Christus am Kreuz mit Gasmaske und Knobelbecher; dem Querbalken des Kreuzes sind beide Enden weggebrochen; die linke Hand Christi, dadurch frei geworden, hält ein kleines Kreuz hoch; das ganze ist unterschrieben mit “Maul halten und weiter dienen”. Diese kleine Zeichnung von 1928 brachte George Grosz seinen berühmten Prozeß wegen Blasphemie ein. Blasphemie heißt wörtlich “Verleumdung”. Gemeint ist aber gewöhnlich deren schlimmster Fall: Wenn die Rituale und Überzeugungen verleumdet werden, die einer Gemeinschaft als schlechterdings unantastbar gelten. “Verhöhnung der Religion” ist daher die gängige Übersetzung. Doch hatte Grosz tatsächlich das Christentum verhöhnt?
Man blättere nur ein wenig in einschlägigen Dokumenten der Weltkriegstheologie. “Das Christentum ist nun einmal ein Kriegsdienst, in dem auch das Opfer des Lebens nicht verweigert werden darf. Christus ist gekommen, um Satan, ‘den Fürsten dieser Welt’, aus seinem Reich hinauszutreiben”. “Der Tod auf dem Schlachtfelde kann […] des ganzen Ruhmes und Verdienstes eines Märtyrers teilhaftig werden”. “Ausharren und durchhalten muß der Tapfere.” So interpretierte der deutsche Jesuit Christian Pesch 1915 das Bibelwort “Wer ausharrt bis zum Ende, wird gerettet werden” (Matthäus 10, 22).1 Es hätten ebensogut die Worte eines Protestanten oder Franzosen sein können. Die Kriegstheologie jener Zeit war ökumenisch und international – einmütig darin, für den Tod auf dem Schlachtfeld zu werben und die christlichen Nationen des Abendlandes zur wechselseitigen Massenschlächterei aufzuwiegeln: im Namen des Gottes, den sie gemeinsam als Schutzmacht anriefen.
Grosz’ umstrittene Zeichnung ist ein Seismogramm des Ersten Weltkriegs. Derhat Christus mit Gasmaske und Knobelbechern zeitgemäß zugerichtet, Grosz selbst die Untat bloß im Bilde festgehalten. Wie darauf Christus ans Kreuz genagelt ist, wie er selber mit der Linken ein kleines Kreuz ins Leere streckt, als wolle er die dort nicht Sichtbaren beschwören, ihm die Maske abzunehmen: Das gibt dem Kreuz, an dem er hängt, etwas von seinem authentischen Charakter als Folter- und Hinrichtungsinstrument zurück, den es als Symbol, das auf dem Altar steht oder das der Geistliche feierlich schlägt, längst verloren hatte. Einen Gekreuzigten als göttlichen Retter auszurufen, das vom römischen Imperium bei Kapitalverbrechen bevorzugte Marterwerkzeug mit dem Gott Israels zusammenzudenken: Das war die eigentliche Ungeheuerlichkeit des Urchristentums gewesen, “den Juden ein Ärgernis, den Griechen eine Torheit” (Erster Korinther 1, 23), wie Paulus sagt, der bekanntlich die Botschaft von der rettenden Kraft eines Gekreuzigten anfänglich als Blasphemie verfolgte, ehe er zu ihrem wichtigsten Apostel wurde.
Das Christentum ist unter Blasphemieverdacht entstanden; es ist dafür verfolgt und in die Mission getrieben worden; es hat die gemarterte Menschlichkeit Jesu als das Vexierbild eines Gottes beschworen, der bald, in allernächster Zeit, aller Marter ein Ende machen sollte – und doch bis heute ausgeblieben ist. Statt des Reiches Gottes kam die Kirche, die sich aller Verfolgung zum Trotz im ganzen Mittelmeerraum ausbreitete und vom römischen Imperium gerade noch zur “Staatsreligion” geadelt wurde, ehe es zerfiel.
Das Kreuz wandelte sich im Zuge dieser Erfolgsgeschichte vom Symbol der gemarterten Menschlichkeit zum Triumphzeichen. “In diesem Zeichen wirst du siegen”, soll Konstantin eine Stimme im Traum gesagt haben – und zwar vor der Schlacht gegen seinen Konkurrenten um die Kaiserwürde. Damit war die skandalöse Botschaft des Kreuzes auf nicht minder skandalöse Weise umgewertet. Grosz hat dafür eine zeitgemäße Bildsprache gefunden. Die Gasmaske als Wahrzeichen des Weltkriegs wie als das Gerät, das den Gekreuzigten nicht einmal mehr sein “Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen” (Matthäus 27, 46) schreien läßt, statt dessen die lakonische Unterschrift “Maul halten und weiter dienen”: Das ist weit eher Kreuzestheologie des 20. Jahrhunderts als Blasphemie.
Und wenn dennoch viele Zeitgenossen nichts anderes darin wahrzunehmen vermochten als die handfeste Beleidigung ihrer religiösen Gefühle? Dann zeigt das, was für ein dunkles Kapitel religiöse Gefühle sind. Die fallen ja nicht klar und rein vom Himmel, sondern formen sich in langwieriger, komplexer Entwicklung. An ihrem Anfang steht der Naturschrecken, der die nervliche Konstitution altsteinzeitlicher Hominiden derart durchdrungen haben muß, daß sie zu seiner Bewältigung eine eigene Technik entwickelten: die Wiederholung des Schrecklichen. Es gibt keine menschliche Kultur, an deren Anfang nicht der Opferkult stünde, und geopfert wurden nicht Schnecken oder Frösche, sondern das Kostbarste: Menschen und Großtiere. An einzelnen Auserwählten wiederholt das Kollektiv die traumatisierende Naturgewalt, von der es heimgesucht wurde, um dem Schrecklichen durch seine ständige Wiederholung allmählich den Schrecken zu nehmen.
Das Opferritual verläuft nach der Logik des traumatischen Wiederholungszwangs. Und bis aus den ersten diffusen, reflexartigen Wiederholungen rituell geregelte Opfer wurden, bis die höheren Schutzmächte, denen man sie darzubringen meinte, die Kontur von Totems, Ahnen oder Göttern annahmen, und bis schließlich die Vorstellungen solcher Mächte sich so in den Erregungshaushalt eines Kollektivs eingenistet hatten, daß es sie als sein Ein und Alles, als das schlechterdings Heilige und Identitätsstiftende empfand, dürften Zehntausende von Jahren verflossen sein. Jedenfalls ist ein für modernes Zeitempfinden nahezu unvorstellbar langer Disziplinierungs- und Sublimierungsprozeß erforderlich, damit Rituale, Kult- und Glaubensinhalte als so natürlich empfunden werden, als seien sie der ganzen Menschheit an der Wiege gesungen.
Wie mag denn das Christentum dahin gekommen sein, daß die Gläubigen schließlich gar nicht mehr anders konnten, als vor dem Altar das Knie zu beugen, zur Nennung der heiligen Dreifaltigkeit oder der Muttergottes das Kreuz zu schlagen und die Hostie mit einer Gänsehaut der Ehrfurcht entgegenzunehmen? Allein durch gutes Zureden? Oder nicht mindestens genauso dadurch, daß an denen, denen solche Reaktionsweisen nicht so recht in Fleisch und Blut übergehen mochten, bisweilen die furchtbarsten Exempel statuiert wurden? Heute gilt die Inquisition vielen Gläubigen nicht mehr als das wahre Christentum. Ihr Beitrag zur Verinnerlichung jenes Glaubens, der sich ihrer jetzt nicht mehr erinnern mag, ist gleichwohl unschätzbar. Der Anschauungsunterricht rauchender Ketzerscheiterhaufen hat an der Erziehung der Christenheit zu Verehrung und Andacht ebenso teil wie die erbauliche Predigt und Caritas.
Das sogenannte Heilige ist, wie Rudolf Otto gezeigt hat, zunächst keineswegs das Gute oder Sittliche, sondern dasjenige, was ungeheuerlich und übermächtig daherkommt. Schrecken und Schauder sind seine Attribute. Sie bilden den Bodensatz des religiösen Gefühls. Ehrfurcht und Respekt sind schon seine hochkulturellen Ausformungen, die sprachlose Verzückung ist seine äußerste Firnisschicht. Religiöse Gefühle umfassen ein ganzes Register: vom finstersten Opferschauder bis in die zarten Höhen der Mystik. Und sie sind, strenggenommen, ein Mißverständnis. Gefühle als solche können peinlich oder angenehm, dumpf oder stechend, erhebend oder bedrückend, stark oder schwach sein, aber nicht religiös oder profan. Es gibt lediglich Gefühle, die von den Betroffenen als derart durchdringend, erschütternd, erhebend oder beglückend empfunden wurden, derart aus dem Rahmen ihres gewöhnlichen Erregungshaushalts herausfallend, daß sie folgerten: Etwas so Besonderes kann kein bloß profanes Erlebnis sein, da muß Gott, das Heilige, das Unbedingte selbst mich angerührt haben. Damit ist das tatsächlich Gefühlte aber bereits als religiös ausgelegt worden. Sogenannte religiöse Gefühle sind immer schon hochgradig interpretierte Gefühle, bei denen die Interpretation wieder vergessen wurde.
Gerade weil es religiöse Gefühle an sich aber nicht gibt, ist das, was dafür gehalten wird, so verletzlich. Zur psychologischen und militärischen Kriegführung hat denn auch stets gehört, die Heiligtümer der Besiegten zu schänden und ihre Rituale zu verhöhnen. So gesehen ist Blasphemie uralt; sie gehört zur Magie des Kriegswesens. In der Neuzeit ist lediglich ein Aspekt hinzugekommen: zur Verhöhnung anderer Religionen die der Religion als solcher. Scheinbar bloß eine kleine zusätzliche Nuance. Faktisch aber ein Bedeutungsumbruch.
Die Religion als solche schmähen: Das konnte zunächst nicht triumphierend von außen geschehen, sondern nur subversiv von innen. Im 17. Jahrhundert fängt das an. Eine Schrift Über die drei Betrüger, nämlich Moses, Jesus und Mohammed, macht in Europa die Runde, natürlich nur heimlich und anonym. Wehe dem Verfasser oder den Lesern, wenn sie sich zu erkennen gegeben hätten. Ein französischer Landgeistlicher namens Jean Meslier, der in seinem Dorf zeitlebens brav die Messe gelesen hat, hinterläßt Anfang des 18. Jahrhunderts ein Testament, worin er die cartesische Methode der Wahrheitsprüfung gnadenlos auf die Bibel anwendet, sie buchstäblich zerpflückt und es für absurd erklärt, ein derart von Widersprüchen strotzendes Schriftwerk als den Inbegriff aller Wahrheit zu verehren. Die Bibel, so sein Fazit, ist keinen Deut besser als die griechische Mythologie. Alle höheren Wesen sind erlogen.
Seither hat Blasphemie das Ansehen eines nihilistischen Gespensts. Blasphemiker kann doch eigentlich nur einer sein, dem nichts heilig ist. Das ist natürlich ein Irrtum. Man muß nur einmal das Buch Hiob aufschlagen. “Die Pfeile des Allmächtigen stecken in mir, mein Geist hat ihr Gift getrunken, Gottes Schrecken stellen sich gegen mich”, heißt es dort. Hiob verflucht den Tag seiner Geburt, ähnlich wie der islamische Mystiker Faridoddin Attar in seinem Buch der Leiden: “Ja, nimm es zurück, dieses Leben, das Du mir gegeben hast, ich will es nicht.”2 Oder, besonders delikat, Heine, der den Himmel “den Engeln und den Spatzen” überlassen wollte, sich aber im Schmerz seiner tödlichen Krankheit anders besann. In einem Brief an Heinrich Laube vom 2. Februar 1850 schreibt er: “Gottlob, daß ich jetzt wieder einen Gott habe, da kann ich mir doch im Uebermaaße des Schmerzes einige fluchende Gotteslästerungen erlauben; dem Atheisten ist eine solche Labung nicht vergönnt.”
Zweifellos sind das handfeste Schmähungen Gottes, aber so, wie man eine verlorene Geliebte beschimpft, von der man nichts sehnlicher wünscht, als sie wieder zu bekommen. Und etwas vom Tonfall des enttäuschten Liebhabers findet sich selbst noch im Sarkasmus der radikalen Aufklärer, die die christliche Lehre an ihrem eigenen Wahrheitsanspruch messen und dann verwerfen. Daß dem Blasphemiker absolut nichts heilig sei, trifft nicht einmal auf den Marquis de Sade ohne weiteres zu, der die Dreifaltigkeit Gottes aufs virtuoseste mit allen erdenklichen Obszönitäten zu verknüpfen wußte. Er predigt den Kult einer rigorosen Lustmaximierung, dem jegliche Religion, Standesetikette, Sitte, ja jeglicher Skrupel als Aberglaube aufzuopfern ist. Um des Lustkults willen darf alles erbarmungslos verspottet werden, nur er selbst duldet keinen Spott. Die Sadeschen Gewalt- und Sexualorgien nehmen sich vielmehr aus wie das Sich-Klammern an einen letzten Halt. “O meine Freunde, laßt uns nur zusammen den Orgasmus haben, das ist das einzige Glück des Lebens”, ruft in der Philosophie im Boudoireiner der Protagonisten im Geschlechtsrausch und plaudert damit aus, daß die zwangsverordnete Lust schon keine mehr ist. Sade, ihr Priester, ist seinen christlichen Widersachern gar nicht so unähnlich. Seine Sehnsucht nach skrupellosem Genuß ist das Negativ der christlichen Sehnsucht nach einer Seligkeit ohne jeden Gewissensbiß. Und so zynisch Sade auch verfährt, so treffsicher legt er den Zynismus einer Religion bloß, die im Namen ewiger Lust und Seligkeit nach dem Tode die Lust vordem Tode als Feind der Seligkeit brandmarkt. Sade ist radikaler Antihumanist – bis an den Rand radikal aufgeklärter Humanität. In seiner Blasphemie berühren sich die Extreme.
Gewiß ist Blasphemie nicht einfach dasselbe wie Aufklärung. Aber Aufklärung sieht Blasphemie manchmal zum Verwechseln ähnlich. Spott dringt, wenn er ins Schwarze trifft, tiefer als jede andere Form von Kritik. Was langen Beweisgängen oft versagt bleibt, schafft bisweilen ein einziger Witz, eine Satire, eine Karikatur: das Eitle, Aufgeblasene, Anmaßende geltender Autoritäten bloßzustellen. Spott ist zynisch, wo er Trauriges lächerlich macht. Er ist aufklärerisch, wo immer er das, was lächerlich ist, blitzartig zum Vorschein bringt: es notfalls bis zur Kenntlichkeit entstellt. Kritik ohne Spott ist zahnlos, faßt nicht wirklich zu, ist nicht ganz ernst gemeint. Daher konnte aufklärerische Religionskritik gar nicht anders, wenn es ihr denn ernst war, als ab und zu religiöse Autoritäten und die von ihnen gehegten Gefühle zu beleidigen. Sporadischer Spott gehörte zum Schwung ihres Angriffs.
Als das Christentum noch groß und stark war und sich allen Mitgliedern der Gesellschaft als alleinseligmachend aufdrängte, bedeutete Verhöhnung der Religion soviel wie Widersetzlichkeit gegen die höchste Wahrheit. Man schloß sich damit aus der Christenheit aus, wenn nicht sogar von den Grundregeln des gängigen Verstandesgebrauchs. Wer bei Sinnen war, konnte das nicht wollen. In der bürgerlichen Gesellschaft hingegen, die auf Religionsfreiheit fußt, verliert der Tatbestand der Blasphemie seine traditionelle Kontur. Als schützenswert gilt nicht religiöse Wahrheit, denn die wird keiner Glaubensrichtung mehr exklusiv zugestanden, sondern das religiöse Gefühl als solches, ohne Ansehen seines Inhalts. Artikel 166 unseres Strafgesetzbuchs stellt die “Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgemeinschaften und Weltanschauungsvereinigungen”, “wenn sie geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören”, ausdrücklich unter Strafe. Auch in einer Gesellschaft, die jedem seine eigene Einstellung zur Religion überläßt, gilt Blasphemie als objektivierbarer Tatbestand; sein Kriterium jedoch ist, ob sich jemand beleidigt fühlt, also rein subjektiv.
Subjektiv heißt hier allerdings etwas anderes als bloß privat. Das sogenannte religiöse Gefühl muß es zu einer gewissen “subjektiven Allgemeinheit”, wie Kant das nennen würde, gebracht haben. Nicht der Frauenschuh, den irgendein Neurotiker als Fetisch behandelt, soll geschützt werden, wohl aber jeder als Reliquie anerkannte Stoffetzen; nicht die rituelle Akribie und Andacht, mit der jemand seinen privaten Waschzwang zelebriert, wohl aber diejenige, die beim kollektiven Freitagsgebet waltet. Wie eine Gruppe den Status der Religionsgemeinschaft oder Weltanschauungsvereinigung erworben hat, prüft das Gesetz nicht. Es erkennt jedes religiöse Gefühl, das zu subjektiver Allgemeinheit gelangt ist, gleichermaßen an. Es macht keinen Unterschied zwischen dem Erniedrigten und Beleidigten, dessen Würde, und der beleidigten Leberwurst, deren Eitelkeit Schaden genommen hat. Die pluralistische Marktgesellschaft schützt jeden Unsinn, der es schafft, als Weltanschauung Gläubige um sich zu scharen und religiöse Gefühle auf sich zu ziehen, solange er ihre Grundsätze nicht antastet. Im Reich der chancengleich konkurrierenden religiösen Gefühle soll keines verunglimpft werden.
Sollte jedoch jemand diese Konkurrenzsituation selbst, den “Markt der Möglichkeiten”, auf dem sich die Religions- und Bekenntnisgemeinschaften als Angebote präsentieren und mit millionenschweren Werbekampagnen ihr Image aufzupolieren suchen, als blasphemisch empfinden, so wird er bei keinem Richter Gehör finden. Wie soll man in einer kapitalistischen Gesellschaft religiöse Inhalte anders verbreiten als dadurch, daß man sie werbewirksam anpreist – wie alle anderen Waren auch? Daß in der Behandlung des Heiligen als Ware eine gigantische Blasphemie, nämlich eine Art von Prostitution stecken könnte – diese Überlegung wird erst gar nicht angestellt. Wer etwa eine Kirchenleitung, die ausgebuffte Werbefachleute beauftragt, Glaubenshaltungen mit den Mitteln, die bei Computern und Autos erfolgreich sind, zu lancieren, einen Zuhälterverein des Christentums nennen würde, müßte sich selbst vor Gericht wegen Beleidigung verantworten, während die Verhöhnung der Religion, durch die er sich beleidigt fühlt, im Blasphemiegesetz gar nicht vorgesehen ist.
Das Blasphemiegesetz ist modern, denn es ist marktkonform; es ist archaisch, denn es nährt unter dem Mantel religiöser Neutralität einen tiefsitzenden Respekt vor einem weiter nicht definierten Heiligen. In diesen beiden Hinsichten ist es antiaufklärerisch. Aber es hat noch eine andere Seite. Es nimmt nicht nur Obskurantismus und gekränkte Eitelkeit in Schutz, sondern auch jene Erniedrigten und Beleidigten, die den Spott auf sich ziehen, weil sie den Schaden haben. Insofern kann es der Aufklärung den Spiegel vorhalten: sie zur Selbstbesinnung auf ihren humanen Gehalt anhalten.
Aufklärung kann ohne Hohn und Spott nicht ernst sein. Aber Hohn und Spott waren stets nur da aufklärerisch, wo sie aus der Unterdrückung hervorbrachen, wo Schwache sie als Waffe gegen Mächtige führten, die über weniger Witz, aber über die stärkeren Bataillone verfügten. Natürlich sind Hohn und Spott dazu da, daß man schließlich siegt, aber wo sie durch den Sieg nicht gegenstandslos werden, wo sie das Triumphgeschrei der Sieger ausmachen, sind sie widerlich. Als die Nazis das Judentum verhöhnten, fuhr ein dummes, rassistisches Ressentiment gegen eine Religion daher, von deren geistigen Errungenschaften kritisches Denken bis heute mehr zehrt, als es sich gewöhnlich bewußt macht. Wenn Europäer sich über den Ahnenkult von Amazonasindianern lustig machen, so brüsten sie sich damit, wie weit sie es doch gebracht haben und feiern den Sieg des Kolonialismus noch einmal auf geistlose Weise nach. Solche Siegerposen sind auch dann keine Aufklärung, wenn es wirklich Aberglaube ist, über den sie herziehen. Es ist nicht einmal sicher, wie aufklärerisch es wäre, den armen Schluckern in den Favelas von São Paulo, Mexico oder Recife den Unsinn jener Pfingstreligionen vor Augen zu führen, an denen sie sich, weil sie sonst außer Hunger und Kindern nahezu nichts haben, verzweifelt festklammern. Jedenfalls gibt es Situationen, wo die Würde der Elenden eher respektiert ist, wenn man verstummt, weil jedes Weiter-Aufklären den schlechten Geschmack von Besserwisserei der Privilegierten bekommt.
In den letzten Jahrzehnten ist allerdings eine globale Konfliktlinie entstanden, bei der Verstummen nicht hilft. Grell zutage trat sie erstmals, als Ayatollah Khomeini sein Todesurteil gegen Salman Rushdie schleuderte: wegen Beleidigung des Islam durch einen Abtrünnigen. Nun steht eine Beleidigung durch Ungläubige zur Debatte. Eine dänische Zeitung veröffentlichte Mohammed-Karikaturen. Andere druckten sie nach. Das hat in der islamischen Welt Empörung, Rachegelüste, Anschläge auf westliche Einrichtungen ausgelöst und nötigt dazu, die Grenzen von Blasphemie, Presse- und Religionsfreiheit neu zu vermessen. Dazu schaut man am besten erst einmal aus der Vogelperspektive auf die politische Großwetterlage, in der sich dieser Streit zusammengebraut hat.
“Der Westen”: Das ist eine Chiffre für jene Länder, von denen einst die Globalisierung ausging, als sie noch gar nicht so hieß. Ihr erster Akt war die Eroberung weiter Teile Amerikas, Afrikas und Asiens mit reichlich Völkermord und Rohstoffplünderung. Erst die Masseneinfuhr von Gold und Silber, Baumwolle und Zucker, Kaffee, Kautschuk und Öl aus diesen Ländern hat “dem Westen” die materielle Grundlage verschafft, auf der er werden konnte, was er ist: die Gründungsregion der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Deren Wirtschaftsweise hat inzwischen weltweit gesiegt. Überall, wo sie hinkam, hat sie vormoderne Strukturen aufgelöst und ihre eigenen Imperative durchgesetzt. Der Weltmarkt ist nicht das Ergebnis demokratischer Abstimmungen, sondern militärischer Siege und wirtschaftlicher Zwänge. Erst auf deren Basis haben Menschenrechte wie Freiheit der Meinung, der Presse, der Religion, des Berufs, der Wahl staatlicher Repräsentanten überhaupt eine Chance bekommen.
Das gilt auch für die muslimischen Länder. Unter allen nichtwestlichen Kulturen hat die islamische insofern eine Sonderstellung, als sie sich zum Westen in einer prekären Nähe befindet – nicht nur geographisch. Zum einen ist der Islam die dritte der drei monotheistischen Hochreligionen; natürlich die definitive, wie er selbst meint, aber mit hoher Achtung vor den Büchern der anderen beiden, vor allem dem Alten Testament, mit Verehrung für Abraham als dem Stammvater aller drei Religionen und sogar mit gewissem Respekt vor Jesus als einem Vorläufer Mohammeds. Zum andern ist der Islam gerade deshalb ein gutes Jahrtausend lang der schärfste Rivale des Christentums gewesen. Und er ist in einem Punkt von Christen und Juden strikt unterschieden. Letztere haben klein angefangen: die Juden als subalterner, der ägyptischen Großmacht glücklich entronnener Volksstamm; die Christen als verfolgte, ohnmächtige Minderheit. Der Islam hingegen ist von vornherein siegend in die Welt getreten. Mohammed war ein ebenso geschickter Stratege wie charismatischer Visionär. Er kehrte nicht nur als Verkünder einer neuen Lehre von Medina in seine Heimatstadt Mekka zurück, sondern als Heerführer. Er wußte die Stadt ebenso militärisch wie psychologisch für sich einzunehmen. Das war sowohl seine besondere persönliche Fähigkeit als auch sein Vermächtnis an seine Erben, die Kalifen. Der Sieg des Islam wurde als untrennbar von militärischem und politischem Sieg gedacht. Und der Erfolg schien ihm recht zu geben. Sechs Jahre nach Mohammeds Tod eroberte er Jerusalem, genau ein Jahrhundert nach seinem Tod standen seine Truppen bereits in Südfrankreich.
Daraus folgt noch nicht, der Islam sei im Kern kriegerisch, das Christentum aber friedlich. Das Maß an Duldung etwa, das Juden und Christen in den mittelalterlichen Kalifaten zuteil wurde, haben christliche Würdenträger gegen Muslime nie aufgebracht. Die Inquisition ist eine christliche Erfindung. Ein ausgeklügeltes, foltergestütztes System der kollektiven Seelenüberwachung hatte der Islam nicht nötig. Er neigte zu generöserer Herrschaft. Aber Herrschaft mußte es schon sein. Das islamische Selbstgefühl ist derart vital an den Sieg geknüpft, daß es ihm ungleich schwerer als anderen wird, politische Zusammenbrüche von religiöser Kränkung zu unterscheiden. Und nun ist ausgerechnet aus dem Westen, gewissermaßen als Ausgeburt des Christentums, eine Macht in die islamische Welt vorgedrungen, die abstrakt wie ein nihilistisches Gespenst umgeht, aber mit der konkreten Kraft, alle Lebensverhältnisse umzuwälzen. Sie hat nicht nur äußerlich über Allahs Heere triumphiert. Sie dringt mit ungreifbarer Gewalt, auf göttlich-widergöttliche Weise, auch ins Innere von Allahs Getreuen ein.
Diese Macht ist der kapitalistische Weltmarkt. Auch bei strengsten Muslimen sind seine Regeln inzwischen in die alltägliche Haushaltsführung eingegangen, nicht nur in die betriebswirtschaftliche, auch in die seelische. Deshalb die Fülle bizarr ambivalenter Reaktionsweisen: Mullahs, die gegen “den Westen” sind, aber für die mikroelektronischen Kommunikationsmittel, die er gebracht hat und die sich so effizient gegen ihn wenden lassen; Jugendliche, die für Coca-Cola und Nike, aber gegen Amerika sind; schleiertragende Frauen am Steuer schnittiger Autos und in den Chefetagen großer Firmen; und viele Unauffällige, die sich der westlichen Lebensweise mehr oder weniger angleichen, ohne darüber entschieden zu sein, ob sie sie als ihre eigene oder als aufgepfropft empfinden sollen.
Die islamische Welt ist alles andere als ein homogener Block; und so hat es auch ganz verschiedene Reaktionen auf die Mohammed-Karikaturen gegeben. In Marokko und Libyen blieben öffentliche Proteste aus. In den Golfstaaten verliefen sie relativ gemäßigt. Hoch her hingegen ging es im Irak, Iran und Libanon, in Somalia, Kaschmir, Indonesien und Afghanistan. Überall, wo politische oder religiöse Führer die Bevölkerung dazu aufriefen, sich die Beleidigung des Propheten nicht gefallen zu lassen, gab es kollektive Wutausbrüche, verwüstete Gebäude, Tote und Verletzte. Natürlich war die Empörung angedreht: massenhysterisch im genauen Sinn des Wortes. Hysterie, so hat Freud gezeigt, ist ein Stellvertreterleiden. Der hysterische Ekel gilt gar nicht der Speise, die ihn auszulösen scheint; die hysterische Lähmung kommt nicht von eingeklemmten Nerven. Das Leidenssymptom ist vorgeschoben. Nichtsdestotrotz wird das Leiden real erlebt, ja es ist gerade deshalb quälend, weil seine wahre Ursache nicht offenbar werden darf.
So auch in unserem Fall. Es ist fraglich, ob die Mehrzahl derer, die da wutentbrannt Rache für die Beleidigung des Propheten schworen und Dänemark, Europa und Amerika den Tod wünschten, die Mohammed-Karikaturen überhaupt je gesehen oder eine Ahnung haben, wo Dänemark liegt. Und selbst wenn: ihre Wut ist völlig unverhältnismäßig. Sie hat in den Karikaturen nicht ihren wahren Grund. Sie tobt sich daran nur aus. Es ist nun leicht zu erkennen, warum in manchen Ländern die Volkswut gezielt angestachelt wurde. Die Herrschenden haben großes Interesse daran, den Unmut, den ihre autoritäre Regierung, ihr Desinteresse am Wohl ihrer Völker schafft, nach außen abzuleiten: etwa auf ausländische Karikaturisten und die Regierungen, die sie gewähren lassen. Vorschnell allerdings wäre der Schluß, die Karikaturen seien eigentlich bloß religiöse Blitzableiter lokaler politischer Spannungen. Das ist westlich gedacht. Im muslimischen Selbstverständnis lassen sich Religion und Politik so nicht trennen.
Im übrigen hat Hysterie zwei Seiten. Das vorgeschobene Symptom des Leidens ist von der wahren Ursache verschieden; es muß aber auch eine gewisse Ähnlichkeit mit ihr haben, sonst könnte es die Rolle eines Stellvertreters nicht übernehmen. Sich durch Mohammed-Karikaturen in seiner Identität als Muslim beleidigt fühlen ist also nicht eine Chiffre für Leiden an einer Politik, die Menschenrechte, Arbeitsplätze, Lebensmittel vorenthält. Umgekehrt: Man fühlt sich wirklich als Muslim beleidigt – durch etwas viel Gravierenderes als Karikaturen, nämlich den Sieg des großen westlichen Exportschlagers: des kapitalistischen Markts und seiner demokratischen Einrahmung. Und man darf sich diesen Sieg um so weniger eingestehen, je mehr man selbst am westlichen Exportschlager teilhat, je mehr man sich in die westliche Lebensweise einübt und davon absieht, welche Belastungsprobe sie für Koran, Scharia und islamische Siegesprätention bedeutet. Dies alles haben die Mohammed-Karikaturen ruckartig an den Tag gebracht. Für sich genommen sind sie eine Lappalie, und arabische Länder, in denen die gehässigsten Karikaturen gegen Juden, etwa ihre Darstellung in Naziuniformen, zum Zeitungsalltag gehören, haben wenig Recht, sich künstlich darüber aufzuregen.
Das Delikate an den Mohammed-Karikaturen ist: Etwas, was Muslime, wie distanziert sie ihrem Propheten sonst auch gegenüberstehen, einfach nicht tun würden, haben Westler getan. Mit ein paar Federstrichen haben sie blitzartig den gesamten Sieg des Westens noch einmal aufscheinen lassen. Dieser Siegerspott ist es, der so tief beleidigt – übrigens auch viele Liberale unter den Muslimen, die die massenhysterischen Reaktionen darauf indiskutabel fanden. Indessen schwingt bei den weniger Liberalen, wenn sie in großen Chören “Tod dem Westen” skandieren, stets der Subtext mit: “Tod den westlichen Regungen in unseren eigenen Seelen”. Die Mohammed-Karikaturen haben auch das schlechte Gewissen darüber aufgeregt, gegen den Westen längst nicht so immun zu sein, wie es sich gehörte. Der Haß auf ihn ist zu einem guten Teil nach außen gekehrter Selbsthaß.
Die Mohammed-Karikaturen sind Siegerspott: eher imperial als subversiv. Sie hätten unterbleiben sollen. Aber ein Straftatbestand sind sie nun auch wieder nicht. Denn es gibt ja in fast allen europäischen Ländern Ansätze zu muslimischen Parallelgesellschaften, die im Schutz der Religionsfreiheit militante islamistische Zellen aufbauen und vor allem eifersüchtig darauf achten, daß die jungen Mädchen und Frauen aus ihrem straffen patriarchalen Verband nicht ausscheren. Frauen, denen das gelungen ist, sind gegenwärtig die entschiedensten Befürworterinnen einer Kritik des Islam, die auf die Mittel der Karikatur und Satire nicht verzichten soll, ja sie nehmen, wie etwa Shabana Rehman, eine norwegische Kabarettistin pakistanischer Herkunft, Todesdrohungen dafür in Kauf. Es fällt schwer, diejenigen, die solche Drohungen ausstoßen, noch unter die Erniedrigten zu rechnen, die vor jeder weiteren Beleidigung zu schützen sind. Umgekehrt lassen sich, mit einiger Großzügigkeit, die dänischen Mohammed-Karikaturen auch als etwas mißglückte Solidaritätsadressen an diejenigen lesen, die besagte Todesdrohungen bekommen.
Dennoch macht es einen entscheidenden Unterschied, wer den Propheten karikiert: ob Moslems oder ob nicht-muslimische Westler. Das ist kein Messen mit zweierlei Maß. Kritik, die sich gegen die Unbewiesenheit und Starrheit christlicher Glaubenssätze als richtig erwiesen hat, wird nicht falsch, wenn sie sich gegen islamische richtet. Aber Aufklärung, die mehr will als bloß recht haben, muß abschätzen lernen, wo ihr Spott den triumphierenden Ton anzunehmen beginnt, der eher Erniedrigte beleidigt als Anmaßungen demaskiert – und wo sie sich selbst preisgibt, wenn sie auf solche Feinheiten Rücksicht nähme. Gesetzliche Neuregelungen helfen da nicht weiter. Das Entscheidende wird ohnehin kein Gesetz über Pressefreiheit je juristisch einwandfrei definieren können: den Punkt, an dem spöttische Subversion in triumphierenden Spott umschlägt.
Hier hilft nur kontextbezogene Schärfung der Urteilskraft. Blasphemie an sich besagt wenig. Worauf es ankommt, sind die konkreten Umstände: Wer verhöhnt wie welche Religion? Wer fühlt sich beleidigt und warum? In den sechziger Jahren hielten viele im Westen Blasphemie für einen von der Geschichte überholten Tatbestand. Heute zählt sie zu dem wenigen, was noch in der Lage ist, Massen zu mobilisieren. Die erregte Zusammenballung von Hunderttausenden gegen die Mohammed-Karikaturen ist für laue Mitteleuropäer nicht nur erschreckend; sie hat auch etwas Faszinierendes. Da gibt es noch Menschen, die von ihren Grundsätzen so zuinnerst erfüllt sind, daß sie sich mit Haut und Haar dafür einsetzen. Haben die nicht einen Halt, einen inneren Fokus, der uns längst abhanden gekommen ist? Das ist die Verlockung des Fundamentalismus, nicht nur des islamischen: ein festes Sinngefüge, starke, identitätsstiftende religiöse Gefühle. Der Blasphemieparagraph schützt sie pauschal, wie trübe und aberwitzig sie auch sein mögen. Das ist seine finstere Seite. Aber mit seiner Abschaffung wäre wenig gewonnen. Auch sein Einspruch gegen den zynischen Triumph der Sieger fiele dahin.
Zitiert nach Karl Hammer, Deutsche Kriegstheologie, München: Kösel 1974.
Zitiert nach Navid Kermani, Der Schrecken Gottes, München: Beck 2005.
Published 15 June 2020
Original in German
First published by Merkur 6/2006
Contributed by Merkur © Christoph Türcke / Merkur / Eurozine
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