Abstracts Osteuropa 9/2005

Stefan Auer
Macht und Gewalt. 1989, die Ukraine und die Idee der gewaltfreien Revolution

Die Orangene Revolution in der Ukraine und die Rosenrevolution in
Georgien knüpften an die Umstürze von 1989 an. Jeweils ermöglichten sie
einen Neuanfang politischen Handelns, das unter dem ancien régime
undenkbar gewesen wäre. Damit etabliert sich auch ein neuer
Revolutionsbegriff, der von Selbstbeschränkung und Gewaltfreiheit
gekennzeichnet ist. Hannah Arendts Denken über das Verhältnis von Macht
und Gewalt liefert wertvolle Einsichten zu der Bedeutung dieses
Revolu-tionsbegriffs und seinen politischen Implikationen.

Iris Kempe
Eine neue Ostpolitik. Europas Antwort auf die Regenbogenrevolutionen

Die Regenbogenrevolutionen in der Ukraine und Georgien haben sich an
westlichen Werten orientiert. Eine erfolgreiche Transformation in diesen
Staaten hängt auch von deren Einbindung in den westlichen
Integrationsraum ab. Mit der Nachbarschaftspolitik hat die Europäische
Union auf den Handlungsdruck reagiert. Doch derzeit befindet sich die
Europäische Union in einer Integrationskrise. Gleichzeitig ist der Kreml
mit seiner Strategie gescheitert, den postsowjetischen Raum durch
Abhängigkeit und personelle Netzwerke zu integrieren. Eine “neue
Ostpolitik” ist gefordert, um den überlappenden Integrationsraum
zwischen Rußland und dem Westen zu gestalten.

Alexander S. Neu
Die Zukunft des Kosovo. Ein völker- und verfassungsrechtlicher Blick

Die Lösung der Kosovo-Problematik gleicht der Quadratur des Kreises. Die
politischen Forderungen der beiden lokalen Kontrahenten Serbien und
Kosovo-Albaner stehen sich diametral gegenüber. Der Westen selbst spielt
in diesem Konflikt eine unrühmliche Rolle: Als ehemalige Kriegspartei
versucht er sich nun aus dieser Rolle zu befreien und als “ehrlicher
Makler” zu vermitteln. Die Grundlage hierfür wäre die Rückkehr zu
völkerrechtlichen Grundlagen.

Boguslaw Bakula
An den Schlagbäumen Europas und Asiens. Der Dichter Jaroslaw Iwaszkiewicz

Der in der Ukraine geborene polnische Dichter und Prosaist Jaroslaw
Iwaszkiewicz, in dessen umfangreichem Werk sich das europäische
Bewußtsein des 20. Jahrhunderts widerspiegelt, wandelte zeit seines
Lebens zwischen zwei Welten: zwischen Ost- und Westeuropa. Kiev und
Petersburg, zwei Metropolen im östlichen Teil des Kontinents, galten
Iwaszkiewicz als Symbole einer schwierig zu bewerkstelligenden Einheit
zwischen West und Ost, Jugend und Lebensabend, Leben und Tod.
Gleichzeitig waren sie ihm aber auch Anlaß, sich historischen,
metaphysischen und ethischen Fragestellungen zu nähern. Kiev taucht in
seiner Dichtung als Pforte zum Osten und als Ort dichterischer
Initiation auf. Petersburg erscheint hingegen als Ort dunkler Mächte und
fatalistischer Geschichte – als ein Ort, an dem die eigene Existenz und
Identität einer anhaltenden Bedrohung ausgesetzt sind.

Gasan Gusejnov
Das innere Ausland. Neue Grenzen in der heutigen russischen Literatur

Wie haben sich die kulturellen Grenzen in der russischen Literatur von
heute verschoben? Evtusenkos Formel “Ein Dichter in Rußland ist mehr als
nur ein Dichter” ist nicht mehr gültig. Viktor Erofeev begrub gar die
sowjetische Literatur. Damit sind mehrere Grenzen gefallen: die zwischen
Hoch- und Massenliteratur sowie jene zwischen Pop-Kultur und der
Dichtung des Elfenbeinturms. Um die verspätete russische Postmoderne zu
interpretieren, ist es nützlich, den Begriff des “inneren Auslands” auf
die literarische Szene anzuwenden.

Dmitrij Chmel’nickij
Der Kampf um die sowjetische Architektur. Ausländische Architekten in der UdSSR der Stalin-Ära

In den 1920er Jahren galt die Sowjetunion noch als Land der
architektonischen Zukunft, das Berühmtheiten wie Le Corbusier oder Erich
Mendelsohn anzog. In den 1930er Jahren änderte sich die Situation
radikal. Stalin lud westliche Experten wie Albert Kahn oder Ernst May
ein, an der “sozialistischen Industrialisierung” und dem Aufbau der
Rüstungsindustrie mitzuwirken. Als der Transfer militär-industriellen
Know-hows in die UdSSR so weit gediehen war, daß die Sowjetunion die
westlichen Architekten und Experten nicht mehr benötigte, brach Stalin
die Zusammenarbeit jäh ab.

Klaus Müller
Europa, nicht Brüssel. Der Weltkongreß der Osteuropaforschung

Der Abgesang auf die Osteuropaforschung und die Area studies, der in den
1990er Jahren angestimmt wurde, hat sich als voreilig erwiesen.
Übergeneralisierende Modelle und die pseudoexperimentelle Sprache von
“Variablen” und “Randbedingungen” haben sich als ungeeignet erwiesen,
die heterogene Entwicklung in Osteuropa zu erklären. Auch die bloße
Übertragung integrationstheoretischer Überlegungen zur EU auf den Osten
wird dieser Aufgabe nicht gerecht: Das Gebot der Stunde ist
theoriegeleitetes regionales Wissen für eine komparative Europäisierung
der Osteuropaforschung.

Herta Schmid & Katrin Berwanger
Memorandum über die Lage der Slawistik in Deutschland

Die Liste polnischer, tschechischer und russischer Nobelpreisträger für
Literatur, slawischer Maler, Komponisten, Regisseure, der Leistungen in
Philosophie, Logik, Rhetorik, Theologie, moderner Linguistik, Ästhetik
und Literaturtheorie ist lang. Namen wie Comenius, Bolzano, Dvorak,
Kandinskij, Wajda, Stanislavskij, Rimskij-Korsakov, Szymborska, Mrozek,
Capek und Havel sind weltbekannt, doch wer in Deutschland vermag ihre
Leistungen für die europäische Kultur zu würdigen? Angesichts der
jahrhundertealten engen Vernetzung zwischen der deutschen und den
slawischen Kulturen in Kunst, Literatur, Wirtschaft, politischem Denken
und Religion ist es an der Zeit, die unselige Spaltung Europas infolge
des Zweiten Weltkriegs auch in der Hochschulbildung zu überwinden. Die
slawischen Kulturen sind ein ebenso wichtiger Teil europäischer Kultur-
und Bildungstradition wie die westeuropäischen Kulturen. Sie dürfen
nicht länger marginalisiert werden.

Published 30 October 2005
Original in German

Contributed by Osteuropa © Osteuropa

PDF/PRINT

Read in: EN / DE

Published in

Share article

Newsletter

Subscribe to know what’s worth thinking about.

Discussion