Antisemitismus im Gepäck
Der Antisemitismus kehrt in West- und Osteuropa in unterschiedlichen Formen zurück. Wie es dazu kommen konnte und worin die Unterschiede zwischen Ost und West bestehen, untersucht György Dalos in diesem Artikel.
Der Antisemitismus, als Zerrbild des Judentums, hatte wie dieses immer schon viele Gesichter. Seitdem der Versuch, ihn als systematische Ideologie in die Tat umzusetzen, zum Völkermord führte, lebt er wie ein Parasitenvirus in beliebig vielen Variationen weiter, von relativ harmlosen, manchmal unreflektierten Vorurteilen bis zur offenen, auf den Rang der Politik gehobenen Hassrede. Weder ihre “feineren” noch die “roheren” Macharten existieren allein genommen: Mal paaren sie sich mit dem schriftstellerischen Neid auf einen erfolgreichen Kollegen, mal bilden sie Bestandteil einer erstaunlich “antikapitalistisch” anmutenden Kritik der jeweiligen Zustände.
Der europäische Antisemitismus von heute will sich nicht mehr auf irgendeine Windrichtung festlegen. Vielmehr erscheint er als Träger unterschiedlicher Werte. Wie etwa ein Wahlslogan der rechtspopulistischen Partei von István Csurka auf allen Rolltreppen der Budapester Metro verkündet hatte: “Weder rechts noch links – christlich und ungarisch”. Im Unterschied zu ihren Vorgängern reagierten die Judenfeinde der Neunzigerjahre zunächst empört auf die Anklage, sie seien Antisemiten. Inzwischen finden sie Dementis dieser Art zunehmend überflüssig: Der Gewöhnungseffekt tut das Seine.
Die zwölf Jahre, die uns vom Untergang des Ostblocks trennen, verliefen auf unserem Kontinent äußerst dramatisch. Das heikle Gleichgewicht der beiden Systeme ist zusammengebrochen. Die abstrakte Kriegsgefahr, die früher in Gestalt einer nuklearen Katastrophe zwischen den beiden Supermächten erschien, teilt sich nun auf Dutzende potenzielle Gegner auf und ist damit weniger berechenbar denn je. Europa büßt seine frühere Bedeutung als Vermittler zwischen Ost und West ein, es wird selbst zum ersten Mal seit 1945 ein Terrain von bewaffneten Auseinandersetzungen. Die Labilität und die aus ihr resultierende massenhafte Migration verursachen jene Psychose, in welcher der neue Antisemitismus agieren kann.
Mit der Spaltung Europas begannen sowohl der östliche als auch der westliche Antisemitismus ein Eigenleben. In den östlichen Diktaturen war er strikt verboten, gelegentlich wurde er für Kampagnen gegen “Kosmopoliten” oder “Zionisten” instrumentalisiert, wobei sowohl die Sprachregelung als auch die Dauer der Kampagne von höchsten Stellen bestimmt wurden. Da jedoch gleichzeitig die “jüdische Frage” mit Tabus belegt wurde und Meinungsforschung kaum existiert hatte, fehlte es auch an Wissen über die potenzielle Judenfeindlichkeit.
In Westeuropa konnte hingegen die Öffentlichkeit nicht zentral gelenkt werden. Trotzdem gelang es in den meisten demokratischen Staaten, den Antisemitismus an den Rand der Legalität zu drängen. Erst in den Siebziger- und Achtzigerjahren, in der Phase der Entspannung, lösten sich die Zungen. (Freudsche Versprecher um die Waldheim-Affäre, David Irvings “Geschichtsschreibung”, Le Pens Äußerungen über Auschwitz als “Episode” usw.) Gleichzeitig konnte das Phänomen durch wissenschaftliche Forschungen jederzeit erfasst und ausgewertet werden.
Diese unterschiedlichen Werdegänge führten mit dazu, dass das Erscheinen – in Wirklichkeit Wiedererscheinen – des Antisemitismus am demokratischen Horizont der Reformstaaten viele Beobachter schockiert hatte. Das Ende des “real existierenden” Sozialismus setzte tatsächlich beängstigende Energien frei. Im Osten entstand eine Mischung aus nachträglichem, und deshalb besonders fanatischem Antikommunismus sowie Versatzstücke der Gesinnungspolitik der Vorkriegszeit. Die Protagonisten dieser “Weltanschauung” wählen mit Vorliebe Liberale, Roma, Juden, überhaupt Andersdenkende, -fühlende und -aussehende zur Zielscheibe. Ihre Sprache ist primitiv, ihr Hass barbarisch, und sie sind zunehmend in den alten und neuen Medien präsent.
Eben ihr barbarischer Charakter ließ darauf hoffen, dass eine Konvergenz zwischen den beiden Strömungen kaum zustande kommen kann. Tatsächlich gab es anfänglich Verständigungsschwierigkeiten: Schönhuber fand bei seinem Budapester Besuch Csurka offensichtlich zu radikal; Le Pen konnte wenig mit dem slowakischen Rechtsguru Slota anfangen, und Haider verhielt sich vorsichtig.
Nach dem Scheitern der offensichtlich unüberlegten Sanktionen gegen Österreich fühlten sich viele östliche Antisemiten ermuntert. Mit Orbáns Fidesz entstand – nunmehr als Oppositionspartei – eine starke “christlich-nationale” Mitte, die rechtsradikale Stimmungen und Stimmen absorbiert, ohne die Salonfähigkeit des Landes zu gefährden. Und spätestens seit dem durchschlagenden Wahlerfolg der Nationalen Front müssen leider die Antisemiten und Rassisten von Polen bis Kroatien keine Angst mehr haben: Sie kommen nach Europa mit.
Published 16 September 2002
Original in German
Contributed by Wespennest © Wespennest eurozine
PDF/PRINTNewsletter
Subscribe to know what’s worth thinking about.