Seit den 1980er Jahren können drei Wellen feministischer Debatten zu Körper und Geschlecht im Kontext von Islam und Türkei identifiziert werden. In jeder dieser Debatten wird der Körper von Frauen als Austragungsort von sozialen Differenzen und Macht in unterschiedlichen Kontexten und in Auseinandersetzung mit verschiedenen politischen Herausforderungen diskutiert. Die ersten feministischen Beiträge zu ‘Körpersprachen’ kamen in den 1980er Jahren aus der Sozialanthropologie und gaben Einblick in die lokalen, meist dörflichen Interpretationen von Körpersubstanzen. Samen, Blut und Milch wurden in diesen frühen feministischen Arbeiten als Ausgangspunkt von lokalen Zeugungsvorstellungen gesehen, die zu bestimmten Auffassungen von Männlichkeit und Weiblichkeit und schließlich zum islamisch geprägten Konzept der Reinheit (türk. temizlik) sowie zum viel diskutierten Komplex um Ehre führen. Interpretationen von Milch, Samen und Blut sind aber nicht nur für lokale Vorstellungen in der ländlichen Türkei der 1980er Jahre relevant, sondern finden sich auch im Koran und damit in den Auslegungen islamischer Gelehrter zu gegenwärtig brisanten Fragen wie Abtreibung und künstlicher Befruchtung.
Die nächste Welle feministischer Auseinandersetzungen mit Körper und Geschlecht in der Türkei erfolgte im Zuge der zivilrechtlichen und strafrechtlichen Reformen 2002 beziehungsweise 2005, die umfangreiche Novellen zur rechtlichen Stellung der Frau beinhalteten. Diese Debatte zielte weniger auf symbolische Interpretationen, sondern vor allem auf Analysen von ‘Gewalt im Namen der Ehre’, die nach Meinung der Feministinnen nach wie vor nicht zufriedenstellend bekämpft wird. Diese Arbeiten fragten nicht danach, wie Ehrvorstellungen in die Körper eingeschrieben werden, sondern nach den Wirkungen von ‘Ehre’ – und das wiederum nicht nur im Geschlechterverhältnis, sondern auch im Modernisierungsdiskurs der Türkei. Die hier formulierten feministischen Positionen wiesen hegemoniale politische Diskurse, wonach ‘Tradition’ für Gewalt verantwortlich und das ‘Andere’ der Modernisierung sei, als unzulässige Vereinfachungen zurück. Sie zeigten im Gegenteil die Bedeutung von ‘modernen’ staatlichen Interventionen für lokale Macht- und Geschlechterverhältnisse und somit die Komplizenschaft des Staates bei der Aufrechterhaltung der angeblich auf ‘Tradition’ beruhenden Gewalt. Während die feministische Theorie in dieser Phase mit der Dekonstruktion von Diskursen beschäftigt war, bekämpften zeitgenössische Aktivistinnen in der Türkei Gewalt im Namen der Ehre mit kultursensiblen Methoden und dem Ziel der Transformation von Ehrkonzepten.
Because such a concept of honor is so embedded in Turkish culture, and cultural variables are what we try to understand, use, and hopefully transform when interfering in these cases, we do not use a human rights framework when we intervene preventively at the local level. When talking to families, a cultural discourse proves to be very effective.
Eine dritte Generation von Arbeiten zu Geschlecht, Körper und Macht im Kontext von Islam und Türkei findet sich in den derzeit in Europa geführten Debatten um ‘Ehrenmorde’ und ‘Zwangsheirat’. In dieser Debatte wird ‘Gewalt im Namen der Ehre’ widersprüchlich diskutiert. Auch wenn der Kampf gegen Gewalt an Frauen für alle Beteiligten das Ziel ist, besteht Uneinigkeit über die Ursachen für diese Gewalt und vor allem über die möglichen Maßnahmen, um sie zu verhindern. In dieser Debatte stellt sich zentral die Frage, inwiefern Gewalt gegen Frauen selbst durch ‘Kultur’ legitimiert wird und ob Frauen und Mädchen aus minorisierten Gruppen ‘im Namen der Kultur’ gerade von multikulturellen Feministinnen im Stich gelassen werden. Liberale Feministinnen betonen deshalb die Gefahren für Frauen durch multikulturalistische Politik, wenn männliche Dominanz nicht gleichzeitig bekämpft und die Transformation der Kulturen nicht gefordert wird. Feministinnen, die postkoloniale Kritik oder Diversität zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen nehmen, versuchen hingegen, mit kultursensiblen (im Gegensatz zu kulturalistischen) Ansätzen die Abwertung von ethnischen Minderheiten bei der Bekämpfung von Gewalt an Frauen zu vermeiden. Während WissenschaftlerInnen noch um Antworten ringen, wird in politischen und medialen Diskursen immer lauter der Rückzug vom Multikulturalismus – nicht zuletzt ‘im Namen der Geschlechtergleichheit’ – gefordert.
Dieser Bezug zur Bedeutung von ‘Kultur’ oder ‘Tradition’ im Kampf gegen Gewalt an Frauen in den letzten beiden Debatten führt zurück zu den sozialanthropologischen Beiträgen zu Körper und Geschlechterdifferenz und damit zur Frage, welche Bedeutung Kultur oder kulturelle Interpretationen von Körpersubstanzen im Kampf gegen Gewalt an Frauen einnehmen können. Da symbolische Interpretationen von Körpersubstanzen Männlichkeit und Weiblichkeit wie auch Ehrkonzepte hervorbringen und ‘Kultur’ in der Folge für Geschlechterrollen verantwortlich gemacht wird, sollen die Potentiale und Probleme der sozialanthropologischen Forschungen zu Körper für Debatten um Gewalt gegen Frauen ausgelotet werden. Welche Rolle spielen Körpersubstanzen für das Geschlechterverhältnis in der ländlichen Türkei? Und wenn Körper für Unterschiede zwischen den Geschlechtern verantwortlich gemacht werden, determiniert diese Wahrnehmung von Differenz als natürlich oder gottgewollt das Verhalten von Mitgliedern dieser Gruppe? Wie können diese Erkenntnisse über traditionsbedingte Gewalt in andere Kontexte übersetzt werden? Wird Kultur ‘der Anderen’ (muslimisch-türkischen Minderheiten) zur Bedrohung von Egalität zwischen Männern und Frauen in Europa? Oder werden im Gegenteil Frauen mit türkischem Hintergrund (unabhängig von ihrer sozialen Position, ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrer Bildung und ihrem Wissen über Interpretationen von Körper und Geschlecht in der Türkei) selbst zum Symbol für Unterdrückung und ihre Männer zu Tätern in sogenannten ‘Kulturdelikten’? Verlangt dann kulturell legitimierte Gewalt gegen Frauen und Mädchen einer minorisierten Gruppe eindeutig nach Interventionen von der angeblich liberaleren und geschlechteregalitäreren Umgebung? Oder braucht die Debatte nicht im Gegenteil einen dekonstruktivistischen Zugang, der Bilder von ‘Tätermännern’ und ‘Opferfrauen’ auflöst? Delegitimiert die Dekonstruktion von hegemonialen Diskursen Gewalt gegen Frauen? Ist die feministische Antwort auf diese Herausforderungen die Veränderung oder Abschaffung der ‘Kultur’, oder laufen wir dann Gefahr, das (kulturelle) Baby mit dem (kulturalistischen) Badewasser auszuschütten? Und schließlich, gibt es einen Multikulturalismus, der ohne Kulturalismus, Determinismus und Generalisierungen auskommt?
Ich werde die Fragen der türkischen Debatte zum Modernisierungsdiskurs und der europäischen Debatte zum Multikulturalismus mit Hilfe der früheren symboltheoretischen Beiträge zu Körpersubstanzen, Ehre und Macht in der Türkei problematisieren. Deshalb werde ich zuerst kulturelle Bedeutungen von Blut, Milch und Samen im Kontext islamischer und gewohnheitsrechtlicher Vorstellungen in der Türkei, insbesondere als Grundlage für ‘Gewalt im Namen der Ehre’ erörtern. Anschließend werde ich die problematischen Effekte dieser Gewaltdiskurse in der Türkei wie auch in Europa aufzeigen und den Rückzug vom Multikulturalismus als Lösungsansatz hinterfragen.
1. Zeugungsvorstellungen und die Ordnung der Dinge
Viele der ethnographischen Studien zu Körpersubstanzen zielen vor allem auf ein Verständnis von symbolischen Deutungen und deren sozialen Wirkungen auf Geschlechter- und Machtverhältnisse. Es geht dabei also um ein Verständnis der kulturellen Auslegungen von Körpersubstanzen und Körpergrenzen, entlang derer Gesellschaften Reinheit, Fruchtbarkeit und Anständigkeit wie auch Unordnung, Chaos oder Bedrohung identifizieren. Ich werde zuerst aufzeigen, zu welchen Ergebnissen die Ethnographien zu Körpersubstanzen in der Türkei mit Blick auf ihre Entsprechungen im Koran kommen. Anschließend will ich darlegen, welche problematische Rolle Kultur in diesen Debatten spielte und wie der Kulturbegriff in der Sozialanthropologie seither transformiert wurde. Ein Verständnis von Kultur als sozialer Praxis, relational, historisch gewachsen und stets in Veränderung begriffen, stellt dabei heute die dominante Position zum Kulturbegriff in der Sozialanthropologie dar. Diese Position bleibt jedoch im Vergleich zum meist essentialistischen Kulturbegriff in der Politik und im Alltag der Menschen oft schwach und unbeachtet.
1.1 Der Samen und das Feld: Interpretationen zu Zeugung und Verwandtschaft
Carol Delaney zeigt in ihrer Ethnographie “The Seed and the Soil”, dass Vorstellungen von Reproduktion einen symbolischen Schlüssel für das Verständnis von Geschlechterrollen, Verwandtschaft und sozialen wie räumlichen Grenzziehungen darstellen. Zeugung und Schwangerschaft sind demnach keine natürlichen Vorgänge, sondern kulturelle Interpretationen von menschlicher Reproduktion in Gestalt einer Metapher, die auch schon in früheren anthropologischen Arbeiten immer wieder als Samen-Feld-Theorie bezeichnet wurde. Samen (tohum) repräsentiert zeugendes männliches Sperma und das Feld (tarla) ist die Gebärmutter, in der weibliches ‘reines’ Blut (beziehungsweise weibliche Milch nach der Geburt) den lebenden oder beseelten (canli) Samen nährt. Die Samen-Feld-Theorie macht männliche und weibliche Anteile im prokreativen Prozess und in der Folge auch die lebenszyklischen Rollen von Männern und Frauen verständlich.
Den Männern wird somit das zeugende und den Frauen das nährende Prinzip zugeschrieben. Das Kind entsteht aus dem Samen, sagen die Menschen in dem von Delaney untersuchten Dorf in Zentralanatolien und meinen damit, dass Frauen zwar Aussehen, Größe und Gesundheit des Kindes beeinflussen, der Mann aber die Schöpfung nachahmt, indem er durch eine monogenetische Zeugung die autonome Identität oder die ‘Sorte’ des Kindes bestimmt. “If you plant wheat, you get wheat. If you plant barley, you get barley.” Die Monogenese der Männer wird durch die nährende Rolle der Frauen ergänzt, wodurch Zeugung durchaus als komplementärer Akt zu sehen ist. Trotzdem lässt sich aus der männlichen Schöpferkraft die Geschlechterhierarchie ableiten, die Frauen durch ihre nährende Rolle den zeugenden Männern symbolisch unterordnet.
The activities of both men and women are necessary and complementary though differentially valued; in short, it is not “reproduction” that is devalued in relation to “production” but the female role in relation to that of the male. Male and female roles are not only complementary, but of a completely different order. In the village, male and female roles/functions in the procreative process exemplify not only the division of labor but the division of the universe.
Die Körpersubstanzen der Eltern sind in den muslimisch geprägten, insbesondere ländlichen Kontexten der Türkei nicht nur für das Wesen, die Seele und das Aussehen des Kindes zuständig, sondern bestimmen auch die verwandtschaftlichen Verhältnisse und damit verbundene gesellschaftliche Erwartungen. Der zeugende Samen bestimmt die Zugehörigkeit zur Patrilinie (sülale). Diese Zugehörigkeit zu männlichen Verwandtschaftsgruppen kann von Männern durch den schöpferischen Akt der Zeugung und durch die Lebendigkeit des Spermas über die Generationen weitergegeben werden. hingegen erzeugt zwar ebenfalls – eine stärker auf Emotionen und Geborgenheit und weniger auf Kontrolle und Zugehörigkeit ausgerichtete – Verwandtschaft, kann diese jedoch nicht an die nächste Generation weitergeben.
Milch stellt nach der Samen-Feld-Theorie genauso wie Blut Verwandtschaft durch das Nähren des Kindes her. Stillen ist die logische Fortsetzung der nährenden Rolle von Frauen, die Kinder vor der Geburt mit ihrem Blut in der Gebärmutter, nach der Geburt mit ihrer Milch nähren. Die Versorgung mit Nahrung durch das gleiche Feld, ob in der Gebärmutter oder durch Muttermilch, erzeugt Feld-Verwandtschaft und damit auch Inzestgebote. Milchbeziehungen sind besonders affektiv, sie können aber ebenso wie Blutsverwandtschaft nicht weiter vererbt werden, noch begründen sie materielle Erbrechte. Milch prägt allerdings wie Blut den Körper und den Charakter eines Menschen. So werden etwa Ähnlichkeiten zwischen Milchmüttern und ihren Kindern berichtet. Wenn Menschen nicht vom gleichen Feld genährt wurden, unterschiedliches Geschlecht haben und keinem der expliziten Eheverbote im Koran unterliegen, können sie heiraten. Die Kreuz- und Parallelkusinenheirat widerspricht demnach keiner dieser Vorschriften und ermöglicht zudem, vertraute Personen in den Haushalt aufzunehmen. Kampagnen, die vor Erbkrankheiten aufgrund von Ehen zwischen Verwandten warnen, werden in der Türkei schon seit den 1970er Jahren durchgeführt, sind aber vor diesem Hintergrund für viele Menschen wenig überzeugend.
Die Samen-Feld-Metapher erklärt auch, warum Mädchen ebenso wie Gärten und Felder vor dem Eindringen von anderen Männern und deren ‘Samen’ beschützt werden müssen. Fruchtbarkeit ist der vorrangige Wunsch bei Hochzeiten, womit sowohl Reichtum an Kindern wie auch an Früchten gemeint ist. Bei Verunreinigungen von Mädchen (kız) und Land (toprak) müssen schlimmstenfalls sogar Blutfehden (kan davası) den Vorfall sühnen. Das Dorf, das Tal oder die Region müssen in ähnlicher Weise wie auch das Vaterland, das in der türkischen Sprache nun nachvollziehbar als Mutterland (anavatan) bezeichnet wird, beschützt werden. Lokale Auslegungen von Recht und Gerechtigkeit stützen sich sodann auf diese Körper, deren Flüssigkeiten angeblich selbst sprechen und nach Kontrolle verlangen, um die Ordnung der Gesellschaft nicht zu gefährden.
Die Samen-Feld-Theorie, die schon bei den Sumerern bekannt war und im gesamten Nahen Osten verbreitet ist, stellt nach Carol Delaney die Schlüsselsymbole der türkischen Dorfgesellschaft zur Verfügung, die deren Welt in zwei Prinzipien teilt: in das männlich-schöpfende und das weiblich-nährende Prinzip. Der Mann wird durch diese Anschauung zum Ebenbild Gottes. Nach Delaney scheinen diese Symbole das Geschlechterverhältnis, die Gesellschaft und auch den Kosmos zu determinieren. Delaney gibt jedoch keine Antworten auf die Frage des Umgangs von Männern und Frauen mit diesen Erwartungen und Zuschreibungen. Weder Zustimmung noch Ablehnung der Symbole, kein Aufbegehren, kein Gegenwille und keine durch den Körper angezeigte Unordnung im Umgang mit diesen Symbolen werden von ihr angesprochen. Abweichende Positionen verschwinden hinter den Symbolen und scheinen gar nicht existent.
Die Reduktion des Dorflebens auf symbolische Handlungen, die eine bestimmte Theorie bestätigen und einen kulturellen Determinismus nahelegen, bildete den Fokus der Kritik an der symbolischen Anthropologie. Dieser interpretative Zugang will den symbolischen Kern identifizieren, der sich dann auf der Ebene des Individuums, der Familie, der Dorfgesellschaft und der Nation wieder finden lässt. Obwohl die Arbeiten der symbolischen Anthropologie tiefen Einblick in kulturelle Bedeutungen geben, erfahren wir durch sie genauso wenig über den Umgang der Menschen mit diesen Bedeutungen wie über Transformationen durch innere und äußere Faktoren. Auch wenn Widerstand in türkischen Dörfern für Frauen eine große Herausforderung darstellt, so finden Mädchen und Frauen unterschiedliche Formen sich anzupassen, auszuweichen oder ihre Umgebung mit Kritik zu konfrontieren. In meinen eigenen Forschungen in den 1980er Jahren untersuchte ich die Strategien von Frauen im Umgang mit gesellschaftlichen Erwartungen. Sie benützen dafür die dominante Sprache des Körpers, die Frauen aufgrund von Menstruation, Jungfräulichkeit und Geburt stärker mit ‘unreinem’ und die Frauen weiter abwertendem Blut in Verbindung bringt.
1.2 Fruchtbarkeit und Unreinheit: Samen und Blut im Lebenszyklus von Frauen und MännernVgl. Strasser, Unreinheit, wie Anm. 11, 23 und 100ff., wo der Zusammenhang von Reinheit, Unreinheit und Besessenheit gezeigt wird.
Körperflüssigkeiten repräsentieren nicht nur Zeugungsvorstellungen, die gesellschaftliche Verhältnisse als göttliche Schöpfung erscheinen lassen, sondern stehen gleichzeitig für gesellschaftliche Ordnung beziehungsweise für die Bedrohung durch Unordnung. Blut und Samen verweisen auf Fruchtbarkeit genauso wie auf Unreinheit; sie versprechen sexuelle Reife, Eheschließung, Elternschaft und Verwandtschaft und verursachen gleichzeitig Verunreinigungen, die rituelle Reinigungen verlangen. Blut zeigt im Leben der Frauen die unterschiedlichen irreversiblen Veränderungen und lebenszyklischen Übergänge an, die immer gleichzeitig Fruchtbarkeit und Unreinheit beinhalten, wodurch sie die Ehre des Haushalts, des Patriklans und des Dorfes bestätigen wie auch bedrohen. Mädchen werden durch die Menarche zu jungen fruchtbaren Frauen, von denen man allerdings dann erhöhte Tugendhaftigkeit erwartet. Die jungen Frauen binden nun ihr Tuch aufmerksamer, arbeiten mehr im Haushalt und weniger draußen auf den Feldern, ihre Bewegungsfreiheit wird eingeschränkt und sie vermeiden Kontakte mit ‘fremden’ Männern. Sie verhalten sich idealtypisch ‘anständig’ und zurückhaltend (namuslu). Schließlich wird der Jungfräulichkeit bei der Eheschließung sowohl nach religiösen als auch nach normativen Vorgaben große Bedeutung beigemessen. Die Ehe ist für viele aufgrund der fehlenden Aussichten auf Lohnarbeit in ländlichen Gebieten und den begrenzten Bildungsmöglichkeiten oft die einzige Perspektive.
Die Hochzeit ist für Frauen und Männer der Übergang in einen neuen Lebensabschnitt, der durch das Blut bei der Defloration angezeigt wird. Blut, das allerdings nur durch die Penetration zum Fließen gebracht wird – ein Aspekt der Defloration, der auf den sozialen Druck von Männern verweist und von der starken Betonung der Jungfräulichkeit meist verdeckt wird. Jungfräulichkeit bildet die Voraussetzung für die Rolle als Ehefrau und das Blut zeugt vom vorehelichen keuschen Verhalten, der Reinheit des Feldes. Dieser Übergang in einen neuen Lebensabschnitt bringt eine Frau aufgrund der Patrilokalität auch in ein neues Haus, und da sie dort als Schwiegertochter eine Fremde, von außen Kommende (gelin) ist, muss sie ihre Vertrauenswürdigkeit erst unter Beweis stellen. Symbolisch gilt die Frau nach der Defloration als offen und ungeschützt; die Kontrolle nimmt noch einmal zu. Erst mit der Geburt von Kindern steigen Ansehen und Respekt gegenüber Frauen.
Die Geburt eines Kindes leitet also den nächsten Lebensabschnitt ein. Die Geburt bedeutet zunächst Rückzug von Mutter und Kind zum Schutz der Frau und des Neugeborenen. Das Baby gilt als schwach und die Frau als durch die Geburt offen. Vierzig Tage nach der Geburt führt die Frau eine rituelle Reinigung durch und kann dann langsam wieder das Haus verlassen. Erst in der Rolle der Mutter wird den jungen Frauen Vertrauen entgegengebracht. Nun haben sie ein eigenes Interesse an ihrem neuen Haushalt, weil sie durch ihre Kinder mit diesem verbunden sind. Erst durch die Kinder wächst die Handlungs- und Bewegungsfreiheit der Frauen. Wenn ihr Feld nicht mehr fruchtbar ist, also nach der Menopause, können die Frauen sich im Dorf ohne Schutz und nach eigenem Gutdünken bewegen.
Alle Abschnitte des Lebens von Frauen sind mit Blut verbunden, das irreversible Veränderungen markiert und Keuschheit oder Zurückhaltung sowie auch durch den Islam vorgeschriebene Reinigungsrituale verlangt. In Zeiten der Unreinheit sind Frauen von rituellen Handlungen ausgeschlossen, da Reinheit deren Voraussetzung darstellt. Auch der männliche Körper kennt Verunreinigung, die durch den Austritt des Spermas hervorgerufen wird. Diese Unreinheit aber kann durch rituelle Waschungen sofort wieder aufgehoben werden und führt zu keinerlei langfristigen Bedrohungen. Werden die Waschungen jedoch nicht durchgeführt, ist auch der Körper des Mannes verwundbar. Aufgrund der Durchlässigkeit des unreinen Körpers nimmt er alle Sünden der Menschen in sich auf, die ihm in diesem Zustand in die Augen blicken. Frauen sind aber durch Defloration, Menstruation und Geburt wesentlich häufiger von Unreinheit und Offenheit betroffen.
Männer werden – im Gegensatz zu islamischen Vorschriften – in diesen ländlichen und auf Jungfräulichkeit pochenden Kontexten häufig aufgefordert, ihre Sexualität vor der Ehe zu erproben, um ihre Männlichkeit bei der Hochzeit unter Beweis stellen zu können. In letzter Zeit fordern allerdings immer mehr muslimische (männliche wie weibliche) Jugendliche, die sich mit dem Koran und seinen Auslegungen beschäftigen, die Distanzierung von ländlichen Ehrbegriffen (namus), die Männer von Frauen sexuell unterscheiden. Männer sollen demnach genauso wie Frauen erst nach der Eheschließung ihre erste sexuelle Erfahrung machen und vorher keusch leben. Die Keuschheit der Frauen zum Ziel der männlichen Kontrolle zu machen, erscheint zumindest den islamisch gebildeten Jugendlichen heute nicht mehr als “islamisch”, also den Vorschriften der Religion folgend, sondern als überkommene Tradition. Das führt zwar zu mehr Gleichheit zwischen den Geschlechtern, aber nicht unbedingt zu mehr sexueller Autonomie.
Da Körpersubstanzen sowohl mit Reinheit als Voraussetzung für religiöse Handlungen, mit Zeugung und Fruchtbarkeit wie auch mit sozialen Normen der Ehre zu tun haben, tragen alle diese Vorstellungen im ländlichen Kontext der Türkei immer wieder zu hierarchischen Geschlechterverhältnissen bei. Während Blut einerseits Fruchtbarkeit anzeigt, Leben nährt und Verwandtschaft herstellt, ist es genauso verantwortlich für Unreinheit und den notwendigen Schutz der weiblichen Keuschheit. Wenn dieser Schutz nicht geboten werden kann, verliert der Mann nicht nur seine Ehre, sondern auch seine Glaubwürdigkeit und Anerkennung. Männliche Ehre umfasst das ‘anständige’ Verhalten der Frauen des eigenen Haushalts, der eigenen patrilateralen Verwandtschaftsgruppe (sülale) und des eigenen Klans (aşiret). Die Kontrolle von Reinheit sichert eindeutige Verwandtschaftsbeziehungen, die dann auch die Grenzen der sexuellen Ehre (namus) abstecken. Um den Gesichtsverlust abzuwenden, werden Gewalt und Zwang toleriert und erwartet. Greifen die Männer eines Haushalts beim Fehlverhalten ihrer Frauen nicht ein, gelten sie als Schwächlinge und werden in ihrer sozialen Umgebung lächerlich gemacht und zu anständigem Verhalten aufgefordert. Sozialer Ausschluss unter Männern und kollektives ‘Auslachen’ machen es nachvollziehbar, warum die Wiederherstellung der männlichen Ehre nicht nur der Rache für Untreue dient, sondern auch der sozialen, ökonomischen und psychischen Existenz der Männer. Wird die Ehre eines Mannes durch Frauen oder Land verletzt, stehen seine persönliche Würde und in der Folge auch sein ökonomischer Erfolg auf dem Spiel.
Der Islam wird zur Rechtfertigung dieser Vorstellungen unabhängig von seinen verschriftlichten Inhalten und religiösen Interpretationen herangezogen. Im nächsten Abschnitt werde ich Grundlagen islamischer Interpretationen und religiöser Überzeugungen im Unterschied zu lokalen Interpretationen in den ethnographisch untersuchten Dörfern skizzieren.
1.3 Zeugung und Geschlecht nach dem Koran
Blut, Milch und Samen tragen nach dem Koran gleichberechtigt zum Entstehen neuen Lebens bei. Der Koran bevorzugt entgegen weit verbreiteter gegenteiliger Annahmen den Mann in den Zeugungsvorstellungen nicht. Der Koran unterstützt aber sehr wohl Eindeutigkeiten von Eltern- und Verwandtschaft. Das daraus abgeleitete strikte Verbot von Sexualität vor und außerhalb der Ehe gilt für Männer und Frauen. Auch wenn Sexualität als Vorgeschmack auf das Paradies bezeichnet wird, wird sie gerade dadurch als religiöse Pflicht gesehen und mit strikten Reinigungsritualen und religiösen Vorschriften verbunden.
Der Nachkommenschaft, die das Fundament für die Erhaltung der menschlichen Gattung darstellt, wird im islamischen Glauben eine zentrale Bedeutung beigemessen. Die Entstehung eines Menschen durch göttliche Schöpfung wird im Koran auch ausführlich dargelegt:
12 Wir haben doch den Menschen (ursprünglich) aus einer Portion (?) Lehm (oder: aus einem Extrakt (?) aus Lehm) geschaffen. 13 Hierauf machten wir ihn zu einem Tropfen (Sperma) in einem festen Behälter (d.h. im Mutterleib). 14 Hierauf schufen wir den Tropfen zu einem Embryo, diesen zu einem Fötus und diesen zu Knochen. Und wir bekleideten die Knochen mit Fleisch. Hierauf ließen wir ihn als neues (w. anderes) Geschöpf entstehen. So ist Gott voller Segen. Er ist der beste Schöpfer (den man sich denken kann). (Sure 23, 12-14)
Der Koran beschreibt Samen und Eizellen als Wasser- oder Samentropfen, die verbunden in die Gebärmutter gelegt werden, wo sie zu einem neuen Menschen heranreifen. Nach unterschiedlichen Interpretationen wird die Seele dem neuen Wesen (je nach Auslegung der Suren zum prokreativen Prozess) nach 80 oder nach 120 Tagen eingehaucht. Erst ab diesem Zeitpunkt wird der Klumpen Blut oder Fleisch zu einem Menschen und die Abtreibung ist nach islamischen Vorstellungen erst ab diesem religiös festgelegten Zeitpunkt verboten.
Obwohl der Koran beide Geschlechter für die Zeugung gleich bedeutsam macht (Sure 49, Vers 13), fallen Männern und Frauen doch unterschiedliche Rollen im prokreativen Prozess zu. Diese Rollen lassen sich von den unterschiedlichen Bedeutungen von Körpersubstanzen ableiten. Während Männer auf die Rolle bei der Zeugung durch Samentropfen verwiesen werden, nähren die Frauen zusätzlich die heranwachsenden Embryonen und Föten mit Blut und Milch, wodurch deren Knochen und Fleisch geschaffen werden. Nach der Geburt stillen die Frauen den Hunger der Kinder mit ihrer Muttermilch. Milch ermöglicht die Fertigstellung von Knochen und Fleisch des Kindes. Da Milch die Fortsetzung der nährenden Rolle von Frauen darstellt, die (historisch betrachtet) erst die Überlebensfähigkeit des Neugeborenen sicherte, ist es naheliegend, dass durch Stillen auch Verwandtschaft entsteht. In der Sure über die Frauen werden die für ein männliches Ego verbotenen Beziehungen oder Inzestgebote aufgelistet. Darin wird die Milchverwandtschaft explizit angesprochen.
Verboten (zu heiraten) sind euch eure Mütter, eure Töchter, eure Schwestern, eure Tanten väterlicherseits oder mütterlicherseits, die Nichten, eure Nährmütter, eure Nährschwestern, die Mütter eurer Frauen, eure Stieftöchter, die sich im Schoß eurer Familie befinden (und) von (denen von) euren Frauen (stammen), zu denen ihr (bereits) eingegangen seid – wenn ihr zu ihnen noch nicht eingegangen seid, ist es für euch keine Sünde (solche Stieftöchter zu heiraten) – , und (verboten sind euch) die Ehefrauen eurer leiblichen Söhne. Auch (ist es euch verboten) zwei Schwestern zusammen (zur Frau) zu haben, abgesehen von dem, was (in dieser Hinsicht) bereits geschehen ist. Allah ist barmherzig und bereit zu vergeben. (Koran 4: 23)
Unter das Inzestverbot fallen also nicht nur Mütter, Schwestern, Tanten und Nichten, Schwiegermütter, Schwiegertöchter und Stieftöchter, sondern auch Milchmütter und Milchschwestern. Es ist wichtig festzuhalten, dass diese Sure nicht nur Eheverbote und damit Inzestregeln klärt, sie ermöglicht auch Intimität im sozialen Nahraum. Gegenüber Männern, die sie nicht heiraten können, müssen Frauen sich nicht bedecken. Der Umgang im privaten Lebensraum wird damit freier und ungezwungener. Diese strategische Anwendung von Milchverwandtschaft fand durchaus weite Verbreitung im frühen Islam. Heute spielt aufgrund der Ersatznahrung für Muttermilch diese Form der Verwandtschaft in der Praxis kaum noch eine Rolle. Darlegungen zur Entstehung des Lebens im Koran prägen allerdings die islamischen Grundlagen für Abtreibung, und Auslegungen zu Milchverwandtschaft begründen weitgehend das Denken islamischer Gelehrter über künstliche Befruchtung. Da die Eindeutigkeit der Verwandtschaft einen großen Stellenwert einnimmt, sind nach dem Islam generell weder Samen- noch Eispenden oder Leihmutterschaft bei der In-vitro-Fertilisation erlaubt, die nicht nur Vater- und Mutterschaft, sondern auch das Erbrecht in Frage stellen würden.
Diese Vorstellungen der Gelehrten und deren Interpretationen des Korans werden auch mit lokalen Traditionen verwoben und fließen so in Körpertheorien der ländlichen Gebiete ein. Die gegenwärtige Gesetzgebung zu künstlicher Befruchtung und Abtreibung in der Türkei befindet sich ebenfalls in Einklang mit diesen religiösen Vorstellungen.
2. Gewalt im Namen der Ehre und Abwertung im Namen der Egalität
Nach diesem Überblick über die Bedeutung von Körpersubstanzen, wie sie in Ethnographien und in Koranauslegungen von islamischen Gelehrten dargestellt werden, stellt sich erneut die Frage, ob und wie diese Vorstellungen über den Körper Gewalt gegen Frauen legitimieren und wie sie in den rezenten Bemühungen gegen Gewalt an Frauen wirken. Immerhin helfen uns diese symbolischen Interpretationen, Hintergründe von Geschlechterdifferenzen und Machtverhältnissen besser zu verstehen. Die Rolle von ‘Kultur’ bei der Legitimierung von Gewalt gilt es allerdings zu hinterfragen, wenn die ethnographischen Berichte Kultur als determinierend erscheinen lassen. Symbolische Anthropologie hilft zwar, key symbols für soziale Verhältnisse zu identifizieren, zeigt aber nicht die Handlungsfähigkeiten und Gegenstrategien von Frauen und Männern, die beide diesen Werten und der weiblichen Abwertung genauso wie der hegemonialen Männlichkeit erst zustimmen müssen. Die Ethnographie Carol Delaneys konzentriert sich auf das Identifizieren und Verstehen und verlangt (trotz weitreichender feministischer Kritik an Verwandtschaftstheorien und Geschlechterrepräsentationen in der Sozialanthropologie) von dieser kulturrelativistischen Position aus keine Transformationen von Machtverhältnissen. In Reaktion auf diese Position in der Sozialanthropologie wurden zwei Gegenpositionen auch in der Disziplin entwickelt, die diese Diskurse kritisieren und ihr Handlung und Praxis gegenüberstellen. Bevor wir jedoch abschließend diese Kulturdebatten einbeziehen, sollen die türkische und die europäische Debatte zu ‘Ehre’ skizziert werden.
2.1 Feministische Interventionen in der Türkei
Blut zeigt nicht nur Fruchtbarkeit an und verlangt in der Folge Kontrolle zur Aufrechterhaltung von Eindeutigkeiten und Reinheiten, Blut wird von den Verantwortlichen verlangt, wenn die Kontrolle nicht akzeptiert wird, die Reinheit nicht eingehalten werden kann und andere Maßnahmen wirkungslos bleiben. Durch Ehrenmorde und Blutrache sind in der Türkei nach Aussagen der türkischen Polizei in den Jahren 2000 bis 2005 insgesamt 1.190 Menschen ums Leben gekommen. Die meisten Fälle wurden im vorwiegend kurdischen Osten und Südosten des Landes registriert. Unter den Opfern waren 710 Männer und 480 Frauen. Die derzeit in der Türkei geführten Debatten zu Gewohnheitsrecht, Ehre und Gewalt zeigen die widersprüchliche Rolle, die der Kontrolle über Frauen im Spannungsfeld zwischen staatlichen Institutionen und lokalen Vorstellungen zukommt. Ob die langsam entstehenden Möglichkeiten, sich etwa mit Unterstützung von Beratungsstellen zu wehren oder aus einer unerwünschten Situation auszusteigen, den Ausschlag geben, dass die Gewalt derzeit verstärkt wahrgenommen und thematisiert wird, oder ob im Gegenteil Gewalt (möglicherweise als Folge von Kriegen, Umsiedlungen und sozioökonomischen Bedrohungen) tatsächlich eskaliert, muss erst noch genauer untersucht werden. Feministinnen in der Türkei vermuten ein Zusammenspiel von ungesicherten patriarchalen Strukturen, militärischer Gewalt und verstärktem Aufbegehren der Frauen.
Die Feministin und Sozialanthropologin Nükhet Sirman identifiziert drei Positionen zu ‘Gewalt im Namen der Ehre’: eine erste (wertkonservative), die Gewalt als notwendiges Mittel zur Durchsetzung von Werten ansieht, eine zweite (feministische), die solche Gewalt ablehnt und sich gegen die Kontrolle von Frauen und den weiblichen Körper zur Wehr setzt, und schließlich drittens die politisch hegemoniale Position, die ‘Gewalt im Namen der Ehre’ als einen Rest von Tradition versteht, der mit Modernisierung und Bildung zum Verschwinden gebracht werden muss.
Aus der Perspektive der feministischen Aktivistinnen in der Türkei wurden wesentliche Schritte zur Bekämpfung der ‘Gewalt im Namen der Ehre’ gemacht. Das Gewohnheitsrecht gilt nicht mehr länger als Strafmilderungsgrund bei Ehrenmorden, im Gegenteil werden Morde und Gewalt im Namen des Gewohnheitsrechts (töre cinayetleri und töre şiddetleri) nun sogar als erschwerende Umstände bewertet. Artikel 38 des türkischen Strafgesetzes besagt zudem, dass minderjährige Täter zwar weiterhin den vorgesehenen reduzierten Strafrahmen zugestanden bekommen, dass jedoch alle Personen, die zu einer kriminellen Handlung auffordern, in Zukunft wie der Täter behandelt werden müssen. Es wird also auf die gerichtliche Praxis ankommen, diese Formen der Gewalt auch entsprechend zu bestrafen; die gesetzlichen Möglichkeiten sind gegeben.
Da den Feministinnen aber gerade die Überwindung der Dichotomien zwischen modernem staatlichen Recht und lokalem Gewohnheitsrecht ein wesentliches Anliegen zu sein scheint, kritisieren sie den Begriff Gewohnheitsrecht im Gesetz und fordern eine Ausdehnung der ‘erschwerenden Umstände’ auf alle ‘Verbrechen im Namen der Ehre’. In einer Stellungnahme zu den Änderungen des Straf- und Zivilgesetzes 2002 und 2005 kommentieren Women for Women’s Human Rights, New Way (WWHR) daher kritisch:
In Article 82, which regulates aggravating circumstances for homicide, “killings in the name of custom” have been defined as an aggravated circumstance. The use of “custom” instead of the internationally accepted term “honor killings” limits the scope of the crime, as if it only exists in certain regions of Turkey where customs prevail, and fails to include different sorts of honor killings.
WWHR befindet, dass ‘Ehrenmord’ als Begriff des globalen Menschenrechtsdiskurses Gewalt nicht mit bestimmten Kulturen oder ethnischen Gruppen verknüpft, sondern unterschiedliche Formen von Gewalt einbeziehen kann, während Gewohnheitsrecht bestimmten ethnischen Gruppen in der Türkei, vor allem den kurdischen Klans (aşiret) zugeschrieben wird. Die Aktivistinnen vertreten die Auffassung, dass ‘Gewalt im Namen der Ehre’ in der Stadt und auf dem Land, in allen Schichten, in Stämmen und Kleinfamilien im Namen der Kultur und aus Eifersucht vorkommen. Sie alle sollten ebenfalls als ‘erschwerende Umstände’ betrachtet werden. Die Betonung von Gewohnheitsrecht reduziert Gewalt auf ‘vormoderne’ Kontexte als ‘Traditionen’. Der “Tradition Effect”, wie Dicle Koğacıoğlu es nennt, ermöglicht es, die Wahrnehmung von Gewalt gegen Frauen in die kurdischen, gewissermaßen modernitäts- und staatsfernen Provinzen auszulagern.
Ein Beispiel soll dagegen die Verwobenheit von staatlichen Institutionen mit ‘Gewalt im Namen der Ehre’ verdeutlichen. 2009 wurden in der Provinz Mardin in einem kurdischen Dorf 44 Menschen während einer Hochzeitsfeier von ihren eigenen Verwandten mit automatischen Feuerwaffen und Handgranaten getötet. Mardin ist eine der südöstlichen Provinzen der Türkei an der Grenze zu Syrien. Sie fällt durch ihre kulturelle Diversität auf und versucht diese im globalen Wettkampf um Anerkennung und ökonomischen Erfolg als besonderen Wert einzusetzen. Die Ereignisse im kurdischen Dorf Bilge brachten die Provinz allerdings im Zusammenhang mit Gewalt in die internationalen Schlagzeilen. War es eine durch das tribale Recht (töre) legitimierte Blutrache (kan davası) oder ein Überfall der kurdisch separatistischen PKK und damit nach türkischer Position ein terroristischer Akt? Und wenn es um Blut ging, das einen Konflikt sühnen sollte, war der Grund ein Mädchen (kız) und die männliche Ehre oder Land (toprak) und ungeklärte Besitzverhältnisse? Verantwortliche PolitikerInnen und ExpertInnen der Türkei resümierten nach intensiven Debatten, dass langwährende ungeklärte Landrechte und Konflikte um Frauen zu diesem Massaker geführt hätten. Doch bleiben nicht immer noch die hohe Zahl an Tätern und Opfern wie auch die für Blutrache unüblichen Mordwaffen (Bomben und Kalaschnikows) zu klären? Diese Vorgehensweise lässt sich weder durch tribale Strukturen und ihre lokalen Rechtssysteme noch durch fehlende Bildung oder mangelnde Modernisierung verstehen.
Dieser Überfall auf eine Hochzeitsgesellschaft mit der Absicht, einen ganzen Patriklan (sülale) auszulöschen, verursachte große Irritation im ganzen Land. Das lokale Gewohnheitsrecht, das eine Blutfehde (kan davasi) verursachte, reichte vielen nicht als Erklärung für das Ausmaß dieser Bluttat. ExpertInnen verwiesen zwar einerseits auf das Gewohnheitsrecht und identifizierten einen langjährigen Konflikt im Dorf, doch immer häufiger wurde auch das System der ‘Dorfwächter’ (koruculuk) als Erklärung herangezogen. Das türkische Militär hat in den kurdischen Gebieten im Osten der Türkei ein Milizsystem aufgebaut, das seit den 1980er Jahren massiv aufgerüstet wurde, um den Staat im Kampf gegen die kurdische Arbeiterpartei PKK zu unterstützen. Viele ZeitungskommentatorInnen fragten in der Folge nach der Verantwortung für Gewalt, die im Namen der Tradition erfolgt, die aber ohne vom Staat zur Verfügung gestellte Waffen nicht durchführbar gewesen wäre. Es geht hier nicht darum zu sagen, es gäbe kein Gewohnheitsrecht und keine damit verbundenen Legitimierungen von Gewalt, sondern darum zu betonen, dass diese ‘Traditionen’ mit den ‘Waffen’ und Institutionen des Staates, regionalen Marginalisierungen, transnationalen Ökonomien und nicht zuletzt mit den globalen Waffenlobbys verbunden sein können und damit in ihrem Entstehungszusammenhang höchst ‘modern’ sind.
Dicle Koğacıoğlu sieht diese Gewalt im Namen der Ehre aus der Perspektive eines postkolonialen Feminismus “at the intersection of multiple political and social dynamics”. Wegen der unterschiedlichen Institutionen und Machtverhältnisse, die in diese Gewalthandlungen involviert sind, erscheint es ihr nicht überzeugend, dass Frauen Opfer ausschließlich traditioneller patriarchaler Strukturen und gewalttätiger Männer werden. Sie weist die Dichotomie zwischen ‘Tradition’ als zeitlos und unveränderbar und ‘Institution’ als modern zurück, analysiert die Mängel der Gesetze und zeigt so auf, wie staatliche Institutionen, lokale Vorstellungen und globale Interessen zu Komplizen bei der Gewalt an Frauen werden. Dass Gewalt (wie die eingangs genannten Zahlen zu Ehrenmorden vermuten lassen) Männer häufiger als Frauen trifft, wird in diesem feministischen Diskurs vernachlässigt. Die problematischen Effekte dieser einseitigen Debatte zeigen sich besonders deutlich im europäischen Diskurs zu ‘traditionsbedingter Gewalt’.
2.2 Die europäische Debatte um Ehrenmorde
In Europa sind Fragen zu Migration und zur Regulierung von Diversität seit Jahren auf der politischen Tagesordnung. Rufe nach dem Rückzug vom Multikulturalismus begleiten seit geraumer Zeit in vielen europäischen Ländern wissenschaftliche Diskurse, politische Debatten und gesetzliche Reformen. Diese Abkehr beruht auf der Überzeugung, die multikulturalistische Politik habe versagt, sie hätte die Zugeständnisse an Minderheiten übertrieben und sei deshalb sogar schuld an sozialer Segregation, Gewalt und “hausgemachtem Terrorismus”. Geschlechteregalität und sexuelle Autonomie gehören zweifelsohne zu den neuralgischen Punkten der grundsätzlichen Kritik am Multikulturalismus, insbesondere seit Ehrenmorde und Zwangsehen unter dem Stichwort ‘traditionsbedingte Gewalt’ verstärkt öffentlich thematisiert werden. Sogar BefürworterInnen von multikulturalistischer Politik scheinen verunsichert, ob die mangelnde Durchsetzung von Menschen- und Frauenrechten (im Namen der Kultur) nicht ein grundsätzliches Überdenken von kulturellen Zugeständnissen erforderlich mache.
Den Zusammenhang zwischen Kultur und Gewalt mit postkolonialer Kritik leichtfertig vom Tisch zu wischen, überlässt das diskursive Feld spekulativen Annahmen in der Politik und rechtspopulistischen Bedrohungsszenarien. Kultur und Religion als eindeutige Ursachen zu identifizieren, führt umgekehrt zu einem Generalverdacht, der zwar aus feministischer Sicht auf Gewalt gegen Frauen erfolgreich aufmerksam macht, dabei aber den Rückzug von einer Politik der kulturellen Vielfalt rechtfertigt. Es stellt sich also die unangenehme Frage, ob bestimmten Handlungen wie Ehrenmorden oder Zwangsehen kulturelle Deutungen von Körpersubstanzen zugrunde liegen. Erklären ‘Kulturen’ Gewalt an Frauen hinreichend und verlangen daher einen Rückzug vom Multikulturalismus? Oder brauchen wir im Gegenteil die Politik der Vielfalt (unabhängig davon, ob diese Versuche von der Politik Integration, Multikulturalismus oder Diversität genannt werden), um die Verdinglichung von ‘Kulturen’ zu bekämpfen?
Im Vergleich zwischen der Türkei und Österreich wird deutlich, dass diese Fragen der Gewalt gegen Frauen sich in einem multikulturellen Kontext anders darstellen: Hier fordert eine Position das Recht auf Differenz und Selbstbestimmung von Minderheiten (multikulturelle Position), die feministische Kritik bezweifelt, ob die multikulturelle Politik Gewalt gegen Frauen ausreichend berücksichtigt und bekämpft (feministische Position), und schließlich versucht die dritte Position (und das ist die hegemoniale), Gewalt “den Anderen” zuzuschreiben, die dann als importierte ‘traditionelle’ Gewalt zu einem ausschließlichen Problem von Minderheiten (Zugewanderten in Europa, KurdInnen in der Türkei) gemacht wird. Hier sind die in der Türkei vertretenen modernistischen Positionen mit assimilatorischen Ansätzen in Österreich zu vergleichen. Ein wesentlicher Unterschied zwischen diesen Debatten um ‘Gewalt im Namen der Ehre’ in der Türkei und in den EU-Mitgliedstaaten ist somit der Rahmen, in dem diese Diskussionen geführt werden. Während in beiden Debatten Gewalt mit Tradition verbunden wird und Täter wie Opfer als ‘ungebildet’ und ‘dörflich’ (in Europa zudem als zugewandert und Gewalt als ‘importiert’) konstruiert werden, wird Gewalt in der Türkei mit der fehlenden Modernisierung und in der EU mit dem übertriebenen Multikulturalismus erklärt und die Schuld damit der ‘Kultur’ der Opfer angelastet. Frauen aus minorisierten Kontexten werden in beiden Diskursen zu ‘Opfern ihrer Kultur’.
Erste Maßnahmen auf europäischer Ebene machen nun deutlich, wie die Auffassung von ‘Gewalt im Namen der Ehre’ als Folge von Kultur wirkt. Angeblich um Gewalt an Frauen zu verhindern, wurde für die gesamte EU eine Richtlinie erlassen, die auch Zwangsehen als eine Form von ‘Gewalt im Namen der Ehre’ verhindern sollte: die Erlaubnis zur Einführung eines Mindestalters bei der Familienzusammenführung mit Drittstaatsangehörigen. Obwohl die entsprechende EU-Richtlinie (RL 2003/86/EG) das Recht auf Familienzusammenführung als wesentliche Voraussetzung von Integration bezeichnet, schränkt dieselbe Richtlinie dieses Recht ein, indem sie die Einführung eines Mindestalters von maximal 21 Jahren erlaubt.
(5) Zur Förderung der Integration und zur Vermeidung von Zwangsehen können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass der Zusammenführende und sein Ehegatte ein Mindestalter erreicht haben müssen, das höchstens auf 21 Jahre festgesetzt werden darf, bevor der Ehegatte dem Zusammenführenden nachreisen darf. (Richtlinie 2003/86/EG, Artikel 4)
Auch wenn die Vereinbarkeit dieser Fakultativklausel mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (Artikel 8 und 12) zumindest fraglich ist, haben Großbritannien, Frankreich, Norwegen, Österreich und Dänemark seither Mindestaltersgrenzen zwischen 18 und (in Dänemark widerrechtlich) 24 Jahren eingeführt. Durch diese Maßnahme werden jedoch nicht einzelne kriminelle Fälle von Zwangsverheiratung behandelt, sondern alle Drittstaatsangehörigen wenn auch nicht kriminalisiert, so doch in gravierender Weise benachteiligt. Dass diese Option nicht nur Zwangsehen verhindert, sondern generell transnationale Ehen erschwert und die Zuwanderung nach Europa verstärkten Kontrollen aussetzt, liegt auf der Hand. Damit bestätigt diese Maßnahme die generalisierende Annahme, dass diese ‘importierten Traditionen’ von allen Angehörigen einer ethnischen Gruppe geteilt würden. Aus dem Schutz vor Zwangsehe wird somit eine verschärfte Regulierung von Migration. Es handelt sich dabei um Diskriminierung, da diese Maßnahme davon ausgeht, dass alle Jugendlichen der zugewanderten Minderheiten geschützt werden müssen. Diese Sichtweise von Kultur als deterministisch und die daraus abgeleitete Einschränkung von Optionen wird kaum zu mehr Autonomie, sehr wohl aber zu einem geringeren Vertrauen in die Behörden und Institutionen beitragen.
3. Abschließende Bemerkungen: Kritik und Kulturalismus
Ethnographische Forschungen zeigen, dass Deutungen von Körpersubstanzen in dörflichen Kontexten der Türkei Geschlechterhierarchien legitimieren. Vorstellungen von Zeugung, Geschlecht und Sexualität liefern demnach auch kulturelle Grundlagen für sexuelle Kontrolle und die Unterordnung von Frauen. Sie ermöglichen durch die Interpretationen von Symbolen, Frauen und Männer nicht nur als komplementär (zeugend und nährend), sondern auch als zueinander hierarchisch zu deuten. Da Frauen durch ihre symbolische Unreinheit als ‘offen’ gesehen werden, ist die Kontrolle weiblicher Sexualität in den Augen der AkteurInnen eine Forderung des Körpers und nicht der Ausdruck männlicher Dominanz. Doch da nicht alle Frauen von den Schlüsselsymbolen und ihren Bedeutungen überzeugt sind, muss nicht nur jede Generation diese Deutungen erlernen, sondern müssen diese auch unter jungen Frauen und Männern immer wieder durchgesetzt werden. Wie allerdings schon die Abweichungen zwischen dörflichen Vorstellungen und den Suren im Koran zur Prokreation zeigen, stehen verschiedene Interpretationen von Symbolen durchaus nebeneinander, greifen ineinander oder bieten je nach Kontext unterschiedliche Optionen. In der Praxis sind Deutungen zum Körper zudem kontinuierlich im Inneren umstritten und von äußeren Einflüssen durchzogen. Kulturen liefern somit Interpretationen, die in den Körper eingeschrieben werden, aber sie werden dort auch unterschiedlich verarbeitet und in der Praxis verändert.
Formen von Gewalt wie Ehrenmord oder Zwangsehe können zwar aus den kulturellen Interpretationen abgeleitet und als soziale Notwendigkeit dargestellt werden, sie bilden dabei aber nur eine mögliche und extreme Auslegung. Diese dann als eine verbindliche unveränderbare Tradition einer bestimmten Gruppe zuzuschreiben, ist selbst Ausdruck von einem Machtverhältnis zwischen Gesellschaftsgruppen und differenziert (wie im Diskurs um Ehrenmorde in der Türkei) zwischen traditionell versus modern oder (wie im Diskurs um Zwangsehe in Europa) zwischen zugewandert versus einheimisch. Diese Differenzierungen verdecken die Unterschiede und Dynamiken von Interpretationen und ignorieren die Machtverhältnisse zwischen den Gruppen. Die Ereignisse von Bilge zeigen deutlich, dass nicht alleine die Interpretationen von Körper und Geschlecht für das Blutbad verantwortlich zeichnen, sondern staatliche Institutionen daran beteiligt waren, die offensichtlich den Kampf gegen Gewalt an Frauen und gegen lokale Rechtsvorstellungen militärischen Interessen unterordnen. Gleichzeitig dienen diese als vormodern etikettierten Praktiken dem staatlichen Anspruch auf Intervention und Kontrolle. Auf ähnliche Weise werden im europäischen Diskurs ‘Traditionen’ zuerst als unveränderbar und undurchlässig ausgelegt, um dann als Begründung für eine verstärkte Kontrolle von Zuwanderung zu dienen.
Beide Diskurse über ‘Gewalt im Namen der Ehre’, jener in der Türkei und jener in Europa, sind mit der Frage nach der Bedeutung von ‘Kultur’ konfrontiert. Obwohl Feministinnen in beiden Kontexten Gewalt bekämpfen, laufen sie Gefahr, bei der zusätzlichen Abwertung von minorisierten Frauen durch die Politik mitzuwirken – ob durch Kulturalismus (der Kultur einfriert und Differenz unüberwindbar macht), Determinismus (der Handlungen unausweichlich erscheinen lässt) oder Ethnozentrismus (der andere Kulturen abwertet und kulturelle Assimilation mit einem Anspruch von Geschlechtergleichheit vorantreibt). Wird diese so fixierte Tradition von der Politik aufgegriffen, wird nicht kulturelle Anerkennung angestrebt, sondern das Recht auf kulturelle Differenz angezweifelt, um die (angeblich durch die Tradition geforderte) Gewalt zu bekämpfen. Wird Kultur mit diesem kulturalistischen Ansatz verbunden, verstärkt sie Grenzen zwischen Gruppen und legitimiert Gewalt, ohne an der Macht von kulturellen Mustern zu zweifeln und deren stete Umstrittenheit zu begreifen.
Der Vergleich der Diskurse zeigt schließlich auch, dass die Fokussierung der feministischen Kulturkritik auf die ‘Frauen als Opfer’ insbesondere in der europäischen Debatte um Multikulturalismus aufgegriffen wird, um sich als kultureller Essentialismus und Determinismus gegen minorisierte Frauen und Männer und schließlich gegen Zuwanderung und Diversität zu richten. Der notwendige Kampf gegen Gewalt an Frauen durch Kulturkritik läuft immer wieder Gefahr, zu neuen Versionen von Kulturalismen beizutragen. Feministische Kulturkritik muss zwar problematische Praktiken und Gewalt mit dem Ziel angreifen, Kultur, die ohnedies stets umstritten ist, zu transformieren. Doch sie muss gleichzeitig verhindern, dass diese Diskurse und Kämpfe zu kulturalistischen Positionen verkommen, die beitragen, kulturelle Differenz im ‘Namen der Geschlechtergleichheit’ zum Verschwinden zu bringen.