Von der Wiedergründung der Zeitschrift 1951 bis Ende 1955 erschien
Osteuropa in blauem Gewand. Zu sehen war der Ausschnitt einer Weltkarte, die auf der Basis der Mercator-Projektion erstellt wurde. Diese hat
den Nachteil, daß sie die Fläche nur am Äquator getreu abbildet, je näher die Darstellung an den Polen liegt, desto stärker wird die Verzerrung.
Indien wirkt gegenüber dem nördlichen Sibirien lächerlich klein. Gewollt
oder ungewollt vermittelt diese Karte verschiedene Bilder von Osteuropa.
Sie könnte einen politischen Osteuropabegriff visualisieren, der neben
der UdSSR auch China umfaßt. Gleichzeitig könnte sie im Kalten Krieg
dazu gedient haben, die kommunistische Gefahr darzustellen. Nicht unwahrscheinlicher ist, daß es sich um ein bloßes graphisches Gestaltungsmittel handelt. Dafür spricht die holzschnittartige, beinahe expressionistische Anmutung der Darstellung.
Karten sind faszinierende multifunktionale Medien. Sie dienen einerseits dazu, Informationen zur räumlichen Orientierung zu fixieren und bereitzustellen; andererseits sind sie
ein Speicher von Wissen, das über die basale räumliche Orientierung hinausgeht: Indem
Karten Sachverhalte oder Themen verortet wiedergeben, machen sie Angebote zur
Strukturierung von Welt bzw. zur Verständigung über solche Strukturierungen, die einer
Orientierung im Sinne von Wertausrichtung entspricht. In kommunikativen Situationen
wird Karten als vermittelndem Medium häufig ein quasi-objektiver Wert zugeschrieben
– das was auf einer Karte verortbar ist, existiert, muß kaum noch hinterfragt werden.
Von der Wiedergründung der Zeitschrift 1951 bis Ende 1955 erschien Osteuropa in
blauem Gewand. Zu sehen war ein Ausschnitt einer Weltkarte. Diese Karte wurde auf
der Basis der sogenannten Mercator-Projektion erstellt. Im 16. Jahrhundert hatte Gerhard Krämer, latinisiert Mercator, sie zu dem Zweck entworfen, den Kapitänen auf
See das Navigieren zu erleichtern.
Wir befinden uns im Entdeckungszeitalter. Die Europäer schicken ihre Schiffe über
das Meer, und die Steuerleute haben große Mühe, an den Orten anzukommen, zu
denen sie gelangen wollen. Das liegt daran, daß man seine Position auf dem Ozean
nur reichlich ungenau bestimmen kann. Als Hilfsmittel dienen Sonne und Sterne,
Winkelmeßinstrumente (Sextanten) und noch reichlich ungenau gehende Chronometer. Bei schlechtem Wetter, wenn eventuell mehrere Tage hintereinander eine exakte Positionsbestimmung nicht möglich ist, bewegt sich das Schiff möglicherweise weit
in eine ungewollte Richtung. Unter diesen Umständen ist eine Karte, die so konstruiert ist, daß jede Kurslinie, d.h. die Himmelsrichtung, in die der Kapitän fahren will,
als Gerade, d.h. auch auf dem schaukelnden Schiff mit dem Lineal eingezeichnet
werden kann, enorm hilfreich. Und Mercator liefert sie mit seiner winkeltreuen Projektion: Die Kurslinie ist zwar nicht die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten
– man bewegt sich ja nicht auf einer planen Fläche, sondern auf einer Kugel -, aber
auch dieser Zeitverlust ist angesichts der größeren Orientierungssicherheit zu vernachlässigen.
Doch ein Nachteil der Mercator-Karte besteht darin, daß sie die Fläche nur am Äquator getreu abbildet. Je weiter die Darstellung von dort nach Norden und nach Süden
entfernt ist, desto stärker wird die Verzerrung. Die Pole schließlich liegen bei dieser
Projektion im mathematischen Unendlichen, weswegen sie nicht dargestellt werden
können. Grönland wird deshalb auf solchen Karten beispielsweise gegenüber Zentralafrika beinahe grotesk vergrößert. Oder nehmen wir das Beispiel des Osteuropa-Titelbildes: Indien wirkt gegenüber der Darstellung des nördlichen Sibirien beinahe
lächerlich klein. Skandinavien, das auf der besagten Titelkarte nur zu einem kleinen
Teil abgebildet wird, umfaßt insgesamt rund 750 000 qkm Fläche, während die auf
der Abbildung nahezu gleich große Arabische Halbinsel 3,5 Millionen qkm groß ist.
Solche Nachteile allerdings werden im Alltag der Seefahrt von damals durch die Vorteile der einfachen Handhabbarkeit bei weitem aufgewogen; und die extremen südlichen und nördlichen Breitengrade werden von den Segelschiffen der damaligen Zeit ohnehin nicht befahren.
Über ihren durchschlagenden Erfolg in der Seefahrt hinaus setzt sich die Mercator-Projektion auch in anderen Zusammenhängen durch. So wurden die von den Seekapitänen neu entdeckten Ländereien und späteren Kolonien auf solchen Karten verzeichnet und den Herrschenden zur Kenntnis gebracht. Auf diesem Weg wurden die “Bilder” von Land-Meer-Verteilungen, die Bilder der Umfänge und Formen von Kontinenten und Meeren, ihre relativen Positionen zueinander immer wieder reproduziert,
bis sie von den Benutzern als gegebene, als gewußte, als objektive und schließlich als
vertraute Informationen hingenommen und als angemessene Repräsentation von
“Welt” akzeptiert wurden. Die Mercator-Karte ist damit ein hervorragendes Beispiel
für den Erfolg einer Visualisierung. Sie konnte sich in verschiedenen Kommunikationskontexten über die Jahrhunderte hinweg behaupten, auch als ihr ursprünglicher
Verwendungszweck längst nicht mehr gegeben war. Um nur ein Beispiel zu nennen:
Die Weltkarte im Hintergrund der Tagesschau in Westdeutschland war bis in die
1970er Jahre hinein eine Mercator-Projektion. Als sie durch eine flächentreuere, aber
auch abstraktere Kartendarstellung ersetzt wurde, erhielt die ARD zahlreiche Protest- und “Trauer”-Briefe von Fernsehzuschauern, denen der Abschied von ihrer gewohnten Welt-Abbildung schwerfiel.
Vor diesem Hintergrund ist die Verwendung der Mercator-Projektion auf dem Titelbild
von Osteuropa in den Jahren 1951-1955 nichts Ungewöhnliches. Es ließe sich natürlich die These vertreten, daß das Titelbild in Mercator-Projektion und einer Beschriftung mit Osteuropa, die bis weit in den Orient und nach China reichte, einen politischen Osteuropabegriff visualisierte, der China und selbst die Länder der arabischen
Halbinsel umfaßt, da dort die Entkolonialisierung teilweise unter kommunistischem
Vorzeichen stand. Neben dieser sozialsystemaren These ließe sich auch eine funktionalistische These vertreten: Monmonier berichtet, daß bei Vorträgen der rechtsradikalen
John-Birch-Society in den USA gewöhnlich Mercatorkarten an der Wand hingen, auf
denen China und die Sowjetunion als riesige rote Flächen abgebildet waren.1
Solche Thesen der bewußten Verwendung lassen sich alleine anhand des Titelbilds
natürlich nicht belegen. Mindestens ebenso wahrscheinlich ist, daß es recht banale
Gründe waren, die bei der Auswahl dieses Bildes eine Rolle spielten: Möglicherweise
war zur Gestaltung des Titels kein geschulter Kartograph, sondern “nur” ein Graphiker verfügbar, wofür die holzschnittartige, beinahe expressionistische Anmutung der
Darstellung spricht, die andererseits auch wieder auf einfache, zeittypische technisch-zeichnerische Mittel verweist.
Dabei waren längst andere Projektionen, flächentreuere Darstellungen verfügbar. Kartographen und Geographen waren sich seit langem über die Defizite von winkeltreuen
Darstellungen größerer Erdausschnitte völlig im klaren und verwendeten meist flächentreue oder annähernd flächentreue Entwürfe, wie beispielsweise ein Blick in den ersten
Diercke-Atlas nach 1945 zeigt: Zum Gebrauch an Schulen durch die Control Commission for Germany (B.E.) und das Office of Military Government for Germany (US) Educations Branch zugelassen war ein Atlas, der für größere Erdausschnitte nicht nur konsequent flächentreue Entwürfe verwendet und die verwendeten Entwürfe auch stets
bezeichnet, sondern bereits auf Seite 4, d.h. vor dem eigentlichen Kartenteil, werden
verschiedene Kartennetzentwürfe mit ihren Abbildungsqualitäten dargestellt.
Auch über die Gründe, warum die Mercator-Projektion 1956 vom Titelbild der Osteuropa verschwand, läßt sich nur spekulieren, da es leider offensichtlich keine Quellen gibt, die Aufschluß über die Motivation der Redaktion oder der DGO geben würden. Der damalige Präsident der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde, Erich
Wende, verwies in seinem Geleitwort zu Heft 1/1956 lediglich darauf, daß die Gesellschaft in Kürze neben Osteuropa drei weitere Zeitschriften (Osteuropa-Recht, Osteuropa-Wirtschaft und Osteuropa-Naturwissenschaft) herausgeben werde. Dies sei
Anlaß, “den Umschlag der Zeitschriften graphisch zu verändern, um auf diese Weise
die einzelnen Zeitschriften aufeinander abzustimmen”. Doch eine Vereinheitlichung
wäre auch auf der Basis der Mercator-Karte möglich gewesen.
Eine These ist, daß der Verzicht auf dieses Titelbild sich aus einer stärkeren Sensibilität für die Verzerrungen der Projektion und ihre normativen Wirkungen speiste. Dann
hätte man, wollte man die Verräumlichung von “Osteuropa” durch kartographische
Visualisierung fortführen, zu einer anderen Projektion übergehen können, statt ganz
auf die Karte zu verzichten. Vielleicht wurde Klaus Mehnert als spiritus rector des
Periodikums sich darüber klar, daß die Zeitschrift ein Titelbild verwendete, das für
Osteuropa eine nicht gegebene räumliche Kontingenz suggerierte. “Osteuropa”
wandelte sich in diesen Jahren in den Perspektiven von Wissenschaft und Politikberatung von einem wahrgenommenen, gedachten und reproduzierten Raum hin zu einem
a-räumlichen Systembegriff. “Osteuropa” stand dann für die “Kommunistische Welt”,
für ein Gesellschaftssystem, für Wirtschaftsprinzipien und eben nicht mehr für einen
Raum und noch weniger für seine Regionen und Orte. Detaillierte geographische
Informationen über Räume, Regionen und Orte, die aus der empirischen Feldforschung hätten gewonnen werden können, standen in diesen Jahren ja auch kaum zur
Verfügung, fielen nur relativ selten zur Veröffentlichung an; kartographisch exakte
Darstellungen waren schwierig zu gewinnen, wurden der Gemeinde selten vermittelt.2
Aus der Perspektive der westlichen Forscher mochte es gelegentlich so scheinen, als
habe sich “das System” wie ein schweres, undurchdringliches Tuch über das ganze
Land gelegt und es verhüllt, so daß die Grund- und Aufrisse einer “räumlichen Realität” nur noch schemenhaft im Relief dieses Tuchs wahrzunehmen waren.
Dieser politisch-systemare Osteuropabegriff herrschte in der Zeitschrift bis 1989 vor.
In diesem Sinne ähnelt auch die geographische Transformationsforschung nach dem
Urknall der politischen Zeitenwende dem Nachhorchen dieses Knalls in einem
Raum, der einmal Osteuropa war – und der Nachhall dieses Knalls wird immer
schwächer.
Die raumbetonte Forschung ebenso wie die Zeitschrift sind also eines ihrer verbindenden Elemente verlustig gegangen, des einfachen Raumcontainers “Osteuropa”.
Nicht nur, daß die Möglichkeiten regional differenzierter Forschung es zunehmend
schwieriger machen, einfache Karten zu differenzierten Erklärungen zu zeichnen.
Auch das Bewußtsein, daß kartographische Darstellungen stets qualitative Kategorien
produzieren und/oder reproduzieren, fordert dazu auf, den visualisierten Raumbegriff
zu hinterfragen.
Wagt man dennoch weiterhin, Karten von Osteuropa und zu Osteuropa zu zeichnen,
so steht man vor der Aufgabe, unterschiedliche soziale, politische und kulturelle Dimensionen dieses Begriffs angemessen zu repräsentieren. Thematisch-kartographische Darstellungen müssen der Tatsache gerecht werden, daß “Osteuropa”
ein kulturelles und politisches Konstrukt ist. Jede kartographische Visualisierung ist
eine Vereinfachung, die dem Betrachter ein Verständigungsangebot macht, weil sie
Komplexität reduziert. Eine große Herausforderung an die Kartographie ist es, die
Ungenauigkeiten, die mit dieser Art von Reduktion geschaffen werden, angemessen
abzubilden. Allerdings sind die Kartographen nur die eine Seite der Abbildung: Auch
die Nutzer müssen sich über den Konstruktcharakter von Karten sehr viel klarer werden
und mit ihnen verantwortungsbewußter umgehen. Die Zeit der Unschuld ist vorbei.
Mark Monmonier: Eins zu einer Million. Die Tricks und Lügen der Kartographen. Basel,
Boston, Berlin 1996, S. 134.
Vgl. Jörg Stadelbauer: Regionalforschung über sozialistische Länder. Wege, Möglichkeiten
und Grenzen. Eine Bestandsaufnahme westlicher, meist deutschsprachiger Untersuchungen
aus den 70er Jahren. Darmstadt 1984.
Published 19 January 2006
Original in German
First published by Osteuropa 12/2005
Contributed by Osteuropa © Sebastian Lentz, Stella Schmid/Osteuropa Eurozine
PDF/PRINTNewsletter
Subscribe to know what’s worth thinking about.