Brexit-Chaos: Die Krise, die keine sein darf

Es sind erstaunliche Szenen, die derzeit aus Großbritannien in die Welt gesendet werden. Szenen, die man sonst nicht aus europäischen Ländern gewohnt ist, schon gar nicht aus dem eigentlich wohlhabenden England: aufgebrachte Autofahrer, die sich um das knapper werdende Benzin schlagen, leere Regale in vielen Supermärkten, Panik und Hamsterkäufe. Und ein Ende scheint nicht in Sicht. Selbst seriöse britische Zeitungen geben jetzt Tipps, wie und wo man den Truthahn für Weihnachten schon besser jetzt kaufen und einfrieren sollte. Auf den Feldern verrottet das Gemüse und Nachbarn schließen sich in WhatsApp-Gruppen zusammen, um sich gegenseitig über noch geöffnete Tankstellen zu informieren. Es hängt ein kalter Hauch von alter Sowjetunion über der Insel, bemerkte ein Kolumnist der „Financial Times“ kürzlich.1 Und der Winter hat noch nicht einmal begonnen.

Seit der lange Schatten der Corona-Pandemie zu weichen beginnt, ist es unübersehbar geworden: Großbritannien befindet sich in einer eskalierenden nationalen Krise. Im ganzen Land fehlen Arbeitskräfte, die sonst die Grundversorgung auf der Insel sichergestellt haben. Die Lage ist so ernst, dass die Regierung jetzt sogar die Armee in Bereitschaft versetzt hat, während der Justizminister offen darüber spekuliert, ob man Häftlinge aus Gefängnissen in die brachliegenden Schlachthäuser schickt, um die drohende Notschlachtung von 150 000 Schweinen zu verhindern.

Die Gründe dafür sind komplex, aber ein Faktor spielt auf jeder Ebene eine entscheidende Rolle: der Brexit, mit dessen Inkrafttreten der freie Zufluss von Arbeitskräften aus der EU seit Anfang des Jahres jäh beendet wurde. Das ist eigentlich wenig überraschend, der ehemalige konservative Premier John Major hatte schon 2016 vor dramatischen Engpässen gewarnt, sollte es zu einem harten Brexit kommen. Überraschend auf den ersten Blick ist eigentlich nur eins: Die jetzige britische Regierung hat beschlossen, in diesem Zusammenhang nicht mehr über den Brexit zu sprechen, und alle machen mit.

Als Boris Johnson Anfang Oktober in Manchester auf dem alljährlichen Parteitag der Tories seine Abschlussrede hielt, kam das Wort „Brexit“ in seiner 45minütigen Ansprache so wenig vor wie die chaotischen Verhältnisse draußen im Land. Einige Tage zuvor hatte seine Regierung schlicht geleugnet, dass es eine Krise gibt. Als das nicht mehr ging, erklärte der Umweltminister wenig später vor laufenden Kameras, das ganze habe „absolut nichts mit unserem EU-Austritt zu tun. Im Gegenteil, wir haben die Kontrolle über unsere Grenzen zurückerobert, und zur Not können wir sonst ja Sondervisa für EU-Bürger erteilen.“2 Das Interessanteste an dieser Aussage: Sie ist in sich völlig widersprüchlich. Wenn die Krise nichts mit dem Brexit zu tun hat, wie können dann Sondervisa für EU-Bürger die Lösung sein? Aber mit solch logischen Feinheiten oder gar Fakten gibt sich die Johnson-Regierung schon lange nicht mehr ab.3 Im Gegenteil: Bereits am nächsten Tag gab es ein neues Narrativ. Die Versorgungskrise sei kein britisches, sondern ein globales Phänomen, überall in Europa herrschten ähnliche Verhältnisse. Im Netz kursieren als vermeintlicher Beleg Fotos von leeren Regalen aus einem Brüsseler Supermarkt. Eine bewusste Irreführung, denn in besagtem Supermarkt wurde an diesem Tag gestreikt. Die Strategie aber verfehlte ihre Wirkung nicht. Als Boris Johnson zu Beginn des Parteitags interviewt wurde, wagte nicht einer der britischen Reporter, das Wort Brexit auch nur in den Mund zu nehmen.

Johnsons politisches Hütchenspiel

Das verzweifelte Bemühen, das B-Wort aus dem nationalen Diskurs zu verbannen, hat zunächst einen einfachen Grund: dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Der Brexit wurde von Johnson und den Tories, die sein jetziges Kabinett dominieren, schließlich als ein kurzes schönes Abenteuer mit ausschließlich positiven Folgen verkauft. Nachdem das für Johnson eigentliche Ziel dabei erreicht war, nämlich ihn selbst an die Macht zu bringen, wurde das ganze Unternehmen konsequenterweise für „erledigt“ erklärt. Ministerien wurden sogar offiziell angewiesen, das B-Wort nicht mehr zu benutzen, es allenfalls im historischen Kontext als etwas zu erwähnen, das stattgefunden habe.4 Dass eine so folgenschwere historische Entscheidung wie der Brexit aber kein isoliertes Ereignis, sondern immer auch ein Prozess mit – in diesem Fall überwiegend negativen – Folgen ist, passt nicht zu diesem Narrativ und muss deshalb durch ständig neue Schlagzeilen konsequent geleugnet und verwischt werden.

Aus dieser Not hat die Johnson-Regierung nun eine Tugend gemacht: Je deutlicher die Folgen des Brexits zu Tage treten, umso chaotischer und in sich widersprüchlicher werden seine Botschaften. Das verwirrt das Volk, erschöpft die Journalisten und lässt die Opposition hilflos um sich selbst drehen. Ein politischer Hütchenspielertrick, wenn man so will, bei dem bislang immer die Regierung gewinnt, deren Manöver so oft und so schnell die Richtung wechseln, dass alle anderen den Überblick verlieren.

Der vorläufige Höhepunkt dieses Spiels: die schon erwähnte Parteitagsrede Johnsons in Manchester. Strahlend gut gelaunt präsentierte er dort eine erneute 180-Grad-Wende. Nun ist die Versorgungskrise plötzlich das, wofür die Wähler sich doch entschieden hätten, als sie ihn 2019 zum Premierminister wählten. Das Ergebnis einer guten Sache, nämlich dem Ende der Massenimmigration aus der EU. Ein Irrweg der Geschichte war das, erklärt Johnson nun, der es der britischen Wirtschaft in der Vergangenheit erlaubt habe, die eigenen Landsleute um höhere Löhne zu bringen. Dank der Krise aber stünden jetzt Jobs und mehr Geld für alle unmittelbar bevor, da die Wirtschaft nicht mehr einfach mit billigen Arbeitskräften aus Osteuropa davonkäme. Der neue Gegner in seiner Brexit-Revolution ist plötzlich die eigene, britische Wirtschaft.

In der Realität war zuvor der Versuch gescheitert, die Engpässe am Arbeitsmarkt mit Sondervisa für EU-Bürger zu lösen. 5000 zeitlich begrenzte Visa für LKW-Fahrer waren großzügig ausgegeben worden, am Ende bewarben sich ganze 27, wie der Wirtschaftsminister in der BBC irritiert zugeben musste.5 Johnson, in die Ecke getrieben, attackierte deshalb in Manchester seine eigenen Fußsoldaten, all die Bauern, Gastwirte und Unternehmer, die sich offenbar nicht revolutionär genug gezeigt haben. Schweinefarmern, von denen viele 2016 für den Brexit gestimmt hatten, wird nun erklärt, die Notschlachtung von 150 000 Schweinen sei eine notwendige Anpassung an die neue Zeit. Andere werden öffentlich an den Pranger gestellt: Simon Wolfson etwa, der Chef der Textilhandelsgruppe „Next“ und Brexiteer der ersten Stunde, wurde von Johnson vor laufenden Kameras beschimpft. Zuvor hatte er höflich darauf hingewiesen, dass es einfach nicht genug Briten gebe, die die dringend benötigten Jobs machen wollten, und dass höhere Löhne bestenfalls zu mehr Inflation führen, aber nicht die durch den Brexit entstandenen akuten Probleme lösen können.6 Eine Analyse, die von führenden Wirtschaftsinstituten quer durchs politische Spektrum geteilt wird, das rechtsliberale Adam Smith Institute bezeichnete Johnsons Rede gar als wirtschaftspolitischen Analphabetismus.7 Denn die Idee, dass ein plötzliches Ende der Immigration automatisch zu höherer Produktivität und damit höheren Löhnen führen könnte, ist ein Mythos, der selbst bei bloß oberflächlicher Begegnung mit der Realität schnell verpufft, wie man derzeit in Großbritannien besichtigen kann.8

Boris Johnson scheint das alles weiter gleichgültig zu sein, die chronischen Probleme der britischen Wirtschaft sind für ihn nichts weiter als Kollateralschäden seiner das Land spaltenden Identitätspolitik, die vor allem auf die ehemaligen Labour-Wähler gerichtet ist, die ihm bei der Wahl 2019 eine solide Mehrheit verschafft hatten. Solange er das durch seine Post-Brexit Politik wesentlich mit ausgelöste Absinken des Lebensstandards gerade dieser Schichten dauerhaft auf die Wirtschaft, Immigranten oder einfach weiterhin auf die EU schieben kann, dürfte das politische Vakuum im Herzen seiner Regierung diesen Wählern noch einige Zeit verborgen bleiben.

Land ohne Opposition

Womit sich die Frage aufdrängt, wo ist eigentlich die Opposition? Die Antwort ist so einfach wie erschreckend. Nirgendwo. Seit Beginn der Krise glänzt Labour durch beinahe vollständige Abwesenheit. Und das hat einen zentralen Grund: Für Labour-Chef Keir Starmer und sein Schattenkabinett ist das B-Wort nämlich genauso ein Tabu wie für die Tories. Als Starmer seiner Partei vor ein paar Wochen in Brighton in einer langen Grundsatzerklärung verkündete, wie er die nächste Wahl gegen die Tories gewinnen wolle, kam das Wort „Brexit“ in seiner immerhin anderthalb Stunden langen Rede bloß fünf Mal vor.

Im selben Stil erklärte die Labour-Abgeordnete Lisa Nandy jüngst in der BBC auf die Frage, der Brexit habe mit gegenwärtigen Krise nichts zu tun, das Thema Arbeitnehmerfreizügigkeit werde nicht wieder neu aufgemacht.9 Labour hat Angst und wird so zu Johnsons Komplizen: Man fürchtet, die 2019 zu den Tories konvertierten Wähler der sogenannten Red-Wall-Gebiete in Nord-England endgültig zu verlieren, und hat deshalb beschlossen, deren Entscheidung für den Brexit radikal zu akzeptieren. Eine Strategie, mit der sich Labour als Opposition selbst schachmatt setzt. Denn man muss kein Wirtschaftswissenschaftler sein, um zu verstehen, dass der von der Johnson-Regierung verhandelte harte Deal vor allem der Wirtschaft im Red Wall schaden wird. Eine Opposition aber, die sich nicht traut, das klar zu benennen, verstrickt sich in die populistische Rhetorik der Brexiteers und nimmt sich so jede Möglichkeit, die Fehler der Tories an ihrem Ursprung zu entlarven.

Den eigentlichen Schaden dabei hat der britische Wähler, egal auf welcher Seite des politischen Spektrums er sich befindet. Denn der von ihm gewählte Abgeordnete ist damit kein Experte mehr, der sich in komplexe Themen einarbeitet, um dem Wähler eine Entscheidungsgrundlage auf Faktenbasis anzubieten. Im neuen populistischen Großbritannien ist jetzt auch die Opposition nur noch Sprachrohr eines vermeintlichen „Willen des Volkes“. Die Bevölkerung selbst bleibt ohne Kompass im Nebel hohler Rhetorik zurück.

Ohne das Korrektiv einer funktionierenden Opposition aber entgleitet auch der Regierung die Realität immer schneller. Gefangen zwischen seinem eigenen Brexit-Mythos und den sich zuspitzenden realen Problemen kann Johnson jetzt nur hoffen, dass die Krise verschwindet, wenn er lange genug die Augen schließt und ganz fest daran glaubt. Andernfalls wird er das Rad der Verwirrung eben wieder neu und einfach noch schneller drehen.

Eine Opposition, die dabei zuschaut, und es nicht wagt, das Problem beim Namen zu nennen, wird daran mitschuldig wie ein Ko-Alkoholiker, der sich in die wahnhafte Welt seines suchtkranken Partners einordnet. Eine echte Alternative zu der derzeitigen Krise kann Labour dem Land auf dieser Basis nicht anbieten, denn die durch den EU-Austritt entstandenen Krisen Großbritanniens sind unmöglich zu lösen, solange man den Brexit als Ursache leugnet.

Auf diese Weise hat auch die Johnson-Regierung sich selbst von Beginn an jede Chance für einen denkbaren Neustart nach dem Austritt verstellt, etwa zu einer umfassenden Neuordnung des Arbeitsmarkts, die die Probleme des Brexits antizipiert und abgemildert hätte. Diese mühsame Detailarbeit aber wurde ganz bewusst nicht rechtzeitig angegangen, weil sie dem Narrativ des Brexits als einmaligem Befreiungsschlag widersprach, mit dem alles plötzlich magisch besser werden sollte. Ist dieser Mythos erst einmal zerstört, dürfte nicht viel übrig bleiben von Johnsons Macht. Dass Labour das nicht zu sehen vermag, lässt ihr hilfloses Strampeln in der Populismusfalle umso tragischer erscheinen.

Der „Guardian“-Kolumnist Jonathan Freedland erinnerte in diesem Zusammenhang kürzlich an Harry Potter.10 Auch hier darf ein Wort auf keinen Fall ausgesprochen werden, der Name des Ur-Bösen Lord Voldemort. Ganz am Ende gelingt es Harry Potter dann aber doch noch, ihn zu besiegen – allerdings erst, nachdem er es gewagt hat, Voldemorts Namen auszusprechen. Es kann gut sein, dass die Briten noch ganz am Anfang ihrer langen Brexit-Saga stehen und erst eine neue Generation von Politikern kommen muss, die sich der verfahrenen Lage mutig stellen wird.

Bis dahin überrascht Johnson sein Volk einfach jeden Tag weiter mit neuen Täuschungsmanövern. Nur wenige Tage nach dem Parteitag enthüllte er ein neues Weltraumprojekt mit fulminanter Schlagzeile: Großbritannien werde demnächst „Galactic Britain“. Von der Küste Cornwalls aus sollen bereits im nächsten Jahr Raketen ins All geschossen werden. So stand es jedenfalls in der Presseerklärung.

Und so bleiben die Briten vorerst weiter gefangen in dieser fantastischen Zwischenwelt des Boris Johnson, in der der Brexit offiziell erledigt ist, während die krisenhafte Wirklichkeit weiter eskaliert. Anders als im Weltraum aber ist der Brexit auf der Erde ein massives Problem. Irgendwann wird auch Johnson den Gesetzen der Schwerkraft nicht mehr entkommen. Die Frage ist eigentlich nur noch, wie hart die Landung am Ende für die britische Bevölkerung werden wird.

George Eustice in den „BBC News“, 27.9.2021.

Vgl. Annette Dittert, Die Politik der Lüge, in: „Blätter“, 7/2021, S. 89-98.

Don’t mention the B’word, in: „Daily Mail“, 13.9.2020.

Kwasi Karteng in der Andrew Marr Show, BBC, 10.10.2021.

Andrew Woodcock, Pro-Brexit Tory peer hits back at Boris Johnson’s attempt to blame business for labour shortages, www.independent.co.uk, 4.10.2021.

Heather Stewart und Julia Kollewe, „Economically illiterate“: PMs Tory speech gets frosty reception, in: „The Guardian“, 6.10.2021.

Jonathan Portes, New Evidence on the economics of Immigration to the UK, Migration Advisory Committee, Oktober 2018.

Im Interview mit Emily Maitlis, „BBC Newsnight“, 29.9.2021.

Jonathan Freedland, The cause of our food and petrol shortages is Brexit – yet no one dares name it, in: „The Guardian“, 24.9.2021.

Published 4 November 2021
Original in German
First published by Blätter für deutsche und internationale Politik 11/2021 (German version) / Eurozine (English version)

Contributed by Blätter für deutsche und internationale Politik © Annette Dittert / Blätter für deutsche und internationale Politik

PDF/PRINT

Read in: EN / DE

Published in

Share article

Newsletter

Subscribe to know what’s worth thinking about.

Discussion