Bosniens Scham und Schande

Zensur ist kein Mittel, um den Opfern der Massenvergewaltigungen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen

Die Hollywood-Schauspielerin Angelina Jolie ist in Bosnien daran gehindert worden, ihren ersten Spielfilm zu drehen, der die Massenvergewaltigung von Frauen im Bosnienkrieg zum Thema hat. Auch wenn der Entscheid mittlerweile revidiert wurde: Zensur hilft nicht, die Ereignisse angemessen zu verarbeiten, im Gegenteil.

Im Oktober warteten die bosnischen Medien mit einer sensationellen Neuigkeit auf: Der Hollywood-Star Angelina Jolie plane, einen Film über Bosnien zu drehen! Es handle sich um eine Liebesgeschichte, die auf bosnischen Schauplätzen mit lokalen Schauspielern in Szene gesetzt werde.

Doch wurde aus der Sensation schon bald ein Skandal, denn der bosnische Kulturminister entzog Jolie und ihrer Filmcrew die Erlaubnis, auf dem Territorium von Bosnien-Herzegowina zu drehen. Der Kulturminister Gavrilo Grahovac sagte, er habe seinen Entscheid auf der Grundlage von Beschwerden gefällt, welche die Vereinigung “Frauen als Kriegsopfer” zugunsten der weiblichen Opfer von Massenvergewaltigungen während des Bosnienkrieges vorgebracht habe.

Absurder Gedanke

Es ist schwer zu sagen, was der grössere Skandal war: das Verbot der Dreharbeiten oder Grahovacs Bemerkungen. Er bedaure, sagte dieser nämlich, dass er den Film nicht ganz verbieten könne aufgrund der Beleidigung, die er gegenüber der grossen Zahl von Opfern darstelle (man vermutet, dass während des Krieges zwischen 20 000 und 50 000 Bosnierinnen vergewaltigt wurden). Dabei hatte noch niemand das Skript gelesen – weder Grahovac noch die Frauen, die Einspruch erhoben hatten. Angeblich soll der Film davon handeln, dass ein Opfer sich in seinen Vergewaltiger verliebt.

Bei allen Sympathien für die Opfer und ihre Gefühle kann es für diesen Vorgang nur einen Namen geben: Zensur. Welches Recht, abgesehen vom moralischen Anspruch, können die Frauen, die den Film gebannt sehen möchten, dafür in Anspruch nehmen? Lässt sich ein Ruf nach Zensur rechtfertigen, wenn er nicht darauf gründet, dass jemand gegen das Gesetz verstösst? Doch selbst in einem solchen Fall ist nicht der Kulturminister, sondern die Staatsanwaltschaft gefordert. Man stelle sich vor, Vertreter der Überlebenden des Holocausts würden einen Kulturminister bedrängen, einen Film zu verbieten, in dem ein jüdisches Opfer sich in seinen deutschen Peiniger verliebt. Schon der Gedanke daran ist absurd.

Es gibt keinen Zweifel, dass die Massenvergewaltigung von bosnischen Frauen ein extrem heikles Thema darstellt. Das bedeutet aber keineswegs, dass es nicht zur Darstellung gebracht werden darf. Jasmila Zbanics Film “Esmas Geheimnis – Grbavica”, der Gewinner des Goldenen Bären am Berlin-Filmfestival 2006, erzählte in brillanter Weise die Geschichte einer Frau, die gezwungen war, ihrer Teenager-Tochter zu sagen, dass sie das Kind einer solchen Vergewaltigung sei. Das Problem im Falle Jolie besteht darin, dass es Bosniaken, wie viele andere Opfer, nicht gerne sehen, wenn Fremde sich in “ihren Krieg” einmischen. Es ist nichts Neues, dass Opfer sich selbst als die kompetentesten Richter in der Sache ihres eigenen Leidens empfinden – wenn nicht im künstlerischen, so doch im moralischen Sinn. Dementsprechend werden Aussenstehende von ihnen nicht selten beschuldigt, ihre menschliche Tragödie um des Profites willen ausbeuten zu wollen.

Unglücklicherweise haben sich viele künstlerische Versuche als schwach oder unzulänglich erwiesen, das Unglück der Bosnier in adäquater Weise darzustellen. Dass jemand tragische Erfahrungen besitzt, macht ihn noch lange nicht dafür geeignet, für diese einen künstlerischen Ausdruck zu finden. Im Gegenteil zeigen Studien über die Psychologie von Opfern, dass diese selten in der Lage sind, zu beschreiben, was sie erlitten haben – geschweige in Form von Kunst. Es ist durchaus möglich, dass Jolies Regiedébut einen miserablen, unsensiblen Film hervorbringt. Möglich ist aber auch das Gegenteil. Der Ruf nach einem Zensor bei einem Film, der noch nicht einmal gedreht ist, ergibt keinerlei Sinn.

Vergessen wir nicht eine wichtige Tatsache im Zusammenhang mit den Massenvergewaltigungen: Nur weil vergewaltigte Frauen bereit waren, mit Journalisten, Behörden, internationalen humanitären Organisationen, Untersuchern und Richtern (in Den Haag) zu sprechen und weil die Vergewaltigungen in Bosnien und Rwanda dadurch internationale Beachtung fanden, wurden sie 2002 als Waffen “ethnischer Säuberung” und Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt.

Um die Sache noch etwas komplizierter zu machen: Das Hauptargument der Frauen – dass sie sich verletzt fühlten durch die Idee, dass sich eine von ihnen jemals in einen ihrer Vergewaltiger und Folterer verlieben könnte – scheint mir mehr als problematisch zu sein. Warum? Weil es beweist, dass die Täter für sie in bleibender Weise Monster und Tiere darstellen – Zuschreibungen, die oft für Kriegsverbrecher verwendet werden. Um die Frauen zu vergewaltigen (oder zu foltern oder zu töten), mussten die Täter sie zuerst degradieren, ihnen die individuellen Züge aberkennen und sie zu Nichtmenschen stilisieren, zu “Abfall”, wie die Opfer oft genannt werden. Indem sie nach denselben Mechanismen den Tätern jede Humanität absprechen, stellen die Opfer mit ihren Peinigern aber das Gleiche an, was die Peiniger mit ihnen taten.

Späte Anerkennung

Ich verlange nicht, dass über die Opfer oder die Vergewaltigungen der Mantel des Vergessens ausgebreitet werden soll – das ist eine schwierige Sache. Wie etwas zu vergeben, ist etwas zu vergessen ein sehr individueller Akt. Die Entmenschlichung der Täter trägt dazu bei, das Kernproblem misszuverstehen. Wir alle tragen in uns die Fähigkeit zum Guten wie zum Bösen, und wir können nicht wissen, auf welche Seite das Pendel in Extremsituationen ausschlägt. Das ist eine sehr unangenehme Eigenart des Menschen. So paradox sich dies anhören mag – die Entmenschlichung der Täter kommt einer Rechtfertigung ihrer Verbrechen gleich: Sie sind dafür nicht verantwortlich, weil sie keine Menschen sind, sondern bloss Tiere.

Hinzu kommt ein anderes, schwerwiegendes Problem für Frauen, die im Krieg vergewaltigt wurden – das Problem der Demütigung, das nicht Angelina Jolie über sie gebracht hat, sondern ihre eigene Gemeinschaft. Für die Vergewaltigungsopfer war es nicht leicht, ins normale Leben zurückzukehren – noch bis vor kurzem konnten sie für sich nicht einmal den rechtlichen Status als Kriegsopfer in Anspruch nehmen. Das bedeutete, dass sie weder Entschädigungszahlungen noch andere soziale Zuwendungen erhielten, was die “Schande”, die ihnen auferlegt war, noch vergrösserte. Der Skandal, dass ihnen das Recht auf die Anerkennung als Opfer versagt blieb, wurde ruchbar mit der Veröffentlichung von Zbanics Film, der von einer internationalen Petition begleitet war. In der Folge wurde ihr rechtlicher Status endlich geändert (ausser in der Serbischen Republik).

Wäre es nicht gescheiter, sich um die realen Probleme und Frustrationen vergewaltigter Frauen in Bosnien zu kümmern, als neue Probleme zu erfinden? Sie leiden – unverschuldet – weit mehr an der Ausgrenzung und Zurückweisung in ihrer eigenen Gemeinschaft als durch die mutmassliche Lovestory eines neu regieführenden Hollywood-Stars.

Die Debatte in Bosnien über den Zensurentscheid des Ministers dauerte einen Monat. Als der abschlägige Bescheid wieder rückgängig gemacht wurde, war es zu spät. Angelina Jolie hatte in der Zwischenzeit entschieden, ihren Film hauptsächlich in Ungarn zu drehen.

Published 6 December 2010
Original in English
Translated by Andreas Breitenstein
First published by Neue Zürcher Zeitung 3.12.2010 (German version); Eurozine (English version)

© Slavenka Drakulic / Neue Zürcher Zeitung / Eurozine

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