Es ist mir eine große Ehre und Freude, hier und heute über Maria Kalesnikava zu sprechen: eine Frau, die riskiert, die kämpft und die in eine demokratische Zukunft weist. Eine noch größere Freude wäre es natürlich, wenn Maria Kalesnikava bei uns sein könnte, doch sie ist bekanntermaßen inhaftiert in Belarus.
Risiko und Kampf
Viel riskiert hat die 39-jährige Musikerin, Flötistin, Pädagogin und Kulturmanagerin Maria Kalesnikava im Mai 2020, drei Monate vor den für den 9. August angesetzten Präsidentschaftswahlen in Belarus, als sie sich entschied, Leiterin des Wahlkampfteams von Viktor Babariko werden.
Als Babariko dann Mitte Juni festgenommen wurde, weil sein Team 400.000 Unterschriften zu seiner Unterstützung gesammelt hatte, und Sviatlana Tsikhanouskaya als Kandidatin für die Präsidentschaftswahlen zugelassen wurde, hat Maria Kalesnikava den nächsten riskanten Schritt, vielleicht ihren wichtigsten, gewagt – und Sviatlana Tsikhanouskaya unterstützt.
Zusammen mit Veronika Zepkalo, der Leiterin des Wahlkampfteams des weiteren Kandidaten Valery Zepkalo, gründeten diese drei Frauen ein vereintes Wahlkampfteam. Zu ihren Leitideen wurden gleichberechtigte Zusammenarbeit, Offenheit zur Kooperation mit den Bürger*innen, Inklusion und Nutzung der Internettechnologien.
Zum überstrahlenden Symbol aber wurde die Trias von Herz, Faust und Victory-Zeichen. Es entstand, weil Maria Kalesnikava bei ihren gemeinsamen Auftritten mit den Händen ein Herz formte, Swetlana Tichanowskaja eine Faust zeigte und Veronika Zepkalo die Hand zum „Victory“-Zeichen erhob. Schon bald verbreiteten sich Herz, Faust und V-Zeichen, gezeichnet von der belarussischen Künstlerin Antonina S., im Internet und auf Plakaten, Aufklebern, T-Shirts über das ganze Land. Drei Wochen lang begeisterte das „Trio“ mit seinen Wahlkampfauftritten die Menschen in Belarus. Zehn- und Hunderttausende von Belaruss*innen besuchten ihre Kundgebungen in großen und kleineren Städten.
Kampf und Inspiration
Was war die inspirierende Kraft der Maria Kalesnikava? Wie hat sie die Herzen der Menschen erobert?
Seit Juni 2020 hatte sie sich über ihren YouTube-Kanal unermüdlich an die Bürger*Innen des Landes gewandt und sie dazu aufgerufen, sich als Wahlbeobachter zu melden. Scharfsinnig kommentierte sie die Ereignisse und stellte Forderungen an Lukaschenko. Bürger*Innen aller Schichten und Milieus erklärte sie, wie viel die belarussische Gesellschaft bereits erreicht hatte und dass es nun von jeder und jedem Einzelnen abhänge, wie sich das Schicksal des Landes weiterentwickele. Mit der Strahlkraft ihrer Persönlichkeit demonstrierte sie, dass es auf Empathie und Solidarität, Optimismus und Vertrauen in die eigenen Kräfte ankommt, wenn der ersehnte Wandel Wirklichkeit werden sollte.
Unentwegt wiederholte sie ihre zentralen Botschaften: „Wir, Belarussen, sind unglaublich“, „wir müssen rütteln, rütteln, rütteln“, bis das Regime einstürzt. Ihre Botschaften machten allen klar, dass der Kampf für die Demokratie lange dauern kann und dass er nur gemeinsam gewonnen werden kann.
Mit ihrem Appell an die unglaubliche Kraft hat Maria Kalesnikowa intuitiv das wirklich Entscheidende jeder Revolution entdeckt. Denn in den Worten von Asef Bayat über die Arab Spring Revolution gilt: ‘The breakthrough comes only when the ordinary people turn to becoming extraordinary—when the elderly and adolescents, mothers and grandfathers, small sisters or brothers, the poor and the better-off join in to bring such extraordinary acts of rebellion into wider social spectrum, and when these diverse constituencies transcend their sectoral claims in favor of broader claims of all citizens united in a singular movement’.1
Maria Kalesnikava als Feministin
Maria Kalesnikava verkörperte damit die Botschaft des empowerment, und zwar sowohl der gesamten Gesellschaft, die ihren Ausdruck fand in Praktiken der Solidarisierung aller sozialen Gruppen in Belarus, als auch speziell der Frauen als einer gesellschaftlich entscheidenden Gruppe.
Kalesnikava versteht sich ganz ausdrücklich als Feministin und die Förderung der Frauen hat sie sich zur Aufgabe gemacht. Als Gründe für ihr Engagement benannte sie einmal die in Belarus weit verbreitete häusliche Gewalt gegen Frauen sowie die gläserne Decke, an die Frauen im Berufsleben stoßen. Im 2017 sagte sie bei einem Musikfestival in Minsk in diesem Zusammenhang: „Vor wenigen Jahrzehnten war es Frauen verboten, Mitglied in einem Orchester zu werden. Es ist eine große Freude zu sehen, dass sich alles wandeln kann. Die Gesellschaft verändert sich, wir alle verändern uns [. . .] Wir sehen, dass jede von uns eine Stimme hat, die Gehör finden kann. Das ist ein Wunder. Wenn wir uns zu kleinen und großen Orchestern zusammentun, wenn wir das ungeheuer inspirierende Ziel haben, gemeinsam etwas zu erschaffen, dann werden uns wahre Meisterwerke gelingen.“2
Und in einem Interview fügte sie 2021 hinzu: „Es ist empörend, dass es in Belarus bis heute kein Gesetz über häusliche Gewalt gibt. Im Kern ist die Botschaft des Staates: Macht mit den Frauen, was ihr wollt, wir schauen weg. Der Staat legitimiert das Gewaltmonopol des Mannes über die Frau. Warum nimmt es sich das Regime auf so dreiste Weise heraus, kein Gesetz zu verabschieden, das Frauen und Kindern das Leben und ihre physische Unversehrtheit retten würde?“3
Die belarussischen Frauen haben sich mit Maria Kalesnikava und dem vereinten Team in hohem Maße identifiziert. So entstanden die Ketten der Solidarisierung und später, im August 2020, die Märsche der Frauen. In einem Interview erzählten auch Frauen aus der LGBT-Community, wieso Maria Kalesnikava sie zur Teilnahme bewegt habe: „Sie ist zu einem Symbol unserer Sichtbarkeit geworden“, so hieß es aus ihren Kreisen.4
„Mascha, die Heimat ruft!“
Nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen vom 9. August und drei Tagen des Staatsterrors, an denen mehr als sechstausend Menschen im ganzen Lande festgenommen, geschlagen und gefoltert wurden, initiierte Sviatlana Tsikhanouskaya die Gründung eines Koordinierungsrates, um nach Auswegen aus der politischen Krise zu suchen. Maria Kalesnikava wurde am 19. August in das Präsidium gewählt, auch die Nobelpreisträgerin Sviatlana Alexejewitsch war dabei.
Bereits am folgenden Tag eröffnete die Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren gegen die Mitglieder des Präsidiums wegen Gefährdung der nationalen Sicherheit. Es begann eine Verfolgung aller Repräsentanten des Präsidiums. Aber Maria Kalesnikava blieb sichtbar in Minsk. Am 30. August, dem dritten Sonntag des Protestes, war sie vor die „Mauer“ getreten, die mit Spezialfahrzeugen errichtete und von Männern in schwerer Schutzmontur verteidigte Absperrung vor dem Palast der Unabhängigkeit, und hatte den Polizisten zugerufen: „Passt auf euch auf, Jungs. Wir retten euch!“
Videos von dieser Szene, in der Kalesnikava im weißen T-Shirt, die Hände zu einem Herz geformt, den schwarzen Männern entgegentritt, verbreiteten sich wie ein Lauffeuer im Internet. Die internationale Presse machte ihre Berichte mit diesen Bildern auf.
Kalesnikava war den Männern auf der anderen Seite der Barrikade respektvoll, vor allem aber von gleich zu gleich begegnet. Sie erkannte damit an und demonstrierte dem ganzen Land, dass jeder in Belarus eine Geisel des Systems werden kann und dass jene, die es stützen, dies nicht unbedingt wegen sicherer Löhne oder gar aus Bösartigkeit tun.
Eine Woche später, am 7. September 2020, wurde sie in Minsk von Männern in Zivil entführt, an die Grenze zur Ukraine gebracht und aufgefordert, das Land zu verlassen. Sie weigerte sich und zerriss ihren Reisepass. Maria Kalesnikava hatte immer wieder deutlich gemacht, den Kampf gegen Lukaschenko im Lande führen zu wollen.
Als Reaktion darauf erhoben die belarussischen Behörden erfundene Anklagen gegen sie sowie gegen Maxim Snak, der zwei Tage später ebenfalls festgenommen wurde. Die Brester Künstlerin Anna Redko, deren Porträts von Heldinnen und Helden der belarussischen Revolution auf rotem Grund in den Wochen zuvor zu Bekanntheit gelangt waren, fügte ihrer Serie noch am selben Tag ein Bild von Maria Kalesnikava hinzu. Das Porträt greift ein bekanntes sowjetisches Plakat aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs auf – Iraklij Toidzes „Mutter Heimat ruft!“ Ihr Werk nannte Redko „Mascha, die Heimat, ruft!“.
Maria Kalesnikava, die Heldin, hatte sich in eine Legende verwandelt, wie die belarussischen Media berichteten. Frau-Musik, Frau-Lächeln, Frau-Symbol und Frau-Legende wird sie auch heute genannt.
Gefängnis als Fortsetzung des Kampfes: der Weg in die Zukunft
Ein Jahr später, am 6. September 2021, wurde sie zusammen mit Maxim Znak vom Minsker Gericht zu elf Jahren Haft verurteilt. Das Verfahren wurde unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt, alle relevanten Unterlagen dieses Prozesses wurden geheim gehalten.
Maria Kalesnikava und Maxim Snak wurden wegen «Verschwörung zur Machtergreifung mit verfassungswidrigen Mitteln» sowie «Gründung und Führung einer extremistischen Organisation» (gemeint war der Koordinierungsrat) angeklagt und schuldig gesprochen. Auch sollen sie unter Nutzung von Massenmedien und des Internets zu Handlungen aufgerufen haben, «die darauf abzielen, der nationalen Sicherheit zu schaden».
Die Oppositionelle Maria Kalesnikava wird in einer Strafkolonie in Gomel, 300 Kilometer von Minsk entfernt, gefangen gehalten und trägt eine gelbe Markierung, die sie als politischen Häftling brandmarkt.
Sie ist eine unter den mehr als 1400 politischen Gefangenen in Belarus. 1000 NGO’s wurden in Belarus in den Jahren 2021/22 erzwungenermaßen aufgelöst. Jeden Tag werden weitere Belaruss*innen festgenommen, verurteilt, durchsucht. Nach dem 24. Februar 2022 versuchen die Menschen, ihren Protest gegen die Komplizenschaft von Lukaschenkos Regime im russischen Krieg geben die Ukraine zu zeigen – mehr als 1000 Menschen wurden wegen Solidarisierung mit der Ukraine festgenommen, einige davon schon zu Lagerhaft verurteilt.
Tatjana Khomich, Schwester der Inhaftierten und selber Menschenrechtenkämpferin, hat uns überliefert: „Während ihrer Untersuchungshaft in Minsk war Maria Kalesnikava 16 Monate in Isolationshaft und konnte ihre Zelle nur einmal am Tag für eine Stunde verlassen… Maria muss Kleidung nähen – für medizinisches Personal, aber auch Uniformen für Polizisten und Soldaten.“
„Maria ist in guter Stimmung, manchmal scherzt sie sogar während unserer Gespräche. Dann lachen wir beide. Das mag überraschend sein zu hören. Aber das zeigt, wie stark sie ist.“
„Ihr größter Traum ist, dass Belarus ein freies und demokratisches Land wird. Und sie will uns alle wiedersehen: unsere Familie, ihre Freunde, die fliehen mussten oder inhaftiert wurden. Sie ist sicher, dass dieser Tag irgendwann kommen wird.“
„Am notwendigsten,“ so setzt Maria Kalesnikava fort, „ist es, einander zu helfen und einander zu unterstützen… uns verbindet ein gemeinsames Ziel – das freie und demokratische Belarus, in dem der Mensch den höchsten Wert hat…Das Regime hat für Belarus den Weg ins Nichts gewählt, deswegen müssen wir schon jetzt darüber nachdenken, wie wir aussteigen können und Lösungen für die Zukunft suchen, d.h. schon jetzt über die wirtschaftlichen und internationalen Verhältnisse, über die Zivilgesellschaft, die Gesetzgebung und vieles andere nachdenken.“
Ich hoffe darauf, dass diese Ehrenprofessur sowohl Maria Kalesnikava als auch uns allen, den Belarus*Innen und Buerger*Innen anderer Länder, zusätzliche Motivation und Kräfte verleiht, um für ein demokratisches Belarus, für die Befreiung aller politischen Gefangenen in diesem Lande und für die Unterstützung der mit diesem Regime nicht einverstandenen Belarus*Innen einzutreten und weiter zusammen zu kämpfen.
Nachschrift
Am 29. November 2022 ist bekannt geworden, dass Maria Kolesnikova auf der Intensivstation in Homel liegt, sie wurde operiert, weil sie perforiertes Geschwür erlebt hat. Am 5. Dezember hat ihr Vater sie kurz besucht, sie war schon im Lagerhospital. Das Büro des ehemaligen belarussischen Präsidentschaftskandidaten Viktor Babariko hat berichtet, dass nach den Worten der Lageradministration ihr nicht schlecht geht, aber sie bleibt immer noch im Lagerhospital und ohne die Kommunikation mit ihrem Rechtsanwalt. In Deutschland hat die belarussische Diaspora mehr als 1000 Unterschriften unter dem offenen Brief an den Bundeskanzler mit der Bitte um die diplomatische Vertretung in dieser Situation gesammelt.
Laudatio von Olga Shparaga (Offizielle Verleihung der Ehrenprofessur an Maria Kalesnikava, Universität Mozarteum, Salzburg, 30. Oktober 2022).
Autorin: Zuvorderst möchte ich mich bei den Organisatorinnen dieser Festveranstaltung herzlich bedanken, vor allem beim Solidaritätsnetzwerk Practicing Caring und bei der Rektorin der Mozarteum Uni Elisabeth Gutjahr.
Asef Bayat. Revolutionary Life: The Everyday of the Arab Spring. Harvard University Press 2021. P. 108.
Оркестр – это мы? Мария Колесникова. TEDxNiamiha, https://www.youtube.com/watch?v=HYhnqREKNcA
Olga Shparaga, „Die Revolution hat ein weibliches Gesicht. Der Fall Belarus“, Suhrkamp Berlin 2021, S. 216.
Ebd., S. 71-72.
Published 9 January 2023
Original in German
First published by Eurozine (deutsche Version)
Contributed by Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) © Olga Shparaga / Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) / Eurozine
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