Bunte Flecken gegen den Krieg

Slowjansk ist eine graue Stadt im Osten der Ukraine. Sie war das schon, bevor die pro-russischen Separatisten sie besetzten und die ukrainische Armee sie wieder unter die Kontrolle Kiews brachte. Nun versuchen Jugendliche, der Einöde nicht weit von der Frontlinie entfernt, ein paar Farbkleckse zu verpassen. Nicht nur mit Pinseln. Sie wollen die Menschen vor allem mental verändern.

Sein Telefon hat schon fast das Zeitliche gesegnet. Ein einfaches Ding, Hauptsache die Leute können anrufen. Und sie rufen an, immer und immer wieder. Fragen ihn nach irgendwelchen Projektoren. Nach Keksen manchmal. Nach Übernachtungsmöglichkeiten. “Hmm, nun muss ich dieses Mädchen irgendwo unterbringen. In einer Wohnung, wo es wenigstens warmes Wasser gibt.” In Slowjansk, diesem 100 000-Seelen-Ort im Osten der Ukraine, gibt es nicht immer warmes Wasser. Manchmal gibt es auch kein Licht. Oder die Heizung fällt aus. Für Jewgeni Skripnik ist das Alltag. “Was erwartet man auch in einer Stadt, die schon vor dem Krieg kaum jemanden interessierte, und die der Krieg nicht gerade wohnlicher gemacht hat?”, fragt er, fast beiläufig, nachdem er das Telefon in seine Jacke verstaut hat. Jewgeni Skripnik aber will, dass sich die Menschen für seine Stadt interessieren. Will, dass sie nicht nur als Synonym für erbitterte Kämpfe zwischen pro-russischen Separatisten und der ukrainischen Armee im Sommer 2014 in die Geschichte eingeht. Zwei Monate Artillerie-Beschuss, Straßensperren, Versorgungsengpässe. Es gab Tote, gab Verletzte, Geflüchtete.

Kaum jemand will sich hier an diese Zeit erinnern. 100 Kilometer weiter hat der Krieg nicht aufgehört. Es ist ein fast vergessener Krieg mitten in Europa. Ein Krieg, von dem manche in Slowjansk sagen, wie gut es doch sei, dass es ihn gibt. Nicht wegen des Leids, wegen der verlorenen Söhne, Väter, Männer, der verletzten Kinder, zerstörter Häuser. Gott bewahre! “Aber wir sind endlich aufgewacht, wir haben endlich begriffen, dass wir für unser Land verantwortlich sind. Für unsere Treppenhäuser, unsere Höfe, unsere Städte.” So erzählen es manche in Slowjansk, auch wenn immer noch viele darauf warten, jemand möge kommen und alles schön machen. Die Regierung in Kiew? In Moskau? Die Separatisten? Es ist die alte sowjetische Bequemlichkeit, die dann aus den Menschen spricht.

Photo: Inna Hartwich

Jewgeni Skripnik will nicht warten. Wie auch Jana Pomelnikowa nicht. Oder Nastja, die sich nur “Sliwa” nennt, “die Pflaume”, weil sie blaue Dreadlocks hat und damit fast schon zu einer Sensation geworden ist in einer Stadt wie Slowjansk. Sie sind 19, 29, 23 Jahre alt. Sie wollen Informatiker werden oder haben Malerei studiert. Vor allem aber haben sie in den vergangenen Monaten gelernt, Anträge bei internationalen Organisationen zu stellen, Crowdfunding-Kampagnen zu stemmen und so an Geld heranzukommen, um “das Bewusstsein der Menschen zu verändern”. Mit sieben anderen jungen Menschen wollen sie in ihrer Stadt etwas bewegen. Hier, wo blau-weiße Plakate entlang der großen Straßen zwar “Frieden seit zwei Jahren” preisen, ausgebrannte Fenster einiger Häuser aber mahnen, wie nah der Krieg immer noch ist. “Teplizja” nennen sie den Raum, wo sich die Jugend der Stadt versammeln soll, “Gewächshaus”. Denn: “In einem Gewächshaus reift Gemüse unter günstigen Bedingungen heran. Hier im Teplizja soll ein neuer Geist wehen”, sagt “Sliwa”. In einer ehemaligen Bankfiliale am Rande des Stadtzentrums haben sie die Wände grün und lila gestrichen und neben einer Tür zwölf Regeln aufgeschrieben: Sei aktiv! Achte auf deine Wortwahl! Räum deine Tasse selbst auf! Solche Sachen. Es ist eine Art Jugendclub entstanden, der erste und einzige der Stadt. “Ich habe hier Leute aus der Westukraine getroffen, mit Polen und Litauern diskutiert, andere Sichtweisen kennengelernt, bin toleranter geworden”, sagt die 16-jährige Katja, die es seit den Anfängen des Projekts nach der Schule stets ins Teplizja zieht.

Englischkurse organisieren, Gedichte vorlesen, Musiker einladen, mit Dänen und Amerikanern diskutieren

Die aktiven Jugendlichen von Slowjansk wollen der Einöde, in der sie leben, ein buntes Gesicht verleihen. “Einfach etwas machen hier”, sagen sie. Englischkurse organisieren, Gedichte vorlesen, Musiker einladen, mit Dänen oder Amerikanern diskutieren. Auch einmal einen Park vom Gestrüpp befreien oder Trafohäuschen und alte Kinowände bemalen. Manchmal aber kümmern sie sich auch darum, dass all die, die in ihre Stadt kommen wollen, warmes Wasser haben. Licht. Eine funktionierende Heizung. Es ist ein Teil ihres Projekts “Deine Gegend”: andere Ukrainer in Slowjansk empfangen und ihnen die Stadt zeigen, die Geschichte erklären. “Sich verbinden”, nennen sie das. Ankämpfen gegen das “Trauma, dass man vielleicht seine Heimat verlieren könnte”. So erklärt es Alexej Owtschinnikow, der Initiator des Projekts. Vor mehr als einem Jahr hatte er Teplizja ins Leben gerufen. Vorbilder waren ähnliche Häuser in der Ukraine. Mittlerweile hat der Tänzer und Tanzschulenbesitzer Teplizja Jewgeni, Sliwa und all den anderen überlassen, macht andere Projekte, die sich ebenfalls mit sozialem Engagement der Stadtbewohner befassen. Er habe ein Fundament schaffen wollen, um die Menschen bewusst zum Denken zu bewegen. “Es geht um Werte. Um europäische Werte, auch hier bei uns, die wir manchmal im Dunkeln sitzen. Dafür sind Tausende Menschen auf den Kiewer Maidan gegangen.”

Der Maidan, dieser Unabhängigkeitsplatz mitten in Kiew. Schon 2004 hatten sich Zehntausende hier versammelt, um gegen Wahlfälschungen zu demonstrieren: die Orange Revolution, die nur bedingt etwas änderte im Land. 2013 standen die Menschen wieder hier. Nach Europa wollten sie. Der damalige Präsident Viktor Janukowitsch wollte es nicht. Der Staat reagierte harsch, Schüsse fielen. Seitdem taumelt das Land auf der Suche nach sich selbst. Wer sind wir, wer wollen wir sein, wie wollen wir leben, welche Art der Geschichte, der Erinnerung pflegen? Der Maidan hat alles verändert in der Ukraine. Er ist eine Zäsur, die sich in jedem Gespräch widerspiegelt. “Vor dem Maidan” sagen die Menschen dann, “nach dem Maidan”.

Es war der Maidan, der solche Projekte wie Teplizja erst ermöglichte. Oder Projekte wie die Kulturfarbik “Isolazija”, “Isolation”, aus Donezk heimatlos machte. Bewaffnete der selbsternannten “Volksrepublik Donezk” hatten das Kulturzentrum vor zwei Jahren überfallen. Seitdem versucht Isolazija, in der Kiewer Kulturszene Fuß zu fassen. “Wir sind zu Nomaden geworden, müssen uns umorientieren. Einfach ist es nicht”, sagt Olexander Winogradow von Isolazija.

Der Maidan war es auch, der Schriftsteller, Musiker und Regisseure an die Front gehen ließ und so manchen gebrochen in den Alltag entließ. Es war der Maidan, der auch die Kunst im Land zu einer “sozialen Bewegung” verwandelte, wie es die Kiewer Kulturmanagerin Olha Hontschar sagt. “Es nervt, dass unsere Regierung ständig sagt, wir müssten erst den Krieg gewinnen und uns danach um alles andere kümmern. Nein, um Menschen müssen wir uns schon jetzt kümmern, ihnen einen Sinn geben, uns hinsetzen und fragen: Was wird einmal hier sein?”, sagt sie im Ukraine-Haus mitten in Kiew, knapp 700 Kilometer von Slowjansk entfernt. Der Maidan machte die Kunst politisch. “Denn jede Aussage zur Ukraine ist heute politisch”, sagt die Kiewer Journalistin Vira Baldynjuk. Selbst das moderne Museum des Oligarchen Viktor Pintschuk in Kiew, bereits seit Jahren eine angesagte Plattform für zeitgenössische Kunst, bringt Ausstellungen wie die mit dem Namen “Schuld”. Junge ukrainische Künstler gehen hier der jüngsten Geschichte ihres Landes nach. Mal steht da eine Flagge, gemacht aus einem zerschossenen Lieferwagen, mal sollen Bilder mit einem dunklen Fleck mittendrin daran erinnern, dass stets nur ein Ausschnitt aus der Realität möglich ist. Es sind leise Werke, die einen beklommen zurücklassen.

Seit dem Maidan gewinnt auch die ukrainische Volkskunst an Zulauf, selbst in Slowjansk sind Projekte wie das Café Prostokava von Julia Gorjun möglich. Hier gibt es nicht nur Kaffee, hier verkauft sie auch Selbstgebasteltes, Selbstgestaltetes. Finanziert wurde ihre Idee zum Teil von den Vereinten Nationen. Der Dokumentarfilm und die Dokumentarfotografie sind erst mit dem Maidan entstanden. Zeitgenössische Kunst boomt geradezu. “Früher hatte kaum ein Ukrainer Verständnis dafür, dass es nötig ist, über diese Kunst nachzudenken oder sich mit der Gestaltung öffentlicher Räume zu beschäftigten. Jetzt gibt es alles”, sagt Journalistin Baldynjuk.

Alles, wenn es sich um den Maidan und die Folgen dreht. Das gefällt nicht allen. “Wenn man sagt, man komme aus der Ukraine, erwarten alle, dass man sich mit seiner Kunst zur ukrainischen Politik äußert”, sagt der Streetartkünstler Apl315 aus Odessa. Unpolitisches funktioniere nicht mehr. Er fährt dennoch in den Osten des Landes, beteiligt sich an Projekten in den frontnahen Städten. “Für Streetart sind viele bei uns nicht bereit, man muss die Leute erstmal bilden. Denn in Kiew gibt es vieles. Aber woanders?”

In Slowjansk gibt es “Teplizja” und so viel Hoffnung in den Gesichtern ihrer jungen Betreiber.

Published 12 December 2016
Original in English
First published by Frankfurter Rundschau, 1 December 2016

Contributed by Inna Hartwich © Inna Hartwich / Frankfurter Rundschau / Eurozine

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