Ägyptische Zeitenwende
Noch nie ist eine Revolution, die so aussichtslos erschien, so schnell und unerwartet in Schwung gekommen. Die ägyptische Revolution, die am 25. Januar begann, besaß weder Anführer, noch war sie organisiert; die entscheidenden Ereignisse am Freitag, dem 28. Januar d.J., fanden statt, als jegliche Kommunikation gesperrt war, einschließlich Internet und Telefon. Sie ereignete sich in einem großen Land, das bekannt ist für seinen beinah komatösen politischen Ruhezustand, eine endlose, ungebrochene Abfolge autoritärer Regierungen und einen beträchtlichen repressiven Apparat mit über zwei Millionen Angestellten. Doch an jenem Tag begann sich das Regime von Hosni Mubarak, das sich über 30 Jahre und scheinbar für alle Ewigkeit an die Macht geklammert hatte, aufzulösen.
Obwohl das Regime weiter kämpfte, brach die staatliche Verwaltung de facto so gut wie zusammen. Die Ministerien und staatlichen Büros wurden geschlossen, und fast alle Polizeihauptquartiere wurden am 28. Januar niedergebrannt. Mit Ausnahme der Armee verschwand jegliches Sicherheitspersonal, und selbst eine Woche nach Beginn des Aufstands wagten sich nur wenige Polizisten wieder auf die Straße. Die Bevölkerung nahm die Sicherung ihrer Wohngegenden selbst in die Hand. Überall beobachtete ich, wie sich Patriotismus in einem kollektiven Stolz darüber äußerte, dass Menschen, die sich vorher nicht kannten, nun einen gemeinsamen Willen zeigten und gemeinsam handelten.
Kein Zweifel: Diese sich immer weiter entfaltende Revolution wird das prägende Ereignis im Leben der Millionen Jugendlichen sein, die in Ägypten ihre Vorhut bildeten, und vielleicht auch der vielen weiteren Millionen junger Menschen, die sie in der gesamten arabischen Welt gespannt verfolgen. Zwar waren in den ersten Tagen die Jungen die treibende Kraft, aber die Revolution verallgemeinerte sich rasch: Nach wenigen Tagen bemerkte ich, dass die Demonstrationen demographisch wesentlich gemischter wurden, und dass Menschen aller Altersgruppen und sozialer Klassen, Männer und Frauen, Muslime und Christen, Städter und Bauern – praktisch alle gesellschaftlichen Gruppen – sich zusammenfanden und entschlossen gemeinsam handelten wie nie zuvor.
Alle, mit denen ich sprach, zeigten ähnliche Reaktionen auf die neuartige Situation: Sie staunten über die wiederentdeckte Nachbarschaftlichkeit, darüber, dass sie erst jetzt ein Bewusstsein dafür erlangten, in einer “Gesellschaft” zuleben, und dass sie sich bislang Fremden auf einmal nahe fühlten. Ich sah, wie Bäuerinnen Demonstranten Zwiebeln gaben, um die schmerzhafte Wirkung des Tränengases zu lindern; wie junge Männer andere überzeugten, sich nicht an vandalistischen Aktionen zu beteiligen; wie Demonstranten vor dem Nationalmuseum ihre Körper als menschliche Schilde gegen Diebe und Brandstifter einsetzten; wie andere sich vor gefangene baltagiyya (vom Regime angeheuerte Schlägertrupps) stellten, mit denen sie sich eben noch geprügelt hatten, um sie vor der Wut anderer Demonstranten zu schützen; und zahllose andere Beweise einer großzügigen Zivilität mitten in der allgemeinen Zerstörung.
Während die globalen Medien Schreckgespenster von unkontrolliertem Chaos, regionaler Destabilisierung und erstarkendem Islamismus ausmalten, erscheinen solche Überlegungen aus der Sicht “von unten” relativ unbedeutend. Als offensichtlich wurde, dass ein Ziel der Revolution, der Sturz des Regimes, in weite Ferne rückte, wurde den Demonstrantinnen und Demonstranten klar, dass dennoch in der Zwischenzeit schon viel erreicht worden war, und sie verwendeten mehr Zeit darauf, diese Leistungen zu betonen, und zwar vor allem, dass aus dem Chaos ein neues ethisches Handeln hervorgegangen ist. Es ist unerlässlich, einige Grundelemente dieses großartigen Ereignisses herauszuarbeiten, wenn man nicht nur die ägyptische Revolution verstehen will, sondern die arabischen Aufstände dieses Jahres insgesamt, die gerade erst begonnen haben. Dazu gehören: die Macht der Peripherie; Spontaneität als Kunst der Bewegung; zivile Achtung und Würde als bewusster ethischer Kontrast zur staatlichen Barbarei; die Priorität von politischen Forderungen vor allen anderen (ökonomische Forderungen eingeschlossen); und die Ignoranz und Abgehobenheit der autokratischen Herrscher.
Vom Rand ins Zentrum
Die Revolution begann in der Peripherie. So war es in Tunesien, wo sie von den bgelegenen Gegenden her zur Hauptstadt drang. Und aus Tunesien, das selbst eine relativ marginale Rolle in der größeren arabischen Welt einnimmt, bewegte sie sich nach Ägypten. Es war auffällig, wie sehr den ägyptischen Jugendlichen bewusst war, dass ihnen das tunesische Vorbild nur zwei Wochen voraus war. Auch in Ägypten war die Peripherie ein wichtiger Faktor. Zwar richteten die Medien ihre Aufmerksamkeit vorwiegend auf den Tahrir-Platz im Zentrum von Kairo, wohin auch ich jeden Tag ging, aber die Möglichkeit, dass sich dort so viele Menschen versammeln konnten, entstand erst am 25. Januar, als in allen zwölf ägyptischen Provinzen Massenproteste ausbrachen. Die Revolution hätte sich nie so entfalten können, wenn sie auf Kairo beschränkt gewesen wäre, und tatsächlich entwickelte sich ihre größte Schubkraft, als offensichtlich wurde, dass es sich hier um eine Revolution handelt, an solch peripheren Orten wie Suez.
Die Spontaneität der Revolution
Die Revolution erhielt sich ihren spontanen Charakter dadurch, dass keine permanente Organisation sie plante oder ausführte. Stattdessen wurden wichtige organisatorische Entscheidungen – beispielsweise wie man kommunizieren könnte, was am nächsten Tag zu erledigen sei, wie die Verwundeten zu evakuieren seien, wie die Angriffe der baltagiyya abgewehrt werden könnten, und selbst wie man Forderungen formulieren sollte – direkt aus der Situation heraus getroffen und an die sich ständig verändernde Lage angepasst. Außerdem hatte die Revolution keinerlei anerkannte Führung. Ich beobachtete mehrere Diskussionen, in denen Beteiligte sich heftig dagegen sträubten, von einer Person oder Gruppe – egal wem! – vertreten zu werden, ebenso wie sie sich gegen jegliche Forderung wehrten, “Repräsentanten” zu bestimmen, die für sie (etwa mit al-Azhar oder der Regierung) sprechen konnten. Ein häufig gehörter Satz war, dass nur “das Volk” Entscheidungsgewalt besitzt.
Spontaneität war ein Schlüsselaspekt der Revolution, die aus diesem Grund unberechenbar und schwer zu kontrollieren war; sie verlieh ihr ein ungewöhnliches Maß an Dynamik und Leichtigkeit – jedenfalls so lange, wie viele Millionen vollständig der gemeinsamen Absicht, das Regime (und den Präsidenten) zu stürzen, verpflichtet blieben.
Aber Spontaneität bestimmte nicht nur Ideologie und Organisation, sondern wirkte zugleich therapeutisch. Viele der Teilnehmer bemerkten mir gegenüber, wie psychologisch befreiend sie die Revolution empfanden, denn die Repression, die sie lange in Form von Selbstkritik und Schwäche verinnerlicht hatten, konnte nun in nach außen gerichtete, positive Energie und Selbstbewusstsein umgewandelt werden.
Darüber hinaus ist es der Spontaneität zuzuschreiben, dass sich der Horizont der Forderungen der Aufständischen fortlaufend erweiterte: von dem Ruf nach grundlegenden Reformen am 25. Januar, über die Absetzung der Regierung drei Tage später, die Zurückweisung aller Konzessionen des Mubarak-Regimes, bis hin zur Forderung, Mubarak vor Gericht zu stellen. Tatsächlich war die Möglichkeit, Mubarak zu stürzen, am 25. Januar noch von niemandem ernsthaft erwogen worden; Spruchbänder bei den ersten Demonstrationen verdammten lediglich die Kandidatur seines Sohnes für das Präsidentenamt und forderten Mubarak dazu auf, nicht wieder anzutreten. Aber am Abend des 28. Januar war die Forderung von Mubaraks Absetzung zum Prinzip geworden, von dem nun niemand mehr abwich. Spontaneität, der Kompass der Revolution, wandelte sich vom Mittel zu ihrem radikalen Zweck.
Darum erwies es sich als schwierig, Demonstranten dazu zu bewegen, den spontanen Charakter der Revolution aufzugeben, denn die Spontaneität hatte sich als Quelle ihrer Macht erwiesen. Spontan war auch die Art und Weise, in der die karnevaleske Umkehrung des gesellschaftlichen Lebens die darstellerische Form dieser Revolution bestimmte, nämlich als Ausdruck von Freiheit und Kreativität. Zum Beispiel sah ich, dass die große Mehrzahl der vielen tausend Schilder, die Demonstranten mitbrachten, von ihnen selbst gemacht waren, aus allen möglichen Materialien gebastelt und von ihren Schöpfern stolz geschwenkt wurden. Die Spontaneität war zudem unerlässlich für das Bilden von Netzwerken, denn die Revolution entstand im Wesentlichen aus der spontanen Gestaltung des alltäglichen Lebens, in dem detailliertes Planen weder nötig noch möglich war.
Aber so wichtig die Spontaneität auch für den Erfolg der Revolution war, sie bedeutete zugleich, dass der Übergang zu einer neuen Ordnung von bestehenden Kräften innerhalb des Regimes und der organisierten Opposition orchestriert werden würde, weil die Millionen auf der Straße keine allgemein anerkannte, einheitliche Vertretung hatten. Allerdings kümmerte das die meisten Demonstranten, mit denen ich sprach, relativ wenig. Ihnen waren grundlegende Bedingungen wichtig, denen sich jedes zukünftige System, egal wie es bestellt sein würde, beugen muss. Nach einer Woche hatten sich folgende Forderungen herauskristallisiert: Der Diktator muss gehen; das Parlament muss aufgelöst und ein neues gewählt werden; die Verfassung muss abgeändert werden, um die Macht des Präsidenten einzuschränken und mehr Freiheiten zu garantieren; der Ausnahmezustand muss beendet werden; und korrupte Inhaber hoher staatlicher Ämter sowie all jene, die Schießbefehle während der Massendemonstrationen erlassen hatten, müssen vor Gericht gestellt werden.
Zivil statt religiös
Es war bemerkenswert, wie religiöse Bezüge fast durchweg von einer zivilen Ethik verdrängt wurden, die als universell und selbstverständlich postuliert wurde. Diese Entwicklung ist in Ägypten vielleicht noch überraschender als in Tunesien, denn in Ägypten war die religiöse Opposition immer stark gewesen und hatte sich durch praktisch alle Sektoren des gesellschaftlichen Lebens gezogen. Die Muslimbruderschaft hatte sich den Protesten mit leichter Verspätung angeschlossen und schien – wie alle organisierten politischen Kräfte im Land – von den sich überschlagenden Ereignissen überrascht zu sein. Sie war nicht in der Lage, die Proteste zu lenken, was die Regierung (und ihre regionalen Verbündeten) indessen nicht davon abhielt, den Einfluss der Islamisten maßlos zu übertreiben.
Diese erstaunliche Tatsache resultiert meiner Ansicht nach aus den oben bereits erläuterten Faktoren, der Macht der Peripherie und der Spontaneität. Beide Prozesse zogen die Politisierung vormals unbeteiligter Segmente nach sich, und sie korrespondierten mit breiten Forderungen, die sich keiner religiösen Sprache bedienten. Im Gegenteil, Religion erschien eher als Hürde angesichts der noch vor kurzem akuten, religiös motivierten Gewalt in Ägypten, und widersprach dem Charakter der Revolution als jenseits aller gesellschaftlicher Trennlinien, einschließlich denen zwischen Religionen und zwischen frommen und weltlich eingestellten Menschen. Mir wurde die Bedeutung dieser Veränderung bewusst, als ich Mitglieder der Muslimbruderschaft dabei beobachtete, wie sie in den allgemeinen Chor nach einem zivilen (madaniyya) Staat einstimmten – der explizit von zwei möglichen Alternativen unterschieden wird: dem religiösen (diniyya) oder militärischen (askariyya) Staat.
Die Dominanz der politischen Dimension
Besonders auffällig war die Tatsache, dass radikale politische Forderungen nach dem 28. Januar absoluten Vorrang vor allen anderen Beschwerden erlangten; selbst wirtschaftliche Reformen wurden als sekundär betrachtet. Politische Forderungen wurden mit größerer Deutlichkeit formuliert und erhielten die breiteste Zustimmung. Jeder schien die Auffassung zu teilen, dass alle anderen Probleme besser gelöst werden könnten, wenn erstmal ein verantwortungsvolleres politisches System errichtet wäre. Im Ruf nach dem Kampf gegen die Korruption bündelten sich die vielfältigen ökonomischen Beschwerden und ihre Übersetzung in einen für alle verständlichen politischen Kerngedanken. Diese zentrale Forderung lag auch deshalb nahe, weil das politische System im Wesentlichen auf die dreiste Ausraubung der Bevölkerung gründete. Schon Monate vor der Revolution konnte buchstäblich jeder, dem ich in Ägypten begegnete, eine Geschichte davon erzählen, wie unverschämt und unbehelligt sich eine Elite von miteinander verfilzten Geschäftsleuten und Politikern am System bereicherte. Dabei handelte es sich vor allem um eine Clique um Mubaraks Sohn Gamal herum. Einige von ihnen, hörte ich, hatten die Schlägertypen angeheuert, welche die Demonstranten am 2. und 3. Februar zwei lange Nächte lang terrorisierten.
Autokratische Abgehobenheit
Wie überall in der arabischen Welt war ein wichtiger Faktor die Ignoranz der Autokraten. Der massive Groll der Bevölkerung war über die Jahre von den regierenden Eliten selbst geschürt worden, bis er sich wie ein Vulkan entlud. Im Laufe ihrer endlosen Amtszeiten, ungestört von jeder echten Opposition, verloren sie vollständig den Kontakt zur Bevölkerung und wurden gleichgültig gegenüber öffentlichen Belangen. Sie hörten das Rumpeln nicht, und als sich der Lavastrom der Revolution über sie ergoss, nahmen sie nichts wahr als undifferenzierten Lärm. Die Einbahnstraße der autokratischen Kommunikation ließ keine Rückmeldungen oder Korrekturen zu. Am 28. Januar, als Ägypten in Flammen aufging und viele internationale Politiker ihrer Besorgnis öffentlich Ausdruck verliehen, blieb die ägyptische Regierung stumm – bis Mubarak schließlich doch um Mitternacht das Wort ergriff und dann genau das Gegenteil von dem sagte, was alle von ihm erwartet hatten. Er glaubte, dass er den Demonstranten gewichtige Zugeständnisse machte, aber seine Ansprache (wie ihm jeder intelligente Berater hätte vorhersagen können) konnte nur als Provokation aufgefasst werden und führte denn auch zu vermehrten Protesten.
Der Präsident selbst bekundete, er könne unter keinen Umständen zurücktreten, da das Land sonst im Chaos versinken würde – eine erstaunliche Erklärung, die zeigte, dass er nicht begriffen hatte, was jedem im Land klar war: Das Chaos war bereits ausgebrochen.
Dass am 2. Februar einige von Mubaraks Anhängern nichts besseres zu tun hatten, als Kamele und Pferde auf den Platz zu schicken, um die Menge auf dem Tahrir-Platz zu zersprengen, war nur typischer Ausdruck des antiquierten Charakter dieses Regimes. Im Gegensatz dazu verkörperten die Bürgerkomitees auf Nachbarschaftsebene, ausgestattet mit provisorischen Waffen und ohne große Illusionen, was diese Gesellschaft schon durch die Revolution geworden war: eine politische Gemeinschaft, die ihre Gegenwart selbst in die Hand nimmt, und die dabei ist zu lernen, dass sie auch ihre Zukunft selbst erschaffen kann, jetzt und von unten. In diesem Moment erwuchs aus dem toten Gewicht von jahrzehntelanger Nach-innen-Gewandtheit und Selbstverachtung eine spontane Ordnung aus dem Chaos. Diese Tatsache allein macht große Hoffnung, dass hier eine neue zivile Ordnung entsteht.
Published 18 March 2011
Original in English
Translated by
Katrin Sieg
First published by www.jadaliyya.com / Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2011 (shortened German version) / Eurozine (shortened English version)
Contributed by Blätter für deutsche und internationale Politik © Mohammed Bamyeh / Blätter für deutsche und internationale Politik / Eurozine
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