Abstracts Osteuropa 5/2007

Birgit Menzel, Ulrich Schmid
Der Osten im Westen. Importe der Populärkultur

Zahlreiche Produkte der westlichen Populärkultur sind aus Osteuropa
importiert. Dies wird oft übersehen, bestimmt doch die bereits von der
Kritischen Theorie angestimmte Klage über die “McDonaldisierung” der
europäischen Kultur bis heute die Debatte. Wertfreie Einzelstudien
beschränken sich bei der Analyse der Populärkultur hingegen in der Regel
auf einen bestimmten nationalen Kontext. Verfolgt man aber die
Importwege prominenter Erscheinungen in der westlichen Populärkultur, so
zeigt sich, daß osteuropäische Traditionen und Prägungen auf ganz
unterschiedliche Weise präsent sind: Sie können sich unter einer
sorgfältigen Camouflage verbergen, durch kulturelle Transformation an
den Publikumsgeschmack angepaßt werden oder auch als plakative Exotik
auftreten.

Dorothea Redepenning
Broadway cum Rachmaninov. Komponisten aus Osteuropa in Hollywood

Hollywoods Filmmusik ist ein “Melting Pot” aus populären Schlagern und
Jazz, aus europäischer Symphonik, aus Oper, Ballett und Broadway-Show.
Vor allem Emigranten aus Europa haben diese Musik kreiert, die zur
kulturellen amerikanischen Identität gehört. Im Schaffen von Rachmaninov
und Tschajkovskij fanden sich die melodischen Modelle und orchestralen
Effekte zur klanglich-emotionalen Inszenierung melodramatischer Szenen.
Es entbehrt nicht einer feinen Ironie, daß die schönsten “amerikanischen
Heimatlieder”, die populärsten Western-Songs, auf dem Höhepunkt des
Kalten Krieges aus der Feder Dimitri Tiomkins stammen, der sein Handwerk
in Sankt Petersburg gelernt hatte.

Horst-Jürgen Gerigk
Zwei Russen in Amerika. Irving Berlin und Dimitri Tiomkin

Irving Berlin und Dimitri Tiomkin haben der amerikanischen
Unterhaltungsmusik bleibende Leistungen geliefert. Berlins White
Christmas
und Tiomkins Titelsong zu High Noon sind Klassiker. Beide
Komponisten stammen aus Rußland und sind mit ihren Karrieren
Musterbeispiele für den kulturellen Dialog zwischen Amerika und Europa.
Dies darf aber nicht den Eindruck aufkommen lassen, hier kommunizierten
zwei verschiedene Kulturen miteinander in der Unterhaltungsmusik.
Vielmehr existiert seit dem 18. Jahrhundert eine kohärente
europäisch-amerikanische Kulturlandschaft. Nur in ihr konnten Berlin
und Tiomkin ihre Wirkung entfalten.

Katharina Kucher
Vom Flüchtlingslager in die Konzertsäle. Die Geschichte des Don Kosaken Chores

Donkosakenchöre gehören zur deutschen Rußlandfolklore wie Balalaika,
Samowar und Matrjoschka. Unzählige Schwarzmeer-, Wolga-, Ural- und
Donkosakenensembles bedienen die westliche Sehnsucht nach den Weiten der
Taiga und der Tiefe der russischen Seele. Die wenigsten Fans der
strammen und doch so melancholischen Kosakensänger wissen, daß sie
Epigonen anhängen. Den “echten” Don Kosaken Chor gründeten in den
1920er Jahren Angehörige der geflohenen Weißen Armee in einem türkischen
Flüchtlingslager. Die Geschichte ihres Aufstiegs zu Weltstars ist
zugleich die Geschichte einer Odyssee von Heimatlosen.

Helena Srubar
Zauber aus dem Osten. Pan Tau erobert die deutschen Bildschirme

Der sympathische Kinderheld Pan Tau war das wichtigste populärkulturelle
Exportprodukt der sozialistischen Tschechoslowakei. In den frühen 1970er
Jahren revolutionierte die Serie das westdeutsche Kinderfernsehen. Mit
ihrer Mischung von Alltag und Phantastik bot sie kindgerechte
Unterhaltung und filmische Qualität. Vor allem aber galt sie als
konsumkritisch, anarchisch und subversiv – zu dieser Zeit Attribute
höchster Wertschätzung. Gleichzeitig erfüllte sie in Prager Lesart den
Kanon der humanistischen Moralvorstellungen und fügte sich in die
sozialistische Staatsideologie.

Ilja Karenovics
Fallende Ost-Blöcke. Tetris oder Wie die Sowjetunion den
Game Boy zum Superstar machte

Wohl kein anderes Computerspiel kann es punkto Erfolg und Bekanntheit
mit Tetris aufnehmen. Weitaus weniger bekannt ist, daß das Knobelspiel
die Erfindung eines russischen – damals noch sowjetischen –
Mathematikers aus dem Jahr des Regierungsantritts von Michail Gorbatschev
ist. Seine Geschichte kann in mehrfacher Hinsicht als symbolisch für die
Zeit der Perestrojka gelten: Mit Tetris nimmt die “Russen-Popkultur”
im Westen ihren Anfang – aber auch der kommerzielle Welterfolg von
Nintendos Handheld-Konsole Game Boy. Hinter den Kulissen dieser
Geschichte spielte sich ein internationaler Wirtschaftskrimi ab, in dem
Akteure und Institutionen der zusammenbrechenden Sowjetunion eine
Hauptrolle spielen.

Ulrich Schmid
Interkulturelle Inkompetenz. Borat parodiert westliche Osteuropaklischees

Der kasachische Reporter Borat Sagdiyev ist eine Kunstfigur des
britischen Komikers Sacha Baron Cohen. Borat dreht angeblich im Westen
Dokumentarfilme, tritt aber in Tat und Wahrheit als agent provocateur
auf: Er verleitet sein Gegenüber mit politisch absolut unkorrekten
Aussagen zu möglichst publikumswirksamen Reaktionen. Im vergangenen Jahr
kam der Film Borat in die amerikanischen und europäischen Kinos. Cohen
läßt Borat entlang der locker gestrickten Rahmenhandlung eines road
movie
in verschiedenen Episoden auftreten, die prekäre Erscheinungen
der US-Gesellschaft aufs Korn nehmen: Duckmäuserei, Bigotterie,
Sportfanatismus und Starkult.

Ellen Rutten
Tanz um den roten Stern. Russendisko zwischen Ostalgie und SozArt

Vladimir Kaminers Russendisko hat Kultstatus. Sie ist kein Tanzabend
für Ostalgiker und Exil-Russen. Sie dekonstruiert nationale Stereotypen
und spielt mit westlichen Rußland-Klischees. Sie schließt damit an
Praktiken osteuropäischer Künstler wie Vitalij Komar & Melamid oder Oleg
Kulik an.

Mirja Lecke
Exportschlager! Die russische Mädchenband t.A.T.u.

t.A.T.u. ist die erfolgreichste russische Popband aller Zeiten. Dieser
Erfolg ist kein Zufall, er beruht auf der geschickten Anpassung des
lesbischen Images der Band an verschiedene kulturelle Umgebungen.
t.A.T.u. wurde als Provokation für die russische Gesellschaft erdacht,
in Westeuropa und den USA erreichte das Popduo durch öffentliche Küsse
publicity-trächtige Verbote. An seiner Geschichte läßt sich beobachten,
wie Strukturen der westlichen Konsumindustrie auf russische Verhältnisse
appliziert werden, sich dabei verändern und anschließend wiederum die
Wahrnehmung Rußlands im Westen prägen.

Holger Gemba
Ruslana. Interkulturelles Marketing aus den Karpaten

Im Jahr 2004 gewann die ukrainische Sängerin Ruslana den Eurovision Song
Contest. Anders als der Titel ihres Liedes Wild Dances suggeriert, ist
sie nicht wild, sondern eine gebildete, erfolgreiche Frau aus der
Westukraine. Sie hatte Erfolg, weil sie die Stereotypen über ihre Heimat
und die Menschen so spiegelte, daß die Zuhörer ihre Vorurteile bestätigt
sahen. Seit 2006 hat Ruslana ihr Image verändert. An die Stelle des
ethnoregionalen Klischees der Wild dances rückt das transnationale
Projekt Wild Energy. Dieses Marketing zielt auf erweiterte Märkte.

Adrian Wanner
Ein Russe in New York. Gary Shteyngart und der Immigrant Chic

Gary Shteyngart, russischer Jude, sowjetischer Emigrant und Wahl-New
Yorker, schildert in seinen Romanen Handbuch für den russischen
Debütanten
und Absurdistan seinen kometenhaften Aufstieg zum “neuen Nabokov” mit viel Selbstironie. Mit seinem osteuropäischen
Immigrantenroman, der zugleich ein Roman über Exilamerikaner ist, hat
Shteyngart einen neuen literarischen Trend gesetzt. Seine russische
Identität nutzt er, ähnlich wie Wladimir Kaminer in Deutschland, zur
Selbstvermarktung. In einer grotesken Mischung aus russischer, jüdischer und (afro)amerikanischer Popkultur nimmt er amerikanische “Ostalgie” und Rußlandklischees aufs Korn und persifliert die Idee einer
authentischen Nationalkultur ebenso wie die der multikulturellen
Synthese. Doch die Grenze zwischen Parodie und Sentimentalität, zwischen
Kitsch und authentischem Nationalstolz ist fließend.

Maria Rubins
In fremden Zungen. Milan Kunderas und Andreï Makines
französische Prosa

Die europäische Identität zweisprachiger Schriftsteller wie Milan
Kundera und Andreï Makine zwingt zum Überdenken konventioneller
Kategorien wie “Ost” und “West” oder “Fremder” und “Einheimischer”.
Beide Autoren haben ihre “Heimat” gegen das “Exil” eingetauscht, beide
verfassen französische Romane und Essays. Die Zugehörigkeit zur
europäischen Tradition verbindet sich mit einem distanzierten,
“östlichen” Blick auf Frankreichs Kultur, Gesellschaft und Medien.
Kundera wehrt sich dagegen, als tschechischer Patriot und Autor zu
gelten. Mit intertextuellen Bezügen betont er das Transnationale seines
Werks. Makine stellt sich als Schriftsteller-Prophet in die Tradition
Tolstojs und Dostoevskijs und entlarvt kulturelle Mythen.

Andrea Meyer-Fraatz
Balkan-Beat, Eskimos und ein polnisches Sahnetörtchen. Östliches in Emir Kusturicas Arizona Dream

Mit Arizona Dream hat Emir Kusturica auf den ersten Blick ein
groteskes Bild amerikanischer Verhältnisse geschaffen. Auf den zweiten
Blick zeigt sich, daß die befremdlichen Elemente einen Bezug zur
östlichen Kultur haben. Hinter der auffälligen Natursymbolik verstecken
sich Mythen von Eskimos und sibirischen Völkern, die der wenig
kohärenten Handlung Tiefe verleihen. Die Filmmusik von Goran Bregovic
macht Anleihen bei der balkanischen Roma-Musik. All dies läßt sich zum
einen als Versuch verstehen, den Ost-West-Gegensatz aufzuheben, zum
anderen deutet sich darin der zunehmende Nationalismus des Regisseurs an.

Tom Jürgens
Unser täglich Sibirien gib uns heute. Imaginäre Geographie als deutsche Popkultur

Sibirien ist fester Bestandteil der deutschen Popkultur: Die Romane von
Edwin Erich Dwinger, Ferdinand Ossendowski oder Heinz G. Konsalik
prägten das 20. Jahrhundert ebenso sehr wie die erste deutsche
Fernsehserie “So weit die Füße tragen” oder die Reportagen von Gerd
Ruge. Die Bilder, die hier gezeichnet werden, operieren häufig mit
Stereotypen, die bereits in den Sibirien-Reiseberichten des späten 17.
und in den Publikationen deutscher Wissenschaftler des 18. Jahrhunderts
angelegt sind. Dabei ist das Stereotyp nicht nur “plattes Bild”, sondern
erfüllt eine kommunikative Funktion zwischen Vermittlung und
Trauma-Bewältigung.

Andrei Rogachevskii
Marks statt Marx. Osteuropa, der Supermarkt und das
britische Gesundheitssystem

Not macht erfinderisch. Wie man aus Armut Überfluß macht, hat Michael
Marks vorgeführt. In den 1880er Jahren emigrierte er wegen des
zunehmenden Drucks auf die Juden aus dem Zarenreich nach Großbritannien.
Dort wurde er fliegender Händler. Weil er kaum Englisch und daher nicht
feilschen konnte, verkaufte er seine Waren zum Einheitspreis. Die Idee
des Supermarkts war geboren. Doch mit der Handelskette Marks & Spencer ist nicht nur die Vorstellung eines Konsumparadieses für alle
verbunden. Sie stand auch Pate für das britische Gesundheitssystem. Zu
verdanken hat das Unternehmen diesen Ruf seiner Mitarbeiterin Flora
Solomon – einer jüdischen Emigrantin aus dem Zarenreich.

Karlheinz Kasper
“Rom liegt irgendwo in Rußland…” Russische Literatur in deutschen
Übersetzungen 2006

Obwohl die Zahl der Übersetzungen nicht über dem jährlichen Durchschnitt
liegt, gibt es einige erfreuliche Tendenzen. So beeindruckt der Mut
einiger Verlage, in einer Zeit, die zur Prosa oder gar Sachprosa drängt,
Lyrikbände zu produzieren, die nicht nur gute Nachdichtungen vorstellen,
sondern durch Anlage und Gestaltung auch dem Auge etwas bieten. Bei den
Romanen gibt es Überraschungen und wahre Entdeckungen, zu denen die
anspruchsvollen Werke von Leonid Cypkin und Sergej Gandlevskij über die
beklemmende Atmosphäre der “Stagnation” gehören. Der umfangreiche
Bestand an neuen russischen Erzählungen bleibt indes mit wenigen
Ausnahmen weiterhin außerhalb des Blickfelds deutscher Verlage, die –
sicher aus marktwirtschaftlichen Erwägungen – eher auf Krimi und Fantasy
setzen.

Published 21 May 2007
Original in German

Contributed by Osteuropa © Osteuropa

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Read in: EN / DE

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