1978 bereitete ich für die BBC eine Sendung zum zehnten Jahrestags des Mai 1968 vor. In Frankfurt traf ich Rudi Dutschke und fragte ihn, ob er bereit sei, ein Interview zu geben. Seine Antwort überraschte mich: “Zum Mai ’68 in Frankreich habe ich nicht viel zu sagen. Zunächst einmal deshalb, weil ich damals im Krankenhaus lag; vor allem aber, weil im Rückblick das entscheidende Ereignis des Jahres 1968 in Europa nicht Paris war, sondern Prag. Damals waren wir unfähig, dies zu sehen.” Dutschke war zu Beginn des Frühlings 1968 selbst nach Prag gekommen. Die Begegnung des westdeutschen Studentenführers mit den tschechischen Kommilitonen wurde zu einem Dialog zwischen Schwerhörigen. Mit ihrer Verachtung für die “bürgerliche Demokratie” und den – selbstverständlich amerikanischen – “Imperialismus” erinnerte Dutschkes Sprache allzu sehr an die des Prager Regimes. Auch in dem im April 1978 geführten Interview mit Rudi Dutschke fehlt es nicht an der für die deutsche Linke so charakteristischen hölzernen Sprache, und bisweilen ist es sogar nötig, zwischen den Zeilen zu lesen. Doch gerade deshalb illustriert dieses Dokument gut die Missverständnisse, die 1968 zwischen Ost und West herrschten.
Jacques Rupnik
Jacques Rupnik: Wie erklären Sie sich, dass die westliche radikale Linke 1968 nicht in der Lage war, die Bedeutung des Prager Frühlings zu erfassen?
Rudi Dutschke: Dafür gibt es eine historische Erklärung. Seit der Revolution von 1917 zehrte der größte Teil der weltweiten Arbeiterbewegung vom Mythos der Oktoberrevolution als proletarischer Revolution. Der Fortbestand dieses Mythos hatte zur Folge, dass es keine kritische Analyse dessen gab, was in der UdSSR geschah. 1945 hatte die Sowjetunion zur Niederlage des Faschismus und zum Wiederaufbau Europas beigetragen. Mit anderen Worten: Der sowjetische Einfluss bewirkte damals, während einer ersten Phase, einerseits eine Befreiung und andererseits das Ende jeder Demokratie, das Ende dessen, was man als die Errungenschaften der bürgerlichen Revolution bezeichnet. Im Kalten Krieg tendierte die Linke erneut dazu, den Sozialismus mit der Sowjetunion und, in der BRD, mit der DDR zu identifizieren. Das ist der Kontext, in dem die Studentenbewegung der Sechziger Jahre auf den Plan tritt. Ich erinnere mich, dass wir innerhalb des SDS in Bezug auf den Kampf gegen den (amerikanischen) Imperialismus die Mehrheit hatten, nicht jedoch in Bezug auf Osteuropa. Darüber wurde nicht einmal diskutiert. Das galt als sekundär, also ließ man es fallen. Ich erinnere mich, wie nach meiner Rückkehr aus Prag niemand im SDS wirklich begreifen konnte, was ich bezüglich der dortigen Ereignisse zu beschreiben versuchte. Für sie war das ein Problem und ein Vorstoß, der eher auf dem Liberalismus als auf dem Sozialismus beruhte.
JR: Also die These, wonach die Gefahr einer “Restauration des Kapitalismus” bestanden habe?
RD: Mehr oder weniger. Aber es gab keinerlei Verständnis für die Situation und das, worum es im Lande wirklich ging. Das ist der Hauptgrund dafür, dass die Linke in Westeuropa die Dynamik der sozialen und politischen Emanzipation in Osteuropa nicht zu begreifen vermochte. Das hat sowohl die Kommunikation als auch die Kooperation unmöglich gemacht. Das Ganze war auf eine eher persönliche denn politische Angelegenheit reduziert: Ich stamme aus der DDR, ich stand in Kontakt mit Petr Uhl und einigen anderen…
JR: Inwiefern waren die Bewegungen des Frühlings 1968 in Paris und in Prag wichtig für Sie? Hat es, jenseits aller Missverständnisse, gemeinsame Nenner gegeben?
RD: Ich dachte damals, es würde sich um eine neue Dimension des Klassenkampfs in Mitteleuropa handeln, bei gleichzeitig wachsendem Druck sowohl in Westeuropa als auch in Osteuropa. Die Tschechoslowakei bedeutete im Hinblick auf eine politische Veränderung in Osteuropa einen grundlegenden Schritt nach vorne. Die Ereignisse des Mai und Juni in Paris habe ich nur von meinem Krankenhausbett aus zur Kenntnis genommen. Für mich war klar, dass eine Niederlage die Möglichkeit einer Zusammenarbeit von Ost und West zunichte machen würde. Die Niederlage in Paris und auch in Westdeutschland hat es den kommunistischen Parteien ermöglicht, auf die politische Bühne zurückzukehren. Moskau hatte ihnen bedeutet, abzuwarten und auf keinen Fall am Kampf zu beteiligen, denn das hätte für die Kontrolle Osteuropas Schwierigkeiten nach sich ziehen können. Nach der Niederlage in Paris war für mich die einzige Frage: Werden die Russen in der Tschechoslowakei intervenieren? Darüber hatten wir bereits bei meinem Besuch in Prag debattiert. Damals war ich überzeugt, dass dies undenkbar sei. Doch meine tschechischen Studentenfreunde sagten mir: “Seid ihr sicher, dass 1956 bereits Vergangenheit ist?” Ich hatte in der Tat gedacht, dass sich so etwas nicht wiederholen könne. Ich hatte die Situation falsch eingeschätzt. Vom Juni an begann meine Überzeugung zu schwinden. Was dann kam, war ein fürchterlicher Schock, für mich wie für alle, die ehrlich an ihren sozialistischen Überzeugungen festhielten.
JR: Glauben Sie nicht, dass das “Missverständnis”, das 1968 zwischen Ost und West herrschte, nicht nur in den unterschiedlichen Kontexten und Entwicklungsgeschwindigkeiten begründet lag, sondern vor allem in der Tatsache, dass man nicht dieselben Zielvorstellungen teilte? Ideologisch gesehen hatte man wenig gemeinsam: Die Tschechen wollten den Kommunismus humanisieren, während es in Frankreich eine Rückkehr zur revolutionären Reinheit der marxistischen Lehre gab.
RD: Absolut. Ich erinnere mich, dass tschechische Studenten, die nach Berlin gekommen waren und mich im Krankenhaus besuchten, mir sagten: “Es ist so schwierig, mit den Deutschen zu sprechen…” Und sie hatten Recht. Aber nach der Invasion hat man sich beim Kongress der Jugendbewegungen in Sofia wiedergesehen und konnte neue Verbindungen knüpfen. Die Leute vom SDS hatten verstanden, dass die Tschechoslowaken bereit waren, mit ihnen zusammenzuarbeiten, um die Zwangsjacke abzustreifen, in die sie durch die Offiziellen Sofias und die kommunistischen Organisationen gesteckt worden waren. Das war ein kleiner Schritt in Richtung Wiederannäherung.
JR: Die Einigkeit in der Niederlage, aber keine Phase des Aufschwungs für die Bewegung?
RD: Sie haben Recht. Das war keine durchschlagende Erfahrung. Dennoch bin ich überzeugt, dass die westdeutsche Linke in den kommenden Jahren begreifen muss (was sie in Anfängen bereits tut), dass eine Änderung des Status quo in der BRD und in Westeuropa ohne Verbindung mit der politischen und sozialen Emanzipation in Osteuropa undenkbar ist. Ein isolierter Wandel ist unmöglich. Das zu begreifen, setzt jedoch einen beträchtlichen Bewusstseinswandel voraus.
Dieser Artikel ist ein Vorabdruck aus der nächsten Ausgabe der Zeitschrift Transit (Nr. 35, Sommer 2008).
Published 16 May 2008
Original in French
Translated by
Markus Sedlaczek
First published by L'Autre Europe no. 20 (1989) (French version), Transit 35 (2008) (German version)
Contributed by Transit © Jacques Rupnik / Eurozine
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