Auf dem Weg nach Westen und zurück

Der Südkaukasus nach der Wahl in Georgien

Nach der “Rosenrevolution” in Georgien Ende letzten Jahres und den Präsidentschaftswahlen am 4. Januar hat das kleine Land an der Südflanke Russlands die eigentlichen Probleme noch vor sich: Der 37-jährige Heißsporn Michail Saakaschwili, der als strahlender Sieger aus der Wahl hervorgegangen ist, muss der Bevölkerung des Landes eine überzeugende Perspektive bieten. Ob die Westorientierung hält, was die neue Elite verspricht, wird sich erst noch zeigen. In den Nachbarländern Armenien und Aserbaidschan dagegen bedeutet Stabilität immer noch vor allem Kontinuität, und zwar für die Machthaber.

Wer geht schon gern wählen, wenn die abgegebene Stimme doch nichts zählt? Im Laufe des Jahres 2003 wurden in den drei Kaukasusrepubliken Armenien, Aserbaidschan und Georgien insgesamt zwei Präsidentschafts- und zwei Parlamentswahlen abgehalten.1 Weite Teile der Bevölkerung, die jeweilige Opposition, aber auch internationale Beobachter haben erklärt, dass all diese Wahlen durch Betrug und Unregelmäßigkeiten beeinträchtigt waren, und ziehen deshalb die Legitimität der Wahlsieger in Zweifel. Aber nur wenige Beobachter haben herausgestellt, was das Gemeinsame bei diesen Wahlen war: In allen drei Republiken ist eine neue Generation – man könnte sie als die Kinder der Privatisierungsära bezeichnen – im Begriff, die alte Politikergeneration abzulösen, die sich seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion an der Macht gehalten hatte. Letztere waren entweder nationalistische Intellektuelle wie in Armenien oder Vertreter der sowjetisch geprägten Nomenklatura wie in Georgien und Aserbaidschan.

Bei den Parlamentswahlen in Georgien am 2. November hatte es massive Manipulationen gegeben. Die Opposition weigerte sich, das offizielle Wahlergebnis anzuerkennen, das die Partei von Eduard Schewardnadse zur stärksten und die mit ihm verbündete Partei Aslan Abaschidse (Wiederbelebung) zur zweitstärksten Kraft machte. Die betrogene Opposition organisierte tägliche Demonstrationen. Als der Tag der Parlamentseröffnung näher rückte, wechselten einige Figuren aus dem Schewardnadse-Lager die Fronten, darunter der Leiter des staatlichen Rundfunks und Fernsehens und der oberste Chef der nationalen Sicherheitsorgane. Damit war die Isolation des Staatsoberhauptes unübersehbar geworden.

Währenddessen mobilisierte die oppositionelle Bewegung immer mehr Menschen, vor allem im Westen des Landes, von wo sie sich auf den Weg nach Tbilissi machten. Das löste bei vielen die Befürchtung aus, nun könnte auch Georgien in einem Bürgerkrieg versinken. Aber als die Demonstranten während der ersten Sitzung ins Parlamentsgebäude eindrangen, hielt die Polizei, die mit einigen Hundertschaften das Parlament bewachte, sie nicht auf. Schewardnadse wurde aus dem Verkehr gezogen, noch ehe er seine Rede beenden konnte. Der 75-jährige georgische Politiker, der als Außenminister unter Michail Gorbatschow weltweit bekannt wurde und die Politik Georgiens dreißig Jahre lang beherrscht hatte, war endgültig von den Hebeln der Macht entfernt.

Schewardnadse hinterlässt ein widersprüchliches Erbe. Als er im Frühjahr 1992 nach dem Bürgerkrieg um Südossetien nach Georgien zurückkehrte, verkörperte er eine große Hoffnung. Doch dann folgte die Invasion georgischer Truppen in der Autonomen Republik Abchasien, und das Land versank wieder in einen blutigen Krieg. An dessen Ende wurden die georgischen Truppen geschlagen und mussten sich zurückziehen, und mit ihnen die 250 000 Georgier, die in Abchasien gelebt hatten. Doch Schewardnadse gelang es, die in Georgien agierenden bewaffneten Gruppen auszuschalten und deren Anführer – Warlords wie Dschengis Kitovani und Dschaba Ioseliani – ins Gefängnis zu bringen. Zudem verstärkte er die Polizeikräfte und machte sie zum Rückgrat des neuen georgischen Staates.

Als das Land sich wieder stabilisierte und ein gewisses Wirtschaftswachstum erlebte, tauchten die alten Probleme jedoch wieder auf. Zwei Attentate auf Schewardnadse (1996 und 1998) schlugen fehl. Die Täter waren Mitglieder der georgischen Armee, die im Verdacht standen, von Moskau angestiftet worden zu sein. Es folgte eine ökonomische Krise, ausgelöst durch den Zusammenbruch des russischen Rubels, die der Stabilität des Landes einen schweren Schlag versetzte.

Zu Beginn der 1990er-Jahre unternahm Georgien den schwierigen Aufbruch in die Unabhängigkeit. Die Regierung schaffte es aber nie, zentralstaatliche Strukturen durchzusetzen. Schewardnadse sah sich zu einer schwierigen Balance gezwungen, nicht nur zwischen den verschiedenen politischen Strömungen, sondern auch zwischen den kriminellen Gruppen, die einige staatliche Sektoren wie auch ganze Regionen beherrschten. In den letzten beiden Jahren konnte er diesen Balanceakt nicht mehr durchhalten, und das Land versank in einen Zustand völliger Lähmung.

Aus Protest dagegen, dass der Präsident an korrupten Funktionsträgern festhielt, reichten die “jungen Reformer” in Schewardnadses näherer Umgebung – Parlamentspräsident Zurab Schwania und der damalige Justizminister Michail Saakaschwili – ihren Rücktritt ein. Dasselbe tat Nino Burdschanadse, die seit Ende 2001 Parlamentspräsidentin gewesen war (und nach dem 22. November 2003 als interimistische Staatspräsidentin fungierte). Diese ehemaligen Mitstreiter stellten sich an die Spitze der Opposition, die den Präsidenten am Ende zu Fall brachte.

Nach den Massendemonstrationen im Oktober 2001 gegen die Versuche der Polizei, den beliebten Fernsehsender Rustawi zu schließen, hatte Schewardnadse sein gesamtes Kabinett entlassen, also auch Innenminister Kaka Targarnadse. Das führte dazu, dass das Innenministerium nicht mehr richtig funktionsfähig war. Georgien zerfiel, aber sein Präsident klammerte sich weiter an die Macht. “Wie Gorbatschow und der aserbaidschanische Präsident Alijew ist Schewardnadse zwar ein hervorragender Taktiker”, so der Politikwissenschaftler Ghia Nodia aus Tbilissi, “aber er hat keine Vorstellung davon, was er langfristig erreichen will.”

Die einstige Opposition repräsentiert den westlich beeinflussten Teil der Gesellschaft. Ihre Galionsfigur ist der 37-jährige Michail Saakaschwili, ein in den USA ausgebildeter Rechtsanwalt, der bei den Präsidentschaftswahlen am 4. Januar als Kandidat der Opposition antrat und für den sich über 90 Prozent der Wähler aussprachen. Er steht für eine breite Schicht der städtischen Gesellschaft, die von der starren, sowjetisch geprägten Bürokratie die Nase voll hat und Georgien nach Europa führen will.

Bei ihrer Rebellion gegen Schewardnadse hatten diese Kräfte die Unterstützung der US-Regierung und der Europäischen Union. Nach ihrem Sieg jedoch stehen sie vor einem Berg von Problemen. Das Land muss seine Beziehungen mit den Nachbarn im Norden verbessern und äußerst umsichtig mit den alten und neuen separatistischen Tendenzen umgehen. In den bisherigen Beziehungen zu Abchasien und Südossetien hatte die Regierung in Tbilissi ihr Angebot von Friedensgesprächen immer wieder mit Invasionsdrohungen orchestriert, sich dann aber weder zur Normalisierung der Beziehungen noch zu ernsthaften militärischen Aktionen durchgerungen. Die Machtübernahme durch die Opposition führt jetzt zu neuen Spannungen mit Abchasien, das sich seit Anfang der 1990er-Jahre wie ein quasi unabhängiges Staatsgebilde aufführt. Doch die größte Herausforderung für die neue Führung Georgiens liegt in der Innenpolitik: Sie muss die Bevölkerung davon überzeugen, dass ihre Vision der Westorientierung eine solide und realistische Option darstellt. Gelingt ihr das nicht, dürften in der Gesellschaft neue Fronten entstehen.

In Armenien verliefen die Dinge etwas anders. Im April 2002 hatte die Regierung den beiden einzigen nicht staatlichen Fernsehstationen (“Noyan Tapan” und “A1 Plus”) die Sendelizenz entzogen. Präsident Robert Kotscharjan hatte in seinem Wahlkampf mit Slogans geworben, die politische Stabilität und den Wiederaufbau des Landes versprachen. Unterstützt wurde seine Kandidatur von der Armee (sein Wahlkampfleiter war Verteidigungsminister Serge Sarkissian), von der staatlichen Bürokratie und von den neuen Herren der armenischen Wirtschaft, die man allgemein als “die Oligarchen” bezeichnet.

Bei der Wahl war die einzige Überraschung, dass Kotscharjan im ersten Durchgang weniger als 50 Prozent der Stimmen erreichte, was einen zweiten Wahlgang nötig machte. Dabei war sein Gegenkandidat der Vertreter der vereinigten Opposition, Stepan Demirchian, dessen Vater das sowjetische Armenien während der Breschnew-Ära regiert hatte. Bei den Wahlen kam es zu Unregelmäßigkeiten, zu Demonstrationen der Opposition und zu Verhaftungen. Auch die Medien nahmen einseitig Partei für den Amtsinhaber. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die Wahlbeobachter entsandt hatte, stellte in ihrem Abschlussbericht fest, die Wahlen hätten demokratischen Maßstäben nicht entsprochen. Die OSZE kritisierte auch, es habe am politischen Willen gefehlt, die geltenden Wahlvorschriften umzusetzen. 2

Robert Kotscharjan hat einen langen politischen Weg hinter sich. Von 1992 bis 1998 stand er an der Spitze der international nicht anerkannten Republik Berg-Karabach. Die härteste Bewährungsprobe während seiner Amtszeit als armenischer Staatspräsident kam am 27. Oktober 1999, als fünf bewaffnete Männer das Parlamentsgebäude in Eriwan stürmten und acht Menschen ermordeten, darunter den Ministerpräsidenten Vasgen Sarkissian und den Parlamentspräsidenten Karen Demirkian. Das Massaker stürzte das Land, in dem sich gerade die ersten Anzeichen einer Stabilisierung zeigten, in eine tiefe politische Krise. Schließlich hatte es ein Jahrzehnt des Niedergangs, das fürchterliche Erdbeben des Jahres 1988 und den Krieg mit dem Nachbarland Aserbaidschan hinter sich. Jetzt begann eine neue Phase der – allerdings intern verursachten – Instabilität. Doch Kotscharjan gelang es, seine Gegner geschickt gegeneinander auszuspielen und das Land schließlich unter seine Kontrolle zu bringen. Seine zentrale Wahlparole von der Stabilität war daher gleichbedeutend mit dem Versprechen von Kontinuität der Machtverhältnisse.

Doch ein solcher Begriff von Kontinuität hat seinen Preis. Der frühere Präsident Lewon Ter-Petrosjan hatte sich auf die Kader der Karabach-Kämpfer gestützt. Kotscharjan dagegen fand seine politische Basis in der Armee und bei den neuen Oligarchen. Einige Beobachter schätzen, dass etwa ein Viertel der Parlamentssitze, die nach den Wahlen im Mai 2003 verteilt wurden, an die neuen Wirtschaftsführer gefallen ist.3 Demgegenüber konnten weder die Kommunistische Partei (ACP) noch die Armenische Nationalbewegung (ANM) oder eine der aus ihnen hervorgegangenen Splittergruppen auch nur einen Sitz erringen. Die früheren Herrscher spielen also im politischen Leben Armeniens kaum noch eine Rolle und sind nicht einmal mehr im Parlament vertreten.

Wie zu Sowjetzeiten kontrollieren auch die heutigen politischen Machthaber den Zugang zu sämtlichen militärischen und ökonomischen Ressourcen. Kommunisten und Nationalisten haben, seit sie Macht eingebüßt haben, auch keinen Zugriff mehr auf irgendwelche Fleischtöpfe. Die beiden Parteien sind schon deshalb außerstande, sich politisch neu zu erfinden, weil es für sie einfach keine neue Rolle gibt.

Allem Anschein nach kann der Präsident die versprochene Stabilität tatsächlich garantieren. Aber zugleich vollzieht sich unter der politischen Oberfläche ein grundlegender Wandel. Die armenische Regierung kündigt für das laufende Jahr ein zweistelliges Wirtschaftswachstum an, aber offenbar profitieren nicht alle von dem Boom. Im Zentrum von Eriwan eröffnen ständig neue Restaurants und Luxusgeschäfte, die Straßen sind voll gestopft mit importierten Autos. Aber wer sich in den Vorstädten umsieht oder gar in die gebirgigen Regionen Armeniens fährt, fühlt sich in eine andere Zeit zurückversetzt.

In Aserbaidschan hat Hejdar Alijew den Wahlsieg seines Sohnes Ilham sorgfältig geplant. Seit Januar 1999, als die ersten Symptome seiner Krankheit auftauchten, hat er ihn als seinen Nachfolger an der Spitze des Landes aufgebaut. Zu diesem Zweck wurde er mit Titeln und Posten überhäuft: Chef des Nationalen Olympischen Komitees, Leiter der aserbaidschanischen Parlamentsdelegation beim Europarat, Vizechef der Staatspartei Yeni Aserbaidschan (Neues Aserbaidschan) und anderes mehr. Doch am 15. Oktober 2003 traten sowohl der Vater als auch der Sohn zu den Präsidentschaftswahlen an. Der 80-jährige Hejdar Alijew, der das Land seit 1969 regiert hatte, klammerte sich also weiter an die Macht. Dabei hatte er im April während einer Ansprache vor Kadetten einen Herzinfarkt erlitten und war zusammengebrochen, hatte sich dann aber wieder aufgerappelt, um seine Rede zu beenden. Nach einem zweiten Herzanfall ließ er sich in einem Krankenhaus in Cleveland in den USA behandeln. Am 4. August ernannte er Ilham per Dekret von seinem Krankenbett aus zum Ministerpräsidenten. Am 12. Dezember starb Hejdar Alijew in den USA.

Kasinogänger und Frauenheld

Der junge Alijew hat den typischen Werdegang des Sprösslings eines sowjetischen Spitzenpolitikers. Er studierte an der MGIMO, der Elitefakultät für Internationale Beziehungen in Moskau, wo er später auch ein Lehramt ausübte. Von 1991 bis 1993 lebte er als “Businessman” in Istanbul, wo er die Spielcasinos frequentierte und hinter den Frauen her war. Nach der Rückkehr seines Vaters nach Baku wurde Ilham Alijew zum Vizedirektor des staatlichen Erdölmonopolisten Socar ernannt und konnte in dieser Rolle lukrative Verträge mit ausländischen Unternehmen aushandeln.

Mit seinem weichen Charakter scheint er allerdings nicht so recht gewappnet für die rauen Sitten, die im politischen Leben der Kaukasusrepubliken herrschen. Bei den Auseinandersetzungen innerhalb der Partei und in den Sportklubs von Baku hat er sich als wenig durchsetzungsfähig erwiesen. Viele Beobachter fragen sich, ob er tatsächlich das Ruder in der Hand behalten kann oder ob nicht doch über kurz oder lang die engsten Vertrauten seines Vater zu den eigentlichen Machthabern werden.

Nach den offiziellen Wahlergebnissen vom Oktober gingen 80 Prozent der Stimmen an Ilham Alijew und 12 Prozent an den Führer der größten Oppositionspartei, Isa Gambar. Es soll jedoch Exit-Polls – Nachwahlumfragen direkt an den Ausgängen der Wahllokale – geben, die für Gambar 46 Prozent und für Alijew 24 Prozent der Stimmen voraussagten. Kein Wunder also, das viel von massenhaften Stimmenmanipulationen die Rede war. In der Wahlnacht wurden die Büros der Oppositionspartei Musawat (Gerechtigkeit) angegriffen und mehrere tausend protestierende Demonstranten von der Polizei brutal zusammengeschlagen, wobei vier Menschen zu Tode kamen. Sieben führende Oppositionspolitiker und 200 ihrer Gefolgsleute wurden verhaftet.4

Die OSZE äußerte sich relativ zurückhaltend und wiederholte lediglich “fast wörtlich ihr Urteil über die erste Runde der armenischen Präsidentschaftswahlen vom Februar”5. Den westlichen Außenpolitikern sind Fortschritte in der Demokratisierung des Landes offenbar nicht so wichtig wie die Herstellung eines Gleichgewichts zwischen Aserbaidschan und seinem benachbarten Rivalen Armenien, weil das die Verhandlungen über den Konflikt in Berg-Karabach leichter machen soll. Trotz der Empörung von Menschenrechtsorganisationen über den Wahlverlauf gratulierten deshalb – nachdem Moskau seine Glückwünsche geschickt hatte – die Regierungen in Washington, Paris und anderen westlichen Hauptstädten dem jungen Alijew zu seinem Wahlsieg.

Angesichts dessen argumentiert der Georgier Iwlian Haindrawa, einer der besten Kenner der Region: Zwar sei es durchaus nachvollziehbar, wenn der Westen nicht allzu sehr auf seine Prinzipien poche, um es sich mit einem Herrscher in der ölreichen kaspischen Region nicht zu verscherzen; hingegen sei ihm unverständlich, dass diese Länder “nichts unternehmen, um Leute zu schützen, die für Demokratie und faire Wahlen kämpfen”. Im Übrigen kämen in dem Wahlergebnis zwei neue Entwicklungen zum Ausdruck: Der Staatsapparat habe sich um Ilham Alijew konsolidiert und werde keine innere Opposition aufkommen lassen. Und die gegen die Opposition ausgeübte Gewalt sei ein Treuebeweis für den neuen Herrscher, der wahrscheinlich die Musawat-Partei ausschalten werde.

Doch ist längst nicht ausgemacht, dass Alijew junior seine Macht wirklich konsolidieren kann, noch steht fest, was aus der Opposition wird. Zum einen bleibt abzuwarten, ob die Loyalitäten des Apparates über den Tod des alten Alijew hinaus weiterfunktionieren, oder ob nicht doch einer der starken Männer aus dem “Nachitschewan-Clan” einen ganz persönlichen Ehrgeiz entwickeln wird. Zweitens wird die Opposition, falls die Musawat-Partei unterdrückt wird oder nur noch eine untergeordnete Rolle zugewiesen bekommt, in den Untergrund gedrängt. Wie in den meisten postsowjetischen Staaten gibt es auch in Aserbaidschan reichlich Gründe für politischen Dissens. Die Erdölerlöse fließen an Leute in Baku, die über gute Kontakte zur Regierung verfügen, während die anderen Städte weder Wasser noch Heizmaterial haben. Im Übrigen könnte, wenn die rechts gerichteten Nationaldemokraten aus dem politischen Leben ausgeschaltet werden, dieses Vakuum durch eine neue Strömung radikaler Islamisten gefüllt werden.

Das befürchtet jedenfalls Arif Junusow, der den politischen Islam in Aserbaidschan untersucht hat: “Früher war der islamische Fundamentalismus begrenzt auf die ethnischen Minderheiten aus dem Nordkaukasus” – die fast alle Sunniten sind -, “seit 1999 jedoch breitet sich der radikale Islam im ganzen Land aus: Heute gibt es 260 Moscheen, die fundamentalistischen Predigern unterstehen”, meint Junusow. Die Islamisten werfen den Erdölfirmen vor, dass sie schuld an der Korruption seien. Sie verurteilen den westlichen Einfluss, den sie als die wichtigste Stütze des gegenwärtigen Regimes bezeichnen und als den Hauptgrund für den moralischen Niedergang der Gesellschaft.

Trotz der ständig steigenden Einnahmen des Staates aus den Ölexporten steht in Aserbaidschan längst nicht alles zum Besten. So protestierten zum Beispiel die Bewohner von Nardaran, einem Dorf mit einem Heiligen Schrein und einer besonders frommen Bevölkerung, im Juni 2002 gegen die Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen. Das Dorf hatte kein Gas und litt unter ständigen Stromausfällen. Als die Polizei mit Gewalt gegen die Proteste einschritt, wurde ein Demonstrant getötet, Dutzende wurden verletzt. Es gab viele Verhaftungen; heute ist das Dorf von Militärposten umstellt. Für die Unruhen machte die Regierung ausländische Mächte, islamische Fundamentalisten und sogar die al-Qaida verantwortlich.

Im September 2002 protestierten zweitausend Kadetten der Militärakademie gegen die schlechten Bedingungen und die Korruption an ihrer Lehranstalt, nachdem die Leitung der Akademie von türkischen auf aserbaidschanische Offiziere übergegangen war. Dieser Vorfall war ein deutliches Indiz für die Spannungen, die mangelnde Disziplin und die korrupte Atmosphäre, die innerhalb der militärischen Führung herrschen. Einige Beobachter ziehen daraus den Schluss, dass die nach dem Karabach-Krieg angefangene Militärreform gescheitert sei. Für die politische Führung könnte das ein Problem sein, denn sie betont, dass eine erneute militärische Aktion zur Lösung des Konflikts um Berg-Karabach keineswegs ausgeschlossen sei.

Mittlerweile zeichnet sich eine neue Entwicklung ab. Am 13. November 2003, einen Monat nach den Wahlen, wurde die Zentrale der Musawat-Partei aus ihrem gemieteten Palais im Stadtzentrum von Baku vertrieben. Tags darauf erfolgte ein Urteil des Obersten Gerichtshofs, das Alikram Alijew, den Kopf der verbotenen Islamistischen Partei, auf freien Fuß setzte. Er war im Zusammenhang mit den Unruhen in Nardaran verhaftet und zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilt worden. Es fragt sich also, ob die Führung des Landes womöglich ihre harte Haltung gegenüber der islamistischen Opposition aufgeben und zugleich die nationalistische Opposition ausschalten möchte.

Vor zehn Jahren wurde das politische Leben in der Kaukasusregion durch heftige ethnische und territoriale Konflikte erschüttert. Doch Fragen wie die nach dem Status von Karabach oder Abchasien haben die Wähler in den jüngsten Wahlen kaum beschäftigt. Das beherrschende Thema war die Korruption der herrschenden Klasse und der Wunsch der Wähler nach politischem Wandel. Doch einen Machtwechsel hat noch keine der Wahlen, die im Kaukasus seit der Unabhängigkeit stattfanden, herbeigeführt. Das gilt in gewisser Weise auch für die aktuelle Situation in Tbilissi, denn dort wurde die “Rosenrevolution” nicht durch den Wahlakt, sondern durch den Wahlbetrug angestoßen.

Was bis vor kurzem in Georgien funktionierte, wird wohl auch künftig die Regel bleiben. Die Präsidenten halten sich an der Macht und setzen für dieses Ziel alle verfügbaren Mittel ein: Sie kontrollieren die Stimmabgabe beim Militär, sie missbrauchen die staatlichen Medien als Instrumente ihrer Propaganda, und wenn nötig “korrigieren” sie auch die Wahlergebnisse. Und die internationale Gemeinschaft verliert ein paar kritische Worte über den Wahlbetrug und geht anschließend wieder zur Tagesordnung über. Die Bürger der Kaukasusländer haben noch immer keine echten politischen Rechte, also auch keine Instrumente, um ihre sozialen und ökonomischen Rechte durchzusetzen. Zwölf Jahre nach dem Ende der Sowjetherrschaft ist die Politik nach wie vor die Domäne einer kleinen Gruppe Auserwählter.

Die erste Runde der armenischen Präsidentschaftswahlen wurde am 15. Februar 2003 abgehalten, ein zweiter Durchgang am 2. März. Am 25. Mai folgten dann Parlamentswahlen. Die Präsidentschaftswahlen in Aserbaidschan fanden am 15. Oktober statt, die Parlamentswahlen in Georgien am 2. November 2003.

OSZE-Bericht über die armenischen Präsidentschaftswahlen: http://www.osce.org/odihr/documents/reports/election_reports/am/am_19feb2003 _efr.php3

Richard Grigorian, "Whose Interests do Armenian Oligarchs Serve?", Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE/RL), Prag, 20. Oktober 2003.

ANS TV, Baku, 19. Oktober 2003.

RFE/RL, Newsline, Prag, 17. Oktober 2003. Der OSZE-Bericht veranlasste eine Gruppe von 188 Wahlbeobachtern des Institute for Democracy in Eastern Europa, am 18. Dezember eine Erklärung abzugeben, in der sie sich von der beschönigenden OSZE-Position distanzierten.

Published 27 January 2004
Original in English
Translated by Niels Kadritzke

Contributed by Le monde diplomatique © Le monde diplomatique Eurozine

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