Abstracts Osteuropa "The Europe beyond Europe. Outer borders, inner limits"

Karl Schlögel
Archipel Europa

Das Europa des Kalten Krieges hat sich aufgelöst. Anstelle eines einst homogenen Raums – “der Osten”, “der Westen” – finden sich jetzt Fragmente, Enklaven, Inseln. Für manchen ist das nur Stückwerk, aber in Wahrheit sind es die Teile, aus denen das neue Europa sich zusammenfügt. Der Zerfall ist die Form der Erneuerung, für einen Augenblick wenigstens. Es bringt mehr, sich an die Fragmente zu halten – sie sind reell – als an das Ganze, das vorerst doch nur ein Versprechen ist. Die offizielle Rhetorik hat dem nachgegeben, wenn sie die Fragmentierung, den Zerfall als Pluralisierung, als “Vielfalt in Einheit” feiert. Der Zerfall ist die Stunde der Desillusionierung, also der Aufklärung. Es zeigen sich dann auch die Kräfte, die ins Spiel kommen müssen, wenn etwas Neues entstehen soll.

Regine Dehnel
Die Täter, die Opfer und die Kunst. Rückblick auf den nationalsozialistischen Raubzug

Zwischen 1933 und 1945 wurden zunächst in Deutschland, dann in ganz Europa Kunstwerke, Bücher und Archivalien aus privatem wie öffentlichem Besitz abgepreßt, “arisiert”, “sichergestellt”, geraubt. Spezielle Ämter und Organisationen waren damit befaßt. Zu den Opfern der Raubzüge zählten politische Gegner: Gewerkschafter, Sozialisten, Freimaurer, Kirchen. Besonders brutal wurde die jüdische Bevölkerung ausgeraubt. Mit dem Überfall auf Polen und dem Einmarsch in die Sowjetunion begann die Beraubung der als “rassisch minderwertig” eingestuften osteuropäischen Völker. Die nationalsozialistischen Kulturgutraubzüge sind nicht nur Gegenstand historischer Forschung, sie belasten die europäische Verständigung bis heute.

Dorothea Redepenning
Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz. Musik gegen Gewalt und Krieg

In der Musikgeschichte Europas hatte sich ein Konsens darüber herausgebildet, wie Klage und Trauer zu klingen haben. Angesichts des millionenfachen Todes und des Ausmaßes der Zerstörung durch die nationalsozialistische Vernichtungspolitik und den Zweiten Weltkrieg greifen westliche Komponisten zu einer anderen musikalischen Sprache: zu Atonalität und der Zwölftontechnik. Sie gilt ihnen als integer, weil sie unter den Nationalsozialisten als “entartet” inkriminiert war. Die Werke von Luigi Dallapiccola, Arnold Schönberg, Karl Amadeus Hartmann und Luigi Nono sowie Dmitrij Sostakovic, der sich anderer kompositorischer Verfahren bedient, demonstrieren, wie Musik als Gedächtnisspeicher fungiert und zu einem Ort individueller, kollektiver und transnationaler Erinnerung wird.

Georg Vobruba
Expansion ohne Erweiterung. Die EU-Nachbarschaftspolitik in der Dynamik Europas

Die EU hat die Europäische Nachbarschaftspolitik als Alternative zur Erweiterungspolitik entwickelt. Es handelt sich um ein verändertes politisches Tauschangebot. Die EU bietet ihren Nachbarländern nicht mehr die Perspektive einer Mitgliedschaft, sondern eine special relationship gegen die Übernahme von Stabilisierungsaufgaben an der Peripherie. Diese Politik speist sich aus der Expansionsdynamik der EU, die jedoch an ihre Grenzen gestoßen ist. Auch in der Nachbarbarschaftspolitik versteht sich die EU als Werteexporteur. Wie erfolgreich sie sein wird, hängt stark von der Kooperationsbereitschaft der Peripherie ab. Stärker als bisher gilt es, die Kooperationskalküle der Nachbarn und ihre Alternativen zu berücksichtigen.

Arkadij Moshes
Priorität gesucht. Die EU, Rußland und ihre Nachbarn

Die EU unterhält eine strategische Partnerschaft mit Rußland und will mit den Nachbarstaaten im Osten privilegierte Beziehungen unterhalten. Zunehmend kollidieren die Interessen Rußlands und der EU im Nachbarschaftsraum. Moskau wertet die Nachbarschaftspolitik als Versuch, Rußland aus der Region zu drängen, und reagiert allergisch auf Demokratisierung. Doch wäre es falsch, wenn die EU ihr Engagement in diesem Raum verringert. Brüssel muß bereit sein, mehr Verantwortung zu übernehmen. Priorität sollten Demokratie und Marktwirtschaft, nicht aber eine geopolitische Umorientierung der Region haben. So könnten die Nachbarländer ihre Verbindungen mit Rußland aufrechterhalten. Und Rußland könnte der EU nicht länger unterstellen, eine Politik nach den Regeln des Nullsummenspiels zu betreiben.

Kirsten Westphal
Liberalisiert, monopolisiert, fixiert. Antinomien des Energiemarkts in Europa

Die Europäische Union definiert die energiepolitische Kooperation als einen Schlüsselbereich der Nachbarschaftspolitik. Seit 2006 versucht die EU, Versorgungssicherheit, Nachhaltigkeit und Wettbewerb als Prinzipien der Energiepolitik auf den Nachbarschaftsraum auszudehnen. Damit hat sie eine energiepolitische und geostrategische Neuausrichtung vorgenommen. Allerdings stößt der Wettbewerb auf dem Energiesektor bereits in der EU an die Grenzen nationaler Souveränitätsansprüche. Der Ausbau energiepolitischer Beziehungen in der weiteren Region ist ein langwieriger, aber wichtiger Bestandteil einer im Entstehen begriffenen Energieaußenpolitik.

Jirí Vykoukal
Kernschmelze oder Kernspaltung? Mitteleuropakonzepte und regionale Integration

Mitteleuropa klingt nach Verheißung. Der Begriff verspricht kulturelle Vielfalt und politische Einheit. Tatsächlich ist es genau umgekehrt. Die politischen Mitteleuropakonzepte, die seit dem 19. Jahrhundert entwickelt wurden, sollten alle nationalen Zielen dienen. Selbst in Krisenzeiten wurden sie nie verwirklicht. Die Idee, daß Mitteleuropa eine kulturelle Einheit bilde, die sich deutlich von Osteuropa unterscheide, entwickelte hingegen in den 1980er Jahren eine große Sprengkraft für das sowjetische Herrschaftssystem. Seit dessen Zerfall leidet die Visegrád-Gruppe allerdings unter mangelnder Kohäsionskraft, da die regionale Kooperation in keinem der vier Staaten überzeugend in eine Traditionslinie gerückt werden kann und es ihr so an historischer Legitimation mangelt.

Dmitrij Furman
Ursprünge und Elemente imitierter Demokratien. Zur politischen Entwicklung im postsowjetischen Raum

Das politische System in Rußland ist nicht einzigartig. Auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion haben sich diverse Regime etabliert, in denen hinter einer demokratischen Fassade die Macht in den Händen des jeweiligen Präsidenten konzentriert ist. Ein Vergleich der ostslawischen Staaten mit denen in Mittelasien und im Kaukasus ergibt nicht nur, daß diese imitierten Demokratien denselben Ursprung haben, sondern daß sich diese Ein-Mann-Regime auch derselben Elemente und Praktiken politischer Herrschaft bedienen. Der vermeintlichen Macht und Stabilität zum Trotz sind sie in ihrem Kontrollanspruch, ihrer Legitimationsschöpfung und ihrer sozioökonomischen Leistungsfähigkeit dysfunktional und tragen den Keim des eigenen Untergangs in sich.

Lev Gudkov
Rußlands Systemkrise. Negative Mobilisierung und kollektiver Zynismus

Rußland scheint seit dem Machtantritt Putins stark wie schon lange nicht. Doch der Schein trügt. Rußland degeneriert zu einem korrupten Polizeistaat, die Gesellschaft verelendet, und das Land gerät immer mehr in die Isolation. Die Legitimitätskrise des Herrschaftssystems offenbart sich in einer gezielten negativen Mobilisierung, die Haß gegen “die Oligarchen”, gegen die USA und die NATO, gegen Georgien und die Ukraine schürt. Zukunftsängste, Zynismus, Feindbilder und eine diffuse Aggression breiten sich aus. Das Bedürfnis nach einem schützenden Kollektiv wächst. Wer einen Feind identifiziert und fordert, daß dieser vernichtet werden müsse, wird zum Sinnstifter. Doch die zur Schau gestellte politische Entschlossenheit verdeckt nur die omnipräsente staatliche Inkompetenz.

Klaus Bachmann
Die List der Vernunft. Populismus und Modernisierung in Polen

Polen ist einzigartig. Nur hier besteht die Regierung allein aus populistischen Parteien. Wer sie mit Idealtypen der Parteienforschung analysieren will, scheitert, weil die klassischen Konfliktlinien der Parteienbildung aus historischen Gründen in Polen nicht existieren. Die Erfolge der Populisten speisen sich aus demographischem Druck, Wertewandel und einer tiefsitzenden Verunsicherung durch die Reformen Ende der 1990er Jahre. Doch ein europäischer Vergleich zeigt: Der Populismus in Polen ist nicht einzigartig. Er hat dieselben paradoxen Folgen: Populisten attackieren die Demokratie, doch machen sie diese stabiler, indem sie deren Integrationsfähigkeit erweitern; sie bedienen sich antimoderner Rhetorik, doch indem sie polarisieren, konsolidieren sie die Gegner und treiben dadurch Modernisierung voran; und da Populisten in der Regel unfähig sind, die Probleme zu lösen, die sie benannt haben, verlieren sie die Unterstützung der Wähler.

Britta Schmitt
Regulieren, tabuisieren, kriminalisieren. Ethisch-religiöse Wurzeln der Prostitutionspolitik in Europa

Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs setzte der Frauenhandel von Osteuropa nach Westeuropa ein. Damit geriet Prostitution stärker ins Blickfeld von Öffentlichkeit und Politik. Einige EU-Staaten haben seitdem ihre Prostitutionspolitik geändert. Manche haben sich für Liberalität, andere für Repression entschieden. Der Vergleich von Schweden, Litauen, Polen, Italien, den Niederlanden und Griechenland zeigt, daß andere Auslegungen des christlichen Menschenbilds, die verschiedenen Konfessionen und historischen Entwicklungspfade sowie Auswirkungen der Sowjetideologie bis heute den gesellschaftlichen Umgang mit Prostitution prägen und ihren Niederschlag in der Gesetzgebung finden.

Published 21 August 2007
Original in German

Contributed by Osteuropa © Osteuropa

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