Curriculum vitae

Wer bin ich? Was bin ich? Wenn ich darauf in der direkten und oberflächlichen Sprache der runden Tische, der Zeitungsinterviews und der Politik eine aussagekräftige Antwort geben könnte, brauchte ich keine Romane zu schreiben. Die Arbeit meines Alltags antwortet ständig auf diese eine Frage. Erweitert lautet sie: wer sind wir Ungarn, wir Europäer, wir Menschen. Man kann die Antwort zwischen den Buchdeckeln nachlesen, das müßte ich antworten.

Am 1. September 1939 begannen die Nazis den Zweiten Weltkrieg. Am 3. traten England und Frankreich in den Krieg ein. Der 3. September war der Geburtstag meines Vaters. Die zahlreichen Anrufe, durch die meine Familie die Abläufe des Krankenhauses und der Natur zu beschleunigen versuchte, blieben erfolglos, und so wurde ich in den frühesten Morgenstunden des 4., um drei Uhr geboren. Mein Vater starb 1943 in russischer Gefangenschaft, ich kannte ihn nicht und erinnere mich nicht an ihn. Er war Ingenieur und fotografierte. Mir ist nichts von ihm geblieben, nur seine Aufnahmen. Mit ihnen lehrte er mich sehen, so, als wäre er zu Hause gewesen, als hätte man seinen steinhart gefrorenen Körper nicht in ein Massengrab geworfen, so wie man es mit sechshundert anderen Leichen getan hat, an einem Morgen im April.

Im ersten Nachkriegsherbst kam ich in die Schule. Die ersten drei Jahre verbrachte ich im Waisenhaus, danach wuchs ich auf der Straße auf, von früh bis spät vagabundierte ich auf dem Asphalt der Stadt, das ist mein Heimatland, dort lernte ich am meisten über die Natur des Menschen, über Gewalt und Liebe, über schleicherischen und freien Geist, über die Gesetze der Moral. Bis zu meinem dreizehnten Lebensjahr wußte ich, daß ich niemals die Grenze überschreiten, niemals andere Länder, andere Menschen, die Farbenvielfalt der Welt kennenlernen würde.

Nach der Niederschlagung der Revolution und während der Vorbereitung auf das Abitur schrieb ich meine erste Novelle. Eine sehr ungarische Geschichte: sie spielt in Paris, die Hauptpersonen sind zwei geflüchtete ungarische Halbwüchsige und ein Citro_n DS 19, sie handelt vom Verlust des Zuhause, der Farbenfülle und der Kälte der großen Welt, und von der Niederlage.

Ich bin das, was ich in meinem Leben mache. Ein amerikanischer Astronom namens Morrison schätzte vor einigen Jahren auf einem Symposion in Bjurakan (Armenien) die gesamte von der Menschheit gesammelte Erfahrung auf eine zwischen 1021 und 1022 liegende Anzahl von Teilchen (Bit). Für alle im Laufe der Geschichte entstandenen Bücher und Handschriften gibt er 1014 Bits an. Eine Berufskrankheit: pflichtgemäß zweifle ich zuerst einmal. Kann man denn die menschliche Erfahrung überhaupt in Bits ausdrücken? Versteht der Astronom darunter das gleiche, wie wir Privatpersonen? Ich frage: wieviele Bits hat der Geruch des Windes am Balaton? Ein Schneeball in meinem Nacken? Der Zauber einer belegten Frauenstimme? Die Schlußfolgerung hingegen akzeptiere ich: der überwiegende Teil fand keinen Ausdruck, blieb im Reich der individuellen Wahrnehmung. Meine Aufgabe ist es, den Bereich der zum Ausdruck gebrachten und dadurch geteilten menschlichen Erfahrung zu vergrößern.

Ich bin der Ansicht, daß der Romanautor auch seine staatsbürgerliche Pflicht am wirksamsten erfüllt, wenn er die besten Bücher schreibt, zu denen er fähig ist – unbedingt, um jeden Preis und ungeachtet aller Trends und Tendenzen. Von da an ist Qualität ein moralischer Begriff. Der Romanautor ist kein Politiker, er dringt in größere Tiefen des Seins vor, sein Blickfeld ist weiter, er sieht die übergreifenderen Zusammenhänge, seine Werke sind beständiger. Ich spreche von meiner eigenen Aufgabe, die Veranlagungen sind hier wohl verschieden, ich glaube an die gesellschaftliche Arbeitsteilung. Die Grenze meiner Toleranz ist erreicht, wenn jemand seinen eigenen Weg zur Seligkeit für alle verbindlich machen will. Solches haben wir in den letzten hundert Jahren unserer Geschichte unter den verschiedensten Vorzeichen zur Genüge erlebt.

In einem vollkommen meinen Wunschvorstellungen entsprechenden Zimmer würden jene Fotos an den Wänden hängen, die mein Vater vor 50 Jahren von der ungarischen Hauptstadt gemacht hat. Weiters eine Lebenmittelkarte für Fleisch, ich bewahre sie seit 1983 auf, ein Freund aus Kolozsvár hatte sie mir gegeben: ich solle sie allen zeigen, das sei es ihm Wert, daß er einen Monat lang kein Fleisch essen kann, dafür würde man sehen, wie sie dort drüben lebten. Dann ein Karte von Ungarn aus der Zeit der Jahrhundertwende und eine von Budapest. Und Aufnahmen des Sternenhimmels und der Erdkugel, wie sie die Apollo-Astronauten erstmals von außerhalb fotografiert hatten.

Published 15 February 2000
Original in Hungarian
Translated by Heinrich Eisterer
First published by Magyar Lettre Internationale (Hungarian version) / Eurozine (German version)

Contributed by Magyar Lettre Internationale © Peter Lengyel / Heinrich Eisterer / Magyar Lettre Internationale / Eurozine

PDF/PRINT

Published in

Share article

Newsletter

Subscribe to know what’s worth thinking about.

Discussion