Abstracts Osteuropa 6/2007
Nicolas Werth
Der Gulag im Prisma der Archive. Zugänge, Erkenntnisse, Ergebnisse
Seit 1989/90 erstes Archivmaterial zugänglich wurde, ist das Wissen über das sowjetische Lagersystem erheblich gewachsen. Die Quellen aus der Gulag-Bürokratie gestatten es nun, jahrzehntelang umstrittene Fragen zu klären. Auf dem Höhepunkt des Lagersystems Anfang der 1950er Jahre waren 2,5 Mio. Menschen inhaftiert, von 1930-1953 waren insgesamt 20 Mio. Opfer der Repression. Die Bedeutung der Zwangsarbeit für die sowjetische Volkswirtschaft muß nach unten korrigiert werden. Nie überschritt ihr Anteil an der Energie- und Industrieproduktion acht bis zehn Prozent. Niedrige Produktivität und Desorganisation waren Kennzeichen. Obwohl die Personalakten des Innenministeriums und der Geheimpolizei bis heute gesperrt sind, gibt es erste Untersuchungen über die Täter in NKVD und Gulag-Nomenklatura. Von denen, die den Großen Terror 1937-1939 überlebten, wurde keiner strafrechtlich je belangt.
Franziska Thun-Hohenstein
Poetik der Unerbittlichkeit. Varlam Shalamov: Leben und Werk
Varlam Shalamov, dessen hundertster Geburtstag in diesem Jahr begangen wird, mußte nahezu zwanzig Jahre in Zwangsarbeitslagern des GULag und in sibirischer Verbannung zubringen. Überzeugt davon, daß das Lager den Menschen zerstöre, hat er sich zeitlebens mit den Möglichkeiten und Grenzen literarischen Schreibens über das in den Lagern der Kolyma Erlebte beschäftigt. Die philosophische Ebene seines Nachdenkens über das Dasein des Menschen unter Extrembedingungen von Hunger, Kälte, Gewalt und unmenschlicher physischer Arbeit mündete nicht in eine Abrechnung mit dem Sowjetsystem. Shalamov ging es darum, die Fragilität dessen aufzudecken, was wir gewohnt sind, als Zivilisation oder Kultur zu bezeichnen. In den Erzählungen aus Kolyma hat er vielleicht die radikalsten ästhetischen Konsequenzen gezogen und eine Poetik äußerster Lakonizität und Unerbittlichkeit entwickelt, um “in die Gegenwart des Lagers einzudringen”.
Anne Hartmann
“Ein Fenster in die Vergangenheit”. Das Lager neu lesen
Die Lagerliteratur ist ins Abseits geraten: Die Gesellschaft in Rußland ist vollauf mit der Gegenwart beschäftigt, und für den Westen hat sich der Sensationswert der GULag-Enthüllungen längst erschöpft. Um dem Gedächtnisverlust entgegenzuwirken gilt es, das Lager neu zu lesen, denn die Sowjetzivilisation ist ohne ihre Schattenwelt nicht zu begreifen. Jenseits des etablierten Kanons von Erinnerungstexten gibt es eine Literatur zu entdecken, die vielfältig und eigenwillig auf das Lager als Existenz- und Denkform reagiert.
Andrej Sinjavskij
Materialschnitt
Über Varlam Shalamovs Erzählungen aus Kolyma liegt der Geruch des Todes. Doch das Wort “Tod” bedeutet hier nichts. Gewöhnlich verstehen wir den Tod abstrakt: das Ende, wir alle sterben. Sich den Tod als Leben vorzustellen, das sich endlos hinzieht, ist viel entsetzlicher. Es heißt: “im Angesicht des Todes”. Shalamovs Erzählungen sind im Angesicht des Lebens geschrieben. Das Leben – das ist das entsetzlichste. Shalamovs Schnittprobe des menschlichen Materials zeigt dessen restliche Eigenschaften: rissige Haut, bindfadendünne Muskeln, ausgetrocknete Hirnzellen, erfrorene Finger, eiternde Wunden. Das ist der Mensch. Der Mensch, der verkümmert bis auf die eigenen Knochen, aus denen die Brücke zum Sozialismus gebaut wird.
Ulrich Schmid
Nicht-Literatur ohne Moral. Warum Varlam Shalamov nicht gelesen wurde
Varlam Shalamov (1907-1982) ist zweifellos einer der wichtigsten Schriftsteller, die den Gulag literarisch verarbeitet haben. Im Gegensatz zu Aleksandr Solzenicyn konnte er aber weder Rußland noch im Westen eine Breitenwirkung entfalten. Gründe sind seine anspruchsvolle Poetik, sein moralischer Nihilismus, seine provozierende Revision des russischen Literaturkanons und sein politisches Verhalten nach der Rehabilitierung. Erst in den letzten Jahren wird Shalamov als Autor erkennbar, der in seinen Texten avantgardistische und realistische Darstellungstechniken zu einer anspruchsvollen und widersprüchlichen literarischen Einheit gefügt hat.
Michail Ryklin
Der “verfluchte Orden”. Shalamov, Solzenicyn und die Kriminellen
In den Lagern des Gulag spielten Berufskriminelle eine bedeutende Rolle. Sie agierten wie ein Orden mit eigenen Gesetzen und Praktiken. Solzenicyn imponierten die Kriminellen, Shalamov verachtete sie als Un-Menschen. In den Formen und der Ausübung der Macht finden sich überraschende Parallelen zwischen den Kriminellen im Lager und der Kommunistischen Partei in der Sowjetunion, in der die politische Polizei, die sich selbst als Orden verstand, zentrales Machtinstrument war. Die Herrschaft basierte auf denselben Mitteln: der Denunziation, der Angst, Zynismus und Verachtung jeglicher menschlicher Solidarität und des Privateigentums. Die Annäherung der sowjetischen Ideologie an das kriminelle Milieu ist kein Mißverständnis, kein Fehler; sie ist dieser Ideologie inhärent. Die Schatten reichen bis in die Gegenwart.
Klaus Städtke
Sturz der Idole – Ende des Humanismus? Literaturmodelle der Tauwetterzeit: Solzenicyn und Shalamov
Shalamovs Protest gegen die Kapitulation vor totalitärer Gewalt hatte Vorläufer. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte die Intelligenzija über “ethischen Nihilismus” debattiert. Der Stalinismus unterbrach diese Debatte, an die Solzenicyn und Shalamov wiederanknüpfen. Solzenicyn fordert die Rückbesinnung auf die alte sittliche Ordnung, Shalamov entdeckt im Gulag die fatale Kehrseite der menschlichen Natur. Während Solzenicyn das Lager in die Geschichte Rußlands einbettet, verzichtet Shalamov auf Welterklärungen und programmatische Entwürfe.
Luba Jurgenson
Dokumentarprosa. Varlam Shalamovs Erzählungen aus Kolyma
Varlam Shalamovs Erzählungen aus Kolyma sind ein Kampf gegen das Vergessen. Sie wollen dort, wo jede Erinnerung an das Lager getilgt ist, eine Spur schaffen. Darüber hinaus thematisieren sie die Schwierigkeit, die Lagererfahrung weiterzugeben. Der Körper des Autors, mit dem er als Zeuge den Wahrheitsgehalt seiner Worte dokumentieren kann, ist genau dazu nicht berechtigt: Es ist ein ganz anderer Körper, als jener, der das Lager durchlitten hat. Wie Primo Levi greift Shalamov auf die ambivalente Metapher der Prothese zurück. Die Erinnerung ist einerseits eine “Prothese” der Erfahrung; andererseits könnte der verstümmelte Körper ohne diese Prothese nicht sprechen.
Gabriele Leupold
Anatomie einer Zurückhaltung. Varlam Shalamov übersetzen
Weil sich der Übersetzer, im Unterschied zum Nur-Leser oder auch zum Literaturwissenschaftler, jedem einzelnen Wort des Textes widmen muß, fördert er aus seiner Froschperspektive naturgemäß “technische” Details ans Licht, die sonst leicht übersehen werden. Bei Shalamov, der für seine Erzählungen aus Kolyma ein bewußt beschränktes Instrumentarium verwendet, zeigt dieser Blick auf die Machart der Texte und auf die Unterschiede in den Mitteln der russischen und der deutschen Sprache, wie stark die Wirkung der Erzählungen von Entscheidungen im Kleinen abhängt – von einem Rhythmus, einer Pause, einem Tempus oder der Wahl des richtigen Worts.
Tatjana Petzer
Der Olymp der Diebe. Spurensicherung bei Shalamov und Danilo Kis
Der frühe sowjetische Strafvollzug wertete Verbrecher als ‘sozial Nahestehende’, die nach romantisierenden Darstellungen in den Lagern zu guten Bürgern der neuen Ordnung erzogen wurden. Tatsächlich war der Gulag das Goldene Zeitalter der kriminellen Unterwelt. Kriminelle bauten in den Lagern eine Gegenkultur auf. Das Machtmonopol in ihren Händen, das zur Überwachung der anderen Häftlinge diente, ließ die stalinistische Disziplinierungspolitik in einem Zerrspiegel erscheinen. Varlam Shalamov und Danilo Kis unterlaufen den Mythos vom edlen Ganoven. Sie verfolgen die Transformation der menschlichen Psyche im Lager, sichern Blutspuren der Verbrechen, archivieren Opfer- und Täterakten des verschwundenen Kontinents Kolyma.
Pavel Nerler
Im Tode vom Leben umfangen. Varlam Shalamov und die Mandel’stams
Osip Mandel’ stam war für Varlam Shalamov bewunderter Dichterkollege und Schicksalsgenosse zugleich. Das Sterben des Poeten auf dem Weg an die Kolyma verarbeitet er in seiner Erzählung “Cherry Brandy”. Eine weitere Erzählung, “Sentenz”, widmete er der Witwe Nadezda Mandel’stam. Während die erste Erzählung auf den Tod zuläuft und vor Apathie und Resignation starrt, ist in der zweiten der Keim der Hoffnung und des Lebens angelegt. Dies ist kein Zufall, denn in Nadezda Mandel’stams Erinnerungen sah Shalamov ein Dokument, das der russischen Intelligenzia ein kraftvolles, ermutigendes Denkmal setzte, ein Signal zur Rückkehr ins Leben. Die gegenseitige Verehrung für das Werk des anderen schlug sich von 1965 bis 1967 in einem intensiven Briefwechsel nieder und überdauerte den persönlichen Zwist.
Klaus Gestwa
Auf Wasser und Blut gebaut. Der hydrotechnische Archipel Gulag
Der “Terror der hydraulichen Despotie” hatte sich kaum jemals eindrucksvoller niedergeschlagen als im hydrotechnischen Archipel GULag. Seine Geschichte begann 1931, als ein Heer von Zwangsarbeitern mit der Fertigstellung des berüchtigten Belomorkanals eine kaum mehr übersehbare Spur von Unterdrückung und Ausbeutung in der Landschaft und Geschichte der Sowjetunion hinterließ. Fortan beförderte der Bau gigantischer Kanäle und Flußkraftwerke maßgeblich den Aufschwung des GULag zum Wirtschaftsimperium. Die fortschreitende Technisierung des Bauwesens erhöhte allerdings die Anforderungen an die Qualität der Arbeit, so daß die Lagerwirtschaft ab 1948 immer tiefer in die Krise geriet. Nach Stalins Tod ließen sich die Großbaustellen und ihre Lagerkomplexe durch Massenamnestien und Reformen nicht mehr in Bildungs- und Resozialisationsstätten umgestalten.
Ivan Panikarov
Kolyma. Daten und Fakten
Mit ihrer räumlichen Dimension, der riesigen Zahl der Häftlinge und Toten und der extremen Härte der Haftbedingungen nimmt die Lagerregion an der Kolyma unter den “Inseln” des Gulag eine außergewöhnliche Position ein. Um den wirtschaftlichen Erfolg des staatlichen Baukombinats Dal’stroj zu sichern, wurde die Arbeitskraft der Häftlinge des Sevvostlag, des Besserungsarbeitslagers Nordost, seit Beginn der 1930er Jahre immer systematischer ausgebeutet. Die Folgen des politischen Terrors von 1937 waren bis an die Kolyma spürbar. Doch wilde Zahlenspekulationen in Lagerliteratur und Medien lassen den Opfern keine Gerechtigkeit widerfahren. Die Zahlen der Inhaftierten und Ermordeten, die die Archive in Magadan seit Beginn der 1990er Jahre preisgeben, mögen niedriger liegen als die zuvor kolportierten, sind dafür aber echte Zeugnisse der tragischen Realität der Kolyma.
Simon Ertz
Zwangsarbeit in Noril’sk. Ein atypischer, idealtypischer Lagerkomplex
Zentrales Merkmal des stalinistischen Lagersystems war Zwangsarbeit. Ohne ihre Funktion zu analysieren, ist das Lagersystem nicht zu verstehen. Am Beispiel von Noril’sk, einem von Zwangsarbeitern erbauten und betriebenen Industriestandort in Rußlands Hohem Norden, läßt sich zeigen, daß Häftlinge vorrangig als wirtschaftliche Ressource betrachtet und behandelt wurden. Ökonomische Interessen tendierten dazu, die Aufgaben der Isolation, Bestrafung und Disziplinierung der Lagerinsassen in den Hintergrund zu drängen. Diese Zielhierarchie galt nicht nur für Noril’sk, sondern für das stalinistische Lagersystem insgesamt. Aufgrund des idealtypischen Charakters der Noril’sker Lager trat sie dort allerdings besonders klar hervor.
Inna Klause
Musik per Verordnung. Offizielles Kulturleben im Lager
Im sowjetischen Selbstverständnis dienten die Zwangsarbeitslager zur Umerziehung der Menschen. Kultur sollte dazu einen Beitrag leisten. Geheimpolizei und die Verwaltungen des Gulag unterhielten kulturpolitische Apparate, die en detail die kulturellen Aktivitäten im Lager vorzuschreiben versuchten. Doch zwischen dem Anspruch und der Wirklichkeit klaffte eine Lücke: Musik diente weniger der Propaganda oder der Erziehung, als der Unterhaltung des Lagerpersonals. Musiker oder Schauspieler hatten bessere Chancen, das Lager zu überleben. Die Grenze zwischen Lager und Zivilleben verschwamm. Künstler aus dem Lager wirkten mitunter an Konzerten und am Theater in der Freiheit mit.
Jascha Nemtsov
“Ich bin schon längst tot”. Komponisten im Gulag: V Zaderackij und A. Veprik
Über die vom Nazi-Regime verfolgten Komponisten gibt es eine umfangreiche internationale Literatur. Komponisten im Gulag ignorierte die Musikwissenschaft hingegen bislang. Die verbreitete Annahme, Musiker seien unter Stalin nicht verfolgt worden, ist ein Mythos. Auch unter den Komponisten gab es viele Opfer. Zwei Schicksale sind dafür exemplarisch: das von Aleksandr Veprik, einem Protagonisten der nationalen jüdischen Schule in Rußland, und von Vsevolod Zaderackij, einem der bedeutendsten Vertreter der russischen musikalischen Moderne.
Manuela Putz
Die Herren des Lagers. Berufsverbrecher im Gulag
Kriminelle wurden unter Stalin zu Haft in “Besserungsarbeitslagern” verurteilt. Dort trafen die Berufsverbrecher auf Häftlinge anderer kultureller und sozialer Herkunft. Sie fanden in ihnen ein Publikum für ihre Spiele, Fehden und Exzesse. Behörden und Mithäftlinge nahmen sie als eine hierarchisch organisierte Gemeinschaft der Kriminellen wahr, sogenannte vory-v-zakone. Kaschiert von Gefängnisfolklore und einem spezifischen Ehrenkodex vermochten sich “ehrhafte Diebe”, ihre Banden und kriminelle Gruppen mit Gewalt im Lager zu behaupten. Sie untergruben die offiziellen Strukturen des Lagerlebens. Nicht nur Mitgliedern der Diebesgemeinschaft, sondern auch Mithäftlingen und Wachmannschaften eröffnete dies neue Handlungsspielräume in einem vermeintlich streng reglementierten Lebensraum.
Wladislaw Hedeler
Widerstand im Gulag. Meuterei, Aufstand, Flucht
In der Geschichte des Gulags von 1922 bis 1960 variierten die Formen des Häftlingswiderstandes je nach Lager, dem herrschenden Haftregime und der Kategorie der Häftling. Quelleneditionen gestatten nun, einen Überblick über Widerstand in den Besserungsarbeitslagern und Sonderlagern zu geben. Die Sicht der Lageradministration und die Erinnerungen ehemaliger Häftlinge unterscheiden sich. Das zeigt die literarische Verarbeitung in Varlam Shalamovs Der letzte Kampf von Major Pugacev und den offiziellen Raporten aus einem Sonderlager.
Marc Elie
Unmögliche Rehabilitation. Die Revisionskommissionen 1956 und die Unsicherheiten des Tauwetters
Im Umfeld des XX. Parteitags 1956 setzte Chruscev Revisionskommissionen ein. Diese sollten dezentral die zahllosen Fälle unschuldig verhafteter Häftlinge überprüfen. Die Kommissionen erfüllten ihre Aufgaben nur bedingt. Sie entließen zwar viele Häftlinge, rehabilitierten aber nur sehr wenige. Die Mitglieder der Revisionskommissionen ließen sich von unterschiedlichen Überlegungen leiten. So bestand kein Konsens darüber, wie mit Strafgefangenen zu verfahren sei, die während des Krieges wegen “Nationalismus” oder “Verrats” verurteilt worden waren und unter den 1956 inhaftierten politischen Gefangenen die Mehrheit stellten. Ende 1956 ging die Arbeit der Kommissionen in einer zunehmend angespannten politischen Atmosphäre zu Ende, als die durch die Aufstände in Polen und Ungarn verunsicherten sowjetischen Machthaber begannen, einige Entlassene ohne Prozeß erneut zu inhaftieren, um sie zu Sündenböcken eines Krisenjahres zu machen und vom Versagen ihrer Politik abzulenken.
Memorial
Das Jahr 1937 und die Gegenwart. Thesen von Memorial
1937 ist zum Symbol für das System der Massenmorde und Repressionen geworden, die der sowjetische Staat organisierte und an der eigenen Bevölkerung ausführte. Siebzig Jahre danach ist der verhängnisvolle Einfluß der Katastrophe immer noch spürbar. Sie ist ins individuelle und kollektive Unterbewußtsein der Menschen eingegangen, prägt staatliche Praktiken sowie Haltungen in der Bevölkerung. Um dieses Erbe zu überwinden, ist eine rechtliche Bewertung des Großen Terrors sowie eine umfassende Aufarbeitung der Vergangenheit erforderlich. Nur dadurch ist eine Konsolidierung der Gesellschaft und des Staates möglich.
Stephen Fortescue, Vesa Rautio
Vom Arbeitslager zum Weltmarktführer. Ein Firmenporträt der Buntmetallhütte Noril’sk Nikel’
Die Buntmetallhütte Noril’sk Nikel’ spiegelt wie kein zweites Unternehmen die Geschichte der Sowjetunion und Rußlands im 20. Jahrhundert. Das Noril’sker Kombinat wurde in den 1930er Jahren im Zuge der forcierten Industrialisierung von Zwangsarbeitern errichtet. In der Breznev-Ära wurde Noril’sk zu einem riesigen Bergbau- und Schwerindustriestandort ausgebaut. Der Zusammenbruch der Sowjetunion traf das betriebswirtschaftlich unrentable Kombinat schwer. Durch eine umstrittene Privatisierung gelangte es in der El’cin-Zeit in den Besitz der Industriemagnaten Vladimir Potanin und Michail Prochorov. Heute ist der Konzern eines der zehn größten und zugleich profitabelsten Unternehmen Rußlands sowie Weltmarktführer in der Nickelproduktion.
Irina Shcerbakova
Erinnerung in der Defensive. Schüler in Rußland über Gulag und Repression
Eine breite Aufarbeitung des Stalinismus mit Terror, Repressionen und Gulag setzte in der Perestrojka ein. Doch die Hoffnung trog, daß das Wissen über die Geschichte dazu führen werde, daß Rußland für immer diese Vergangenheit überwinden würde. Das politische und gesellschaftliche Klima haben sich gewandelt. Schüler haben es schwer, die Wahrheit über die Repressionen zu erfahren. Erinnerung an die Repressionen wird zunehmend marginalisiert, Verantwortung verdrängt. Politik und Fernsehen mythologisieren und instrumentalisieren die Stalin und die sowjetische Vergangenheit. Die letzten Angehörigen der Erlebnisgeneration sterben, visuelle Materialien aus dem Gulag fehlen. Doch es gibt Ansätze einer Erinnerungskultur. Daß es möglich ist an ihnen anzuknüpfen und Erinnerung weiterzugeben zeigen die Beiträge von Schülern an den Geschichtswettbewerben von Memorial.
Natal’ja Konradova
Suche nach der Form. Gulag-Denkmäler in Rußland
Die Geschichte des Gedenkens an die Opfer der stalinistischen Repressionen ist kurz. 1988 wurde der erste Gedenkstein in Vorkuta errichtet. Typologisch knüpfen die Denkmäler für die Opfer der Repressionen an Kriegsdenkmäler an. In der Materialauswahl und der Gestaltung der Denkmäler gibt es wiederkehrende Elemente. Risse und Aussparungen drücken das Verschwinden der Opfer aus. Doch eine eigene Denkmaltradition hat sich noch nicht etabliert. Bis heute gibt es in Rußland keine zentrale Gedenkstätte, die ein Symbol für die Aufarbeitung des stalinistischen Terrors und des Gulag wäre.
Elfie Siegl
Überleben in der Taiga. Die Menschen in Magadan (Ein Feature auf CD)
Magadan, einst das Tor zur Hölle, zu den Straflagern von Kolyma und zugleich zu den Goldfeldern im Hinterland, ist heute eine der teuersten und eine der ärmsten Städte Rußlands. Die Hafenstadt, acht Flugstunden von Moskau entfernt, liegt im äußerten Osten am Ochotskischen Meer. In der Stalinzeit war der Hafen Ziel unzähliger Schiffe mit Häftlingen für die Förderung von Gold, Silber, Wolfram und Kohle. Die entlassenen Häftlinge arbeiteten weiter in der Goldindustrie. Diese Zeitzeugen leben heute oft arm, einsam und würdelos. Viele schweigen. Wer seine Lebensgeschichte erzählt, legt Zeugnis ab von der offiziell verdrängten Vergangenheit. In Kolyma gibt es kein erhaltenes Lager mehr. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurden die meisten Goldminen und Bergwerke als unrentabel geschlossen. Die Menschen verloren ihre Arbeitsplätze. Wer kann, wandert ab, wer bleibt, ist Geisel des Nordens.
Published 2 July 2007
Original in German
Contributed by Osteuropa © Osteuropa
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