einer Verleumdung der Vorgänger zu beginnen, sondern auch die Tatsache, dass das kompromittierende Material mit Ereignissen und Prozessen verbunden ist, die in der Putin-Ära stattfanden.

Wird der wahrscheinliche Konflikt in der Machtelite den russischen Demokraten neue Möglichkeiten eröffnen? Ich glaube kaum – einfach deshalb, weil ihnen nicht nur die Unterstützung durch das Volk fehlt, sondern sie auch kein positiv konnotiertes Aktionsprogramm vorweisen können. Im Regierungslager mangelt es zwar an Ideen, aber es besetzt den Präsidentenstuhl. Und letztlich werden die Bürger jedem vertrauen, der den Präsidentenposten innehat. Im Oppositionsflügel sind zwar im Prinzip richtige und attraktive Ideen für die Entwicklungswege des Landes vorhanden, aber es gibt keine Leute, denen die Russen ihre Umsetzung in die Praxis tatsächlich anvertrauen möchten.

So aber dürfte der gelenkte Machtwechsel von Putin zu Medwedew der Bevölkerung eine notwendige Einsicht vorenthalten: Die Prinzipien des Putin-Regimes sind weiterhin grundsätzlich unzulänglich, denn sie verkörpern die Symbiose eines nostalgischen Blicks auf die Vergangenheit mit bloß konjunkturellen, aber keineswegs gesetzmäßigen wirtschaftlichen Erfolgen. Umso mehr kommt es darauf an, die russischen Bürgerinnen und Bürger von einer elementaren Notwendigkeit zu überzeugen: Die Richtung, in die sich das Land entwickeln soll, müssen sie selbst wählen und nicht jene mächtige Gruppe von Semester- und Dienstkollegen, die sich einbildet, berechtigt zu sein, die Interessen des russischen Volkes zu vertreten.

Der Begriff wurde bereits im 19. Jahrhundert von der Gruppe der Slawophilen geprägt. Er basiert auf der messianistischen Vorstellung von der Berufung Russlands, der Besonderheit der russischen Seele und der russischen Geschichte. -- D. Red.

Published 11 March 2008
Original in German
First published by Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2008

Contributed by Blätter für deutsche und internationale Politik © Vladislav Inosemzev / Blätter für deutsche und internationale Politik / Eurozine

PDF/PRINT

Newsletter

Subscribe to know what’s worth thinking about.

Related Articles

Cover for: Welcome to the dictator’s playground

Turkey is no longer a dissident safe haven. High-profile cases of outspoken exiles kidnapped or even killed by spies when in the country attest to the risks. Interviews with Iranian and Russian exiles reveal deteriorating circumstances, from visa refusal to societal racism, police persecution and serious abduction threats, exposing uncertain, shifting political ground.

Cover for: Internal empire

Internal empire

Osteuropa 1–3/2024

Why the Russian Federation is a de facto empire despite the 1993 constitution; why Putin’s imperial but anti-ideological variety of Russian nationalism dominates; why Chechnya remains an open wound on the body politic; and feeling the impact of the Putin regime’s clampdown on intellectual freedoms.

Discussion