Abstracts Osteuropa 4/2006

Guillaume Grandazzi
Die Zukunft erinnern. Gedenken an Tschernobyl

Tschernobyl hat das Wesen der Katastrophe verändert. Für Millionen
von Menschen, die in den kontaminierten Gebieten leben, ist der Unfall
der sichtbaren Gestalt des Geschehenen beraubt. Anders als nach dem
Zweiten Weltkrieg ist es für die Menschheit unmöglich geworden, auf ein
“Nie wieder!” zurückzugreifen. Die Katastrophe ist in der Welt. Tschernobyl hat der Menschheit bewußt gemacht, was das Leben in der “Risikogesellschaft” bringen kann. Die “Apokalypse-Blindheit” des Menschen,
die Günther Anders zu den wesentlichen Merkmalen des Atomzeitalters
zählt, erschwert es, die Katastrophe zu verstehen und aus ihr zu lernen.

Ales’ Adamovic
Nicht nur ein AKW. Ein Brief an Michail S. Gorbacev

Der belarussische Schriftsteller Ales’ Adamovic kritisierte nach Tschernobyl die Verschleppungs- und Vertuschungspolitik der staatlichen Behörden. In seinem Brief an den damaligen Generalsekretär des ZK der
KPdSU warnt er vor einer Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes. Die
Tragik des Geschehens faßt er in die Worte: “Es ist nicht einfach nur ein
Atomkraftwerk explodiert, sondern jener ganze Komplex von Verantwortungslosigkeit, Disziplinlosigkeit und Bürokratismus.”

Vasilij Nesterenko
Mauern der Ignoranz. Protokoll einer Katastrophe

Sofort nach dem Unglück in Tschernobyl erkannten Wissenschaftler die
ungeheuren Gefahren für die Gesundheit der Menschen. Die Politiker
agierten nach der Devise: “Nur keine Panik!” Sie vertuschten das Ausmaß der Katastrophe, blockierten den Schutz. Erst die erdrückenden
Beweise und öffentlicher Druck änderten dies. Nichtsdestotrotz wurden
oppositionelle Wissenschaftler entlassen. Einige errichteten parallel zum
staatlichen System ein öffentliches Netz lokaler Meßstellen zur Strahlenkontrolle. Vasilij Nesterenko, ein Protagonist der Entwicklung, berichtet
aus erster Hand.

Alla Yaroshinskaya
Lüge-86. Die geheimen Tschernobyl-Dokumente

Alla Jarosinskaja stieß bei ihrer Suche nach der Wahrheit über Tschernobyl auf geheime Dokumente, die eine massive Vertuschung durch die
sowjetische Führung und eine gezielte Desinformationspolitik offenbaren. Wider besseres Wissen verharmloste die Staats- und Parteiführung
das Ausmaß der Kontamination, schickte Menschen in die verstrahlten
Gebiete zurück, brachte belastete Nahrungsmittel in Umlauf und bot dem
Ausland ein beschönigtes Bild des Geschehens.

Intermezzo
Der Wodka sollte unsere Schilddrüsen reinigen… Igor’ Kostin über seine Tschernobyl-Fotos

Igor’ Kostin machte die vermutlich einzig erhaltene Aufnahme des Unglücksreaktors in Tschernobyl aus der Nacht des Unfalls. Seitdem kehrt Kostin
immer wieder nach Tschernobyl zurück, um das Geschehen und den Stillstand zu dokumentieren. Er war in den ersten Tagen nach der Havarie mit
den Katastrophenhelfern auf dem Dach des Nachbarreaktors, er hat die
Evakuierung der Menschen aus der 30-Kilometer-Zone dokumentiert und
die sichtbaren und unsichtbaren Folgen der Kontaminierung eingefangen.

Alfredo Pena-Vega
Leben in einer Welt der Verbote. Eine Vergangenheit, die nicht vergeht

20 Jahre nach der Katastrophe von Tschernobyl befinden sich mehr als
dreitausend Städte und Dörfer in Belarus in Zonen, in denen die radioaktive Kontamination ein Gesundheitsrisiko darstellt. Dies wird für viele weitere Jahre so bleiben. Doch die Gesundheitsprobleme sind nur die sichtbare
Seite der “Post-Tschernobyl”-Ära. Das Ausmaß dieser Katastrophe ist so
groß und so vielgestaltig, daß viele Menschen auch nach 20 Jahren noch
nicht fähig sind, sich die wahren Dimensionen der Tragödie zu vergegenwärtigen. Das Leben hat sich in seiner biologischen, psychischen, sozialen und kulturellen Dimension verändert. Diese Veränderung ist ebenso
unsichtbar wie die Strahlung, doch sie bleibt in jedem Wort, in jeder
ängstlich angespannten Geste spürbar.

Sebastian Pflugbeil
Alle Folgen liquidiert? Die gesundheitlichen Auswirkungen von Tschernobyl

20 Jahre nach der Katastrophe bemühen sich IAEA und WHO darum,
Tschernobyl als Bagatellfall zu den Akten zu legen. “Kein Grund zur Beunruhigung” ist ihr Resümee. Ärzte und Patienten in der Tschernobyl-Region sehen das ganz anders: Die Krebsrate hat deutlich zugenommen, Schilddrüsenerkrankungen häufen sich, die Säuglingssterblichkeit
ist hochgeschnellt, genetische Schäden und Fehlbildungen nehmen zu.
Am schlimmsten betroffen sind die sogenannten Liquidatoren und ihre
Kinder. Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß dies auf die Strahlenbelastung infolge der Reaktorkatastrophe zurückzuführen ist.

Astrid Sahm
Auf dem Weg in die transnationale Gesellschaft? Belarus und die internationale Tschernobyl-Hilfe

Die Katastrophe von Tschernobyl sichert Belarus ungeachtet der weitgehenden politischen Isolation des Landes auch 20 Jahre nach der Reaktorexplosion ein erstaunlich hohes Maß an internationaler Aufmerksamkeit und Unterstützung. Dabei wird in der internationalen Tschernobyl-Hilfe kein einheitlicher Ansatz verfolgt. Ebenso wie die Bewertung der
Katastrophenfolgen unterschiedlich ausfällt, wird auch die Bedeutung der
Hilfe für Belarus kontrovers diskutiert. Es stellt sich somit die Frage, ob
die internationale Tschernobyl-Hilfe lediglich die Spaltung der belarussischen Gesellschaft reproduziert oder ob sie das Land auf dem Weg zur
transnationalen Gesellschaft unterstützt.

David Marples
Diktatur statt Ökologie. Krisenmanagement in Lukasenkas Belarus

Das Lukasenka-Regime hat großes Interesse daran, die Nachwirkungen
von Tschernobyl herunterzuspielen. Angesichts der kaum zu bewältigenden medizinischen und sozialen Probleme ist es für das Regime einfacher, die Folgen des Unfalls für überwunden zu erklären. Dies beugt
auch Widerständen gegen den geplanten Bau eines Atomkraftwerks vor.
Wissenschaftler, die Folgeschäden von Tschernobyl offenlegen, werden
mundtot gemacht, da sie der Autorität des Diktators schaden. Diese wird
paradoxerweise dadurch gestärkt, daß er sich den Opfern als starker
Führer präsentiert und nostalgische Erinnerungen an die Sowjetzeit
wachhält.

Jochen Aulbach
Der Sarkophag. Schrotthülle oder Millionengrab?

Nach der Katastrophe von Tschernobyl wurde 1986 in großer Eile und
unter extremen Bedingungen ein Betonmantel über der Reaktorruine errichtet, um die Umwelt vor der Radioaktivität zu schützen. Sehr bald
wurde deutlich, daß dieser Sarkophag ein Provisorium war und saniert
werden müsse. Über die Finanzierung und die Abschaltung der Reaktoren in Tschernobyl entbrannte ein Streit zwischen der EU und der Ukraine. Erst 1997 beschlossen die EU und die G7 mit der ukrainischen Regierung den Bau eines neuen Schutzmantels. Doch das Kernproblem
des Sarkophags ist nicht gelöst. Für die Entsorgung seines hochstrahlenden Inhalts gibt es bis heute keine Strategie.

Björn Slawik
Wunder oder Wahn? Das AKW Leningrad und der rußländische Atomsektor

Zwanzig Jahre nach Tschernobyl verlängerte die rußländische Atomaufsichtsbehörde die Betriebsgenehmigung des AKW Leningrad. Damit bleiben die ältesten Reaktoren des Tschernobyl-Typs am Netz. Unweit von St. Petersburg war das AKW Leningrad Anfang der 1970er Jahre als erstes
atomares Großkraftwerk der Sowjetunion errichtet worden. Das verantwortliche Ministerium verwirklichte es trotz Sicherheitsbedenken. Neben
der Erzeugung von Elektrizität diente es wohl auch militärischen Zwecken.
Das Kraftwerk ist ein repräsentatives Element des sowjetischen Atomsektors und illustriert die Kontinuität der Atompolitik in Rußland.

Lutz Mez
Auslaufmodell? Die Zukunft der Atomenergie in der EU

Die EU-Staaten stehen unterschiedlich zur Atomenergie. Sieben Staaten
nutzen sie, zwei haben ihre Reaktoren stillgelegt, sechs betreiben den
Ausstieg. Die übrigen zehn haben keine Atomprogramme. Vermutungen,
daß es nach der Osterweiterung der EU zu Standortverlagerungen von
West nach Ost kommen würde, sind unbegründet. Aus Sicherheitsgründen werden acht Reaktoren stillgelegt. Die EU und westliche Geber stellen dafür über eine Milliarde Euro zur Verfügung. Gleichzeitig sollen eingemottete Atomkraftwerke fertiggestellt werden. Ein Reaktor ist in Bau,
neue sind geplant. Wegen der Liberalisierung der Stromwirtschaft ist der
Neubau von Atomkraftwerken kaum mehr zu finanzieren. Von einer Renaissance der Atomkraft in der EU kann keine Rede sein.

Felix Christian Matthes
Atomenergie und Klimawandel. Eine Risikoabwägung

Die Debatte über den Klimawandel hat die Atomenergie wieder hoffähig
gemacht. Der Nutzen der Atomenergie wiegt die damit verbundenen Risiken jedoch nicht auf. Auch alternative Energieträger und effizienterer
Energieeinsatz können die CO2-Emissionen verringern. Deshalb ist es
möglich, gleichzeitig die globale Erwärmung aufzuhalten und aus der
Atomenergie auszusteigen.

Petra Opitz
Strom aus erneuerbaren Energien. Stiefkind osteuropäischer Energiestrategien?

In Ostmittel- und Osteuropa gibt es große Potentiale erneuerbarer Energien. Sie werden nur zu einem Bruchteil genutzt. Das Erbe der
Planwirtschaft – wie niedrige Energiepreise, Überkapazitäten in der
Stromerzeugung und ein Denken in Großprojekten – erschwert die
Nutzung. Vielfach gilt Kernenergie als High-tech, deren Beherrschung
Prestige und Image sichert. Diesen symbolischen Wert genießen erneuerbare Energieträger in Osteuropa nicht. Es mangelt an Bewußtsein, daß erneuerbare Energien die Abhängigkeit von fossilen Rohstoffen reduzieren, die Versorgungssicherheit erhöhen und positive Arbeitsmarkteffekte haben. Der EU-Beitritt hat in Ostmitteleuropa die
Rahmenbedingungen erheblich verbessert, um erneuerbare Energien
intensiver als bisher zu nutzen.

Adam N. Stulberg
Rußlands Nuklearsektor. Zentralisierung, Kontrolle, Wettbewerb

Tschernobyl, die Auflösung der UdSSR und der wirtschaftliche Niedergang in den 1990er Jahren führten zu einem Niedergang des Nuklearsektors in Rußland. Nach widersprüchlichen Reformen unter El’cin versucht das Putin-Regime, die Branche wieder zu zentralisieren, um die
nationale und internationale Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen. Ziel ist
es, den Nuklearkomplex neben dem Gas- und Ölsektor zu einem Pfeiler
zu machen, auf dem die angestrebte “Energiegroßmacht” Rußland basieren soll. Doch eine neoinstitutionalistische Analyse zeigt: Die Zentralisierung führt zu Steuerungsverlusten. Diese begrenzen die Chancen,
daß der Nuklearsektor eine strategische Bedeutung gewinnen kann.

Robert G. Darst & Jane I. Dawson
Global denken, lokal endlagern? Rußland und das Problem des Atommülls

Im Juni 2004 ging Rußland mit dem Vorschlag an die Öffentlichkeit, ein
Endlager für Atomabfälle aus der ganzen Welt zu errichten. Technisch
und sicherheitspolitisch wäre ein zentrales Endlager wünschenswert.
Doch ob Rußland die nötigen Sicherheitsstandards erfüllt, das radioaktive Material umweltverträglich lagern und gegen Mißbrauch und terroristische Angriffe schützen kann, ist fraglich. Auch sind moralische Zweifel
angebracht, da Rußlands Regierung den Widerstand der Bevölkerung
gegen ein solches Endlager bisher ignoriert. Je stärker Rußland bereit
ist, mit der internationalen Gemeinschaft zusammenzuarbeiten, desto
eher lassen sich diese Defizite ausgleichen.

Nataliya Zorkaya
Strahlendes Desinteresse. Atomenergie in Rußlands Öffentlichkeit

Die Haltung der rußländischen Öffentlichkeit zu Tschernobyl ist widersprüchlich und paradox. Für fast die Hälfte der Menschen ist der Jahrestag der Katastrophe einer der wichtigsten Gedenktage 2006.
Gleichzeitig nennt auf die Frage nach den bedeutendsten Ereignissen
des 20. Jahrhunderts nicht einmal ein Zehntel Tschernobyl. Das Ereignis
ist ins Unterbewußtsein abgeglitten, in dem es sich mit diffusen Ängsten
vor einem neuen Atomunfall und radioaktiver Verstrahlung mischt. Eine
echte Aufarbeitung hat nicht stattgefunden, und die Medien bieten statt
einer tiefgehenden Analyse platte Katastrophenszenarien.

Otfried Nassauer
Siamesische Zwillinge. Kernenergie und Kernwaffen

Die Welt verbraucht immer mehr Energie. Öl und Gas sind endliche
Ressourcen. Die Kernenergie steht möglicherweise vor einer Renaissance. Doch die zivile Nutzung der Kernenergie ist technologisch janusköpfig. Sie kann militärischen Zwecken dienen und zur Verbreitung von
Kernwaffen führen. Mit dieser Proliferation sind große sicherheitspolitische Risiken verbunden. Das globale Nichtverbreitungssystem von
Kernwaffen steckt in einer Krise. Zwischen dem Versuch, die nukleare
Bewaffnung weiterer Staaten zu verhindern und die Nutzung der zivilen
Kerntechnik auszubauen, gibt es einen unlösbaren Widerspruch.

Published 7 April 2006
Original in German

Contributed by Osteuropa © Osteuropa

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Read in: EN / DE

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