Abstracts Osteuropa 10/2005

Silvia von Steinsdorff
Gute und schlechte Informalität? Informelle Politik in West und Ost

Informelle Verfahren spielen in der Politik eine zentrale Rolle. Die
Bandbreite reicht von der Arbeit in verfassungsmäßig nicht vorgesehenen
Beratungskommissionen über Klientelismus, Korruption bis zu mafiosen
Praktiken. Informalität tritt überall dort auf, wo formale Institutionen
Leistungsdefizite aufweisen. Ob informelle Praktiken funktional oder
dysfunktional sind, um die Effizienz formaler Institutionen zu erhöhen,
ist umstritten und hängt vom Bewertungsmaßstab ab. Oft ist dies eine
rechtsstaatliche liberale Demokratie. Informelle Praktiken in Ostmittel-
und Osteuropa weisen Spezifika auf. Sie speisen sich aus dem Erbe des
Staatssozialismus und den Begleiterscheinungen der Transformation. Um
informelle Strukturen und Praktiken zu analysieren und zu bewerten,
bietet sich das bislang vernachlässigte Konzept der Legitimität an.

Astrid Lorenz
Präsent und dezentralisiert. Informelle Politik in der Bundesrepublik Deutschland

Der Beitrag gibt einen Überblick über den Wandel von einer
zentralisierten informellen Politik in der Bundesrepublik der
Adenauer-Ära hin zur dezentralisierten Informalität von heute. Zwar
hebeln informelle Beziehungen teilweise latent die Demokratieprinzipien
aus, doch sind sie auch ein Weg, in verflochtenen, pluralistischen,
medial ausgeleuchteten Systemen wie der Bundesrepublik überhaupt zu
politischen Entscheidungen zu gelangen. Für ihre Auswirkungen auf die
Politik scheint besonders wichtig, ob ein gesellschaftlicher,
ökonomischer und medialer Pluralismus und starke Parteien als faktisches
Korrektiv asymmetrischer Machtausübung entgegenwirken.

Rafael Mrowczynski
Gordische Knoten. Verwaltungshierarchien und Netzwerke in der UdSSR

Phänomene postsozialistischer Informalität wie Schattenwirtschaft,
Klientelismus oder Korruption sind das Ergebnis spezifischer Strukturen
und Funktionsweisen der sozialistischen Vergesellschaftung. Die Analyse
der Sowjetunion zeigt, daß die sozialistische Gesellschaft nach dem
Muster dezentralisierender Zentralisierung von ökonomischen und sozialen
Aktivitäten funktionierte. Es bildete sich heraus, als inoffizielle
Beziehungsnetzwerke innerhalb komplexer Verwaltungshierarchien des
parteistaatlichen Apparates entstanden. Die zunehmende Verselbständigung
dieser Interaktionsstrukturen gegenüber dem Zentrum war ein
ausschlaggebender Faktor für den Zusammenbruch des sozialistischen
Gesellschaftssystems.

Gerd Meyer
Ambivalenzen personalisierter Politik. Das Beispiel Polen

Die Personalisierung von Politik ist in vielen modernen Demokratien zu
beobachten. Demokratische Qualität und Wirkungen dieses Trends sind
ambivalent. Personalisierung von Politik bezieht sich auf das Verhalten
der politischen Eliten, die Darstellung politischer Sachverhalte in den
Medien, die Wahrnehmung von Politik durch die Bürger und auf
klientelistische Politik. Dafür bietet die polnische Politik seit der
ausgehandelten Revolution von 1989 aufschlußreiche Beispiele.
Führungsstil und Konfliktaustrag waren zunächst unter Lech Walesa, aber
auch noch unter Aleksander Kwasniewski hoch polarisiert und
personalisiert. Dies gilt auch für Struktur und Wettbewerb der Parteien,
für Wahlkämpfe und Wählerverhalten. Auf der anderen Seite konnte
Präsident Kwasniewski die herausgehobene Stellung seines Amtes und
seiner Person dazu nutzen, auseinanderstrebende Kräfte zu integrieren
und mehr Stabilität in die polnische Politik zu bringen.

Kerstin Zimmer
Klientelismus im neopatrimonialen Staat. Regionale Machtsicherung in der Ukraine

Informelle Regeln und Praktiken sind in der ukrainischen Politik
allgegenwärtig. Da die private und die öffentliche Sphäre kaum getrennt
sind, werden die Ressourcen des Staatsapparates für machtpolitische
Zwecke mißbraucht. Besonders deutlich zeigt sich dies im Verhältnis
zwischen Zentrum und Regionen, bei dem durch die Verquickung von
Ernennungs- und Haushaltspolitik mit den Wahlen die Kontrolle über die
Regionen gesichert wird. Regionalpolitik ist ein Umverteilungssystem,
bei dem die unteren Einheiten formal und informell vom Zentrum abhängig
sind und gezwungen werden, in klientelistischer Form zusammenzuarbeiten.
Gegenleistungen des Zentrums hängen von der erfolgreichen Mobilisierung
von Wählerstimmen ab.

Vadim Volkov
Jenseits der Gerichte. Warum die Gesetze nicht so funktionieren, wie sie sollen

Der Zusammenbruch der UdSSR ließ in Rußland ein Rechtsvakuum entstehen.
Gewaltunternehmer konkurrierten mit dem Staat um den Schutz des neu
entstandenen Eigentums. Hoheitliche Aufgaben wie Rechtssetzung und
Rechtsdurchsetzung wurden kommerzialisiert und durch Gewohnheitsrecht
und Gewaltpotential ersetzt. Erst Ende der 1990er Jahre gewann das
staatliche Gerichtswesen wieder an Bedeutung. Darin kommt jedoch weniger
eine Stärkung der Rechtsstaatlichkeit zum Ausdruck als die Tatsache, daß
das Gerichtssystem nun als Mittel einer neuerlichen
Eigentumsumverteilung dient. Der Fall Jukos illustriert dies. Eine
unabhängige und funktionsfähige Gerichtsbarkeit hat sich bis heute nicht
entwickelt.

Vladimir Gel’man
Wahlen à la russe. Formale Normsetzung und informelle Methoden

In Rußland finden Wahlen statt. Ein Präsidentenerlaß und das Wahlgesetz
von 1994 schufen die Grundlagen. Zahlreiche Normen regeln die Zulassung
und Finanzierung der Kandidaten, den Wahlkampf und die Durchführung der
Wahlen. Gleichzeitig haben sich informelle Methoden herausgebildet,
welche die formalen Wahlregeln unterlaufen und wirkungsvolle Mechanismen
darstellen, den Wahlausgang zu beeinflussen. Diese informellen Methoden
können die Stabilität der politischen Herrschaft erhöhen, jedoch auch
ihren Zusammenbruch fördern. Die Frage, ob Wahlen zu einem Machtwechsel
in Rußland führen können, ist weiter offen.

Heiko Pleines
Informelle Einflußnahme und Demokratie. Wirtschaftsakteure in Rußland und der Ukraine

In Rußland und der Ukraine ist die zivilgesellschaftliche
Selbstorganisation von Wirtschaftsakteuren sehr schwach. Nur die Agrar-
und die Kohlelobby, die bereits in der Sowjetunion relevante Ressourcen
erworben hatten, konnten auch nach dem Umbruch Einfluß auf die Politik
gewinnen. Illegale oder zumindest rechtlich fragwürdige Praktiken der
Einflußnahme auf Politik spielen hingegen eine große Rolle. Dies hat
Folgen für wirtschaftliche Reformstrategien, für die Machterlangung und
den Machterhalt der politischen Elite sowie für die Legitimität des
gesamten politischen Systems.

Barbara Lehmbruch
Staat, Markt und Schwarzmarkt. Überlebensstrategien rußländischer Behörden

“Öffentliche” und “private” Sphären sind in Rußland erst ansatzweise
getrennt. Dies gilt für den Staat wie für Privatunternehmer. Viele
Regierungsbehörden sind über ihre eigentlichen Regulierungsaufgaben
hinaus kommerziell tätig. Der Ursprung solcher Praktiken liegt häufig im
Überlebensstreben der Institution. Dies zeigt die Untersuchung zweier
Fallstudien aus dem Forstsektor. Die Folgen sind ambivalent. Hybride
Verwaltungen erleichtern die Zweckentfremdung öffentlicher Ressourcen
für private Zwecke. Damit korrumpieren sie Rußlands Marktwirtschaft,
tragen jedoch in vielen Bereichen dazu bei, dem Staat die Erfüllung
seiner Aufgaben überhaupt erst möglich zu machen.

Tina Olteanu
Vertrauensverlust. Korruption und Demokratie in Osteuropa

In Osteuropa nehmen viele Bürger zentrale staatliche Institutionen und
öffentliche Dienstleistungseinrichtungen als korrupt wahr. Den
Amtsträgern, Parlamentariern, Beamten und Angestellten wird ein
ausgeprägtes Eigeninteresse unterstellt. Dies führt jedoch nicht
zwangsläufig dazu, daß das Vertrauen in diese Institutionen gering ist.
Ebenso findet sich kein Beleg dafür, daß Korruption ein gesellschaftlich
akzeptiertes Phänomen in Osteuropa ist.

Kai-Olaf Lang
Auf dem Weg zur IV. Republik? Die Parlamentswahlen in Polen vom 25. September 2005

Aus den Parlamentswahlen in Polen sind die konservativen Kräfte der
Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) und der Bürgerplattform (PO) als
klare Sieger hervorgegangen. Die bisherige Regierungspartei SLD verlor
hingegen drei Viertel ihrer Stimmen. Das polnische Parteiensystem ist
damit weiterhin nur in Ansätzen stabil. Zwar haben PiS und PO
angekündigt, gemeinsam eine Regierung zu bilden. Doch schon zeichnen
sich Spannungen zwischen der national-konservativen, etatistischen und
euroskeptischen PiS und der bürgerlich-liberalen PO ab. Daher wird die
PiS ihr Projekt einer Vierten Republik wenn überhaupt nur in
abgemilderter Form umsetzen können.

Janusz Rolicki
Polen am Wendepunkt. Prognosen eines politischen Menschen

Die Wahlen zum Sejm vom 25. September 2005 markieren einen Wendepunkt.
Polens politische Landschaft steht am Beginn dauerhafter Veränderungen.
Der Sieg der Parteien Prawo i Sprawiedliwosc und Platforma Obywatelska,
die sich auf das Erbe der Solidarnosc berufen, speist sich aus der
Enttäuschung über die Ergebnisse der Transformation und aus dem
Versagen der Postkommunisten, die im Strudel ihrer Korruptionsaffären
untergingen. Die Wahlsieger um die Gebrüder Kaczynski sehen in ihrem
Erfolg den ersten Schritt zur Umgestaltung der Republik: Ihr Ziel ist
eine Stärkung der Macht des Präsidenten zulasten des Parlaments. Ob sie
es erreichen, hängt vom Ausgang der Präsidentschaftswahlen ab.

Michal Witkowski
Kulturscheide. Bekenntnisse eines Unpolitischen

Die polnische Gesellschaft ist kulturell tief gespalten. Das
links-liberale Milieu, das Emanzipation und Freizügigkeit lebt, hat
nicht einmal eine politische Vertretung. Auch die bei den Wahlen schwer
geschlagene postkommunistische Linke ist alles andere als libertär. Das
nationalkatholische rechte Milieu hingegen versucht, seine prüden Sitten
der gesamten Gesellschaft aufzuzwingen, und setzt homosexuelle Liebe mit
Pädophilie gleich. Dieses Lager hat einen Sieg bei den Parlamentswahlen
davongetragen. Den Anhängern liberaler Werte stehen schwere Zeiten bevor.

Published 15 November 2005
Original in German

Contributed by Osteuropa © Osteuropa

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Read in: EN / DE

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