Von Grenzen, Pässen und Rechten: Europäische Szenarien

Der Paß ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustande wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustande kommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Paß niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.1

Bertolt Brecht

 

Die Europäische Union hat ihr Jahrhundertwerk beinahe vollbracht: Was mit einem gemeinsamen Markt begann, führte zum freien Personenverkehr wie zum Wegfallen von nationalen Grenzen und erreicht pünktlich zum Jahre 2000 die ultimative Bindung der Mitgliedstaaten über die Einführung des Euro. Innerhalb eines halben Jahrhunderts hat sich die europäische mentale Landschaft grundlegend verändert, der Pass scheintfür Europäer/innen keine Rolle mehr zu spielen – ein Entwurf für ein gemeinsames europäisches Staatsbürgerrecht liegt bereits vor. Sind Bertolt Brechts Worte damit hoffnungslos veraltet? Hat der nationale unter den sozialen Platzanweisern seine Legitimation in der “postnationalen Konstellation”2 verloren?

Die Frage muss verneint werden, der Scheintrügt. Im Mittelpunkt dieses Essays steht die Relevanz des Nationalen in ihrer Verbindung mit Geschlecht, Ethnie, Sexualität und Alter. Ich werde dabei nicht nur auf den rechtlichen Ausnahmestatus von in Europa lebenden Migrantinnen hinweisen, sondern auch die These vertreten, dass die Geschlechterforschung sich davor hüten muss, diese Parameter zu negieren, weil die Vernachlässigung von Minderheitenpositionen der Homogenisierung der Kategorie Geschlecht Vorschub leistet.

Nation Europa?

Seit dem Ende des Kalten Krieges steht die Frage nach der Definition Europas und seiner Grenzen zur Disposition. Vor 1989 ging man davon aus, dass Europa aus parlamentarischen Demokratien Westeuropas besteht. Seitdem wird auf der Suche nach alternativen Organisationsprinzipien, die Europa vereinigen (könnten), häufig das schwer definierbare Konzept der europäischen Zivilisation oder – im deutschsprachigen Raum – der europäischen Kultur herangezogen. Bei der Neudefinition Europas stellt sich dabei die Aufgabe, einerseits eine gemeinsame Basis von Kultur, Politik, Raum und Geschichte zu re-konstruieren (Stichwort: das europäische Haus). Andererseits sind aber die auf dem geografischen Terrain Europas stattfindenden Kriege erklärungsbedürftig. Die Lösung dieser Paradoxie besteht in der Regel darin, dass das ehemalige Jugoslawien und die anderen post-sozialistischen Länder weitgehend von der Konstruktion Europas ausgeschlossen und als unterschiedlich starke östlich-orientalische Abweichungen vom westlichen Modell charakterisiert und bewertet werden.3 Im Kern der Neudefinition lässt sich eine diskursive Verschiebung erkennen, die auch als verspätete Reaktion auf die Phase der Dekolonisation nach 1945 gedeutet werden kann: Der alte Diskurs der europäischen Überlegenheit und Dominanz, bei dem sich der Begriff ‘Europa’, wie Etienne Balibar4 ausführt, auf die Kolonialmächte in den kolonisierten Teilen der Welt bezog, verschwindet. Der Prozess der Kolonisierung, das Ansiedeln von Europäer/inne/n in anderen Teilen der Weltkugel und die Gründung von Weltreichen bildeten früher das Terrain für den europäischen Selbstentwurf. Heute jedoch dominiert ein defensiver Diskurs eines ‘einheitlichen Europas’ als symbolischer Kontinent, dessen Territorium von fremden und ‘unzivilisierten Elementen’ gereinigt werden muss und der sowohl durch eine klare territoriale Ausgrenzung nach außen als auch durch den Druck zur Vereinheitlichung nach innen markiert wird. Zu diesem Diskurs gehört auch die Verteidigung des Wohlfahrtsstaates gegen eine Inanspruchnahme durch arme, mittellose ‘Außenstehende’. Das Auftauchen dieses “Wohlstandschauvinismus”5 wurde ausgelöst oder zumindest begünstigt durch die radikale Umstrukturierung der Wohlfahrtsstaaten in vielen westeuropäischen Ländern, die zu einer Reorganisation des Verhältnisses zwischen Staat und ‘Bürger’ geführt hatte.

Auf der Suche nach den Eigenschaften der ‘Nation Europa’ werden Vorstellungen von Kultur, Politik und Raum evoziert und verbunden mit solchen von Heimat und Nationalismus, dem Ausgrenzen von störenden ‘Anderen’ (Immigrant/inn/en, Asylsuchende, ethnische Minderheiten).6

Ideologische, rechtliche, ökonomische und politische Konstruktionen dieses einheitlichen Europas haben sowohl die andere Seite des ‘eisernen Vorhangs’ als auch postkoloniale und Arbeitsmigrationen benutzt, um Bilder von gefährlichen ‘Anderen’ zu entwerfen. Zwar hat sich ersteres seit 1989 in der Hinsicht verändert, dass heute eher über das Fehlen von Demokratie und demokratischen Fähigkeiten in den osteuropäischen Gesellschaften debattiert und daran gezweifelt wird, dass diese sich jemals zu ‘zivilisierten Gesellschaften’ entwickeln können; der Topos an sich ist allerdings nicht verschwunden. Der zweite Aspekt findet sich in den Debatten, in denen Migrant/inn/en und Asylsuchende als kulturell, ethnisch und religiös ‘Andere’ präsentiert werden. Beide Aspekte, die simultan existieren und manchmal – wie etwa im Falle Ex-Jugoslawiens – interagieren, sind zu Bezugspunkten der neuen Selbstdefinition Europas geworden. Die Nation Europa nivelliert zwar allmählich die nationalen Spezifika ihrer Mitgliedsstaaten, entwickelt aber gleichzeitig ein exklusives Konzept von Nationalismus und Nationalität in Bezug auf Nicht-Europäer/innen. Im Falle der Immigrant/inn/en, die Niederlassungsrechte erworben haben, wird der nationale in einen ethnischen Status umgewandelt, wobei die Kriterien der Grenzziehung aus den als solchen unterstellten nationalen Charakteren abgeleitet sind.

Insbesondere in den post-kolonialen Staaten Europas war der Prozess der Neu-Organisation des Nationalitätenstatus langwierig und kompliziert, weil aus den verschiedenen Bürgerschaftsregelungen von Kolonialstaaten jeweils ein einheitliches Staatsbürgerrecht entwickelt werden musste, dessen Bezugsrahmen die Kerngebiete der alten Nationalstaaten waren. Und selbst im Ursprungsland der republikanischen Staatsbürgerschaft, in Frankreich, wo die Zugehörigkeit zur Nation sich auf das Demos-Prinzip des ius soli (Niederlassungsrecht des Territorialprinzips) berief, ist in den letzten Jahren eine Verschiebung in Richtung auf das ius sanguinis (Abstammungsrecht) gestützte Ethnos-Prinzip zu verzeichnen. Die letzte und komplizierteste Phase in dieser stufenweisen Neu-Organisation wird die inter-europäische Angleichung sein. Obwohl es natürlich Bemühungen von liberal-republikanisch gesinnter Seite gibt, die Nation Europa auf das Demos-Prinzip zu gründen, so sind doch die Bestrebungen – nicht nur bei der extremen Rechten -, einen ‘europäischen Ethnos’ zur Grundlage dieses neuen Staatengebildes zu machen, nicht zu unterschätzen. Dieses Bemühen nährt sich aus der Vorstellung, dass sich eine moderne Nation als “imaginierte Gemeinschaft”7 auf gemeinsame Abstammung, Geschichte, ein geteiltes kollektives Schicksal und eine kollektive Zukunft beziehen muss. Nun ist allerdings die Genealogie eines ‘europäischen Volkes’ nur schwer rekonstruierbar, und so gewinnt der Topos einer gemeinsamen ‘europäischen Kultur’, bei deren Definition einerseits Demokratie aber auch Religion (Christentum) die Kernbegriffe darstellen, an Bedeutung. Die Abgrenzung gegen den Islam etwa wirkt nach innen homogenisierend und kreiert eine Gemeinsamkeit, die die existierenden Fragmentierungen diskursiv überbrücken soll. Gleichzeitig, und im NATO-Einsatz gegen Jugoslawien besonders aktuell, erfolgt die Grenzziehung gegenüber dem orthodoxen Christentum als Abweichung vom ‘westlichen’ Standard.8

Juridische Indikatoren für eine Entwicklung in diese Richtung sind sowohl die Veränderungen im Rechtsstatus der Bürger/innen ehemaliger Kolonien, die sich nicht mehr auf das Verbindende, das gemeinsame Mutterland beziehen können, sondern über den Status der nicht-europäischen Bürger/innen definiert werden, als auch die Bedeutungswandlung des Begriffs Migrant/in in den vergangenen Jahrzehnten. Als die west- und nordeuropäischen Länder vor dreißig Jahren Wanderarbeiter/innen aus den Mittelmeerländern rekrutierten (Italien, Portugal, Spanien, Jugoslawien, Griechenland, Türkei und Marokko), wurden diese zunächst ‘Gastarbeiter’ genannt, und man ging davon aus, dass ihr Aufenthalt von begrenzter Dauer sein würde. Seit den achtziger Jahren änderte sich ihr Status langsam zu ‘(Im)Migrant/inn/en’, und sie werden, mit Ausnahme von Jugoslaw/inn/en, Türk/inn/en und Marokkaner/inne/n, seit den EU-Süderweiterungen und der graduellen gegenseitigen Akzeptanz von Mitgliedsrechten als Europäer/innen bezeichnet.9 Während so der (rechtliche) Status der südeuropäischen Immigrant/inn/en in Nord- und Westeuropa durch ihre Eingliederung in die Europäische Union verbessert wurde, werden die Bürger/innen ehemaliger Kolonien und Immigrant/inn/en aus Nicht-EU-Ländern einer zunehmenden Exklusion ausgesetzt. Heute bezieht sich der Begriff Migrant/in in erster Linie auf Nicht-Europäer/innen. Damit sind zwei neue Kategorien aufgetaucht: die europäischen Staatsbürger/innen und die sogenannten Drittstaatsangehörigen (Third Country Nationals, “TNCs”).10

An diesem Beispiel wird deutlich, wie die Nationalstaaten Europas in der Behandlung von Migrant/inn/en einem Muster von selektiver Inklusion/Exklusion folgen. Hautfarbe, Kultur und Religion, singulär oder in Kombination, dienen dabei als Markierer von ‘Andersartigkeit’.11

Migration in Europa: Gegenwärtige und zukünftige Tendenzen

Gegenwärtig bestimmen neue Trends das Phänomen der Migration in Europa. Neben der Ansiedlung und Stabilisierung von Immigrant/inn/en, die aus der postkolonialen Migration und aus dem alten Gastarbeitersystem stammen, gibt es seit der Öffnung der Grenzen zwischen Ost und West nach 1989 eine neue Migrationin Europa.12 Nun gibt es zwar auch im Zeitalter der neuen Migration das System der Gastarbeiteranwerbung sowie bilaterale Vereinbarungen zwischen einigen westeuropäischen Ländern (darunter Deutschland) und osteuropäischen Ländern wie Polen, Ungarn und der Tschechischen Republik.13 Seit 1990 wurden einige zehntausend befristete Arbeitsgenehmigungen unter dem vielsagenden Titel “Anwerbestoppausnahmegenehmigung” erteilt, womit die Grundregel der Nicht-Anwerbung gehandhabt bleibt. Diese Regelungen unterliegen strikt dem Rotationsprinzip, d.h., dass Familienzusammenführung und Vertragsverlängerungen unter keinen Umständen genehmigt werden und der Umfang der Anwerbung begrenzt bleibt. Die neue Migration unterscheidet sich damit von der vorherigen darin, dass Anwerbung im Prinzip nicht erfolgt und Einwanderung unerwünscht ist. Die von allen westeuropäischen Ländern geteilte Prämisse, kein Einwanderungsland zu sein, steht einer sich faktisch vollziehenden neuen Wanderungsbewegung gegenüber. Die neue Migrationmanifestiert sich auf verschiedene Weise. Zunächst zahlenmäßig: Heinz Fassmann und Rainer Münz14  stellen fest, dass zwischen 1989 und 1994 vier Millionen Menschen nach Europa eingewandert sind, während der Kriegsausbruch im ehemaligen Jugoslawien die Flucht von vermutlich fünf Millionen Menschen ausgelöst hat.15 Das Ausmaß dieser Migration, so die Autoren, hat jede andere zahlenmäßig übertroffen, die in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges stattgefunden hat.16

Andere Eigenschaften, die diese neuevon vorangegangenen Migrationen unterscheiden, sind: veränderte Migrantenprofile, Feminisierung, Veränderungen in der (politischen) Geografie, neue politische Reaktionen und veränderte Migrationsstrategien.17 Aus Platzmangel will ich diese Eigenschaften nur kurz definieren und mich auf den Aspekt konzentrieren, der im Zusammenhang dieses Aufsatzes die größte Bedeutung hat, die Feminisierung. Mit verändertem Migrantenprofilist die größere Spannweite von Migrationsursachen und Migrationsakteur/inn/en gemeint, unter denen hochqualifizierte Arbeitskräfte (die von Ost nach West gehen oder umgekehrt), illegale Einwanderer und Einwanderinnen sowie Asylsuchende die wichtigsten sind.18 Veränderungen in der (politischen) Geografiewerden durch neue Entwicklungen gekennzeichnet, in denen Auswanderungsländer zu Einwanderungsländern werden (zum Beispiel die südeuropäischen Länder), wobei ein Land beides zur gleichen Zeit sein kann (Rußland und andere osteuropäische Länder, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß).19 Neue politische Reaktionenhaben wachsende Bedeutung in der Tagespolitik erhalten. Diese Reaktionen tragen in vielen europäischen Gesellschaften Züge von Panik, wobei nicht-registrierte Migrant/inn/en und Asylsuchende als Schmarotzer/innen, als Kriminelle oder als Menschen, die die Arbeitsplätze alteingesessener Bürger/innen bedrohen, gesehen werden.20 Veränderte Migrationsstrategien, zum Teil als Reaktion auf die Verschärfung der politischen Reaktionen, bezwecken, neue Restriktionen zu umgehen.21 Hier wäre beispielsweise die kreative Nutzung von rechtlichen Spielräumen oder der neuen Kommunikationsmittel bei der Planung und Umsetzung von Migrationsprojekten zu nennen.

Die Feminisierung der Migrationschließlich erhält derzeit größere Aufmerksamkeit und wird immer deutlicher sichtbar.22 Es gibt eine wachsende Bewegung von Migrantinnen in die (informelle und ungeschützte) Ökonomie hochindustrialisierter Gebiete Europas. Durch den ständig wachsenden Bedarf an weiblicher Arbeitskraft in bestimmten Sektoren innerhalb und außerhalb der formalen Ökonomie wie dem Dienstleistungssektor, der Hausarbeit, Unterhaltungsindustrie und Prostitution23 wächst die Anzahl von Migrantinnen in Europa ständig. Der Bedarf an weiblicher Arbeitskraft wird durch Rekrutierung oder Frauenhandel aus Ländern der Dritten Welt oder Osteuropas gedeckt. Die US-amerikanische nanny-gateAffäre hat die Öffentlichkeit auf ein Phänomen aufmerksam gemacht, das in Europa noch weitgehend unsichtbar, aber sehr weit verbreitet ist: Europäerinnen treten in großer Zahl in die (qualifizierte) Arbeitswelt ein, während es an Betreuungseinrichtungen für alte Menschen und Kinder fehlt und die Mehrheit der (Ehe-)Männer nach wie vor nicht bereit ist, sich an diesen Tätigkeiten zu beteiligen. Die Lösung des Problems besteht oft darin, Hausangestellte in Dienst zu nehmen, die entweder regelmäßig kommen oder im Haus wohnen (sogenannte live-ins).24 Die meisten europäischen Länder haben bereits Maßnahmen getroffen, um die Nachfrage durch Quotensysteme zu regulieren. In einigen Ländern wie etwa Frankreich, wo der Lohn für Hausangestellte von der Steuer abgesetzt werden kann, sind fast eine Million Haushalte registriert, die eine Hilfe angestellt haben; daneben gibt es nachgewiesener Weise eine große Zahl von nicht registrierten Hausangestellten. Annie Phizacklea betont, dass durch diese Entwicklung der Diskurs von der neuen “Gleichheit unter Ehepartnern” demaskiert wird:

Daß eine Vollzeit-Haushaltshilfe angestellt wird, bedeutet, daß die patriarchalischen Strukturen in Arbeit und Haushalt unhinterfragt bleiben, denn Frauen, die Karriere und Familie wollen, müssen nicht die Doppelbelastung tragen, und jegliches Schuld-Ausbeutungsbewußtsein wird durch das Wissen beruhigt, daß eine ärmere Frau einen Arbeitsplatz gefunden hat.25

Die ‘ärmere Frau’ ist aber nun in der Regel nicht mehr nur sozial ‘anders’, sondern auch Angehörige einer anderen Nationalität, womit der Gegensatz innerhalb des Geschlechts zwischen der Europäerin und der ‘anderen’ Frau signifikant und zusätzlich verschärft wird.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass die gegenwärtigen Tendenzen in der europäischen Migration nicht nur wachsende Heterogenität innerhalb und zwischen den sozialen Schichten der Immigrantengruppen schaffen, sondern auch dazu beitragen, mehrere parallel existierende politische Kategorien zu erzeugen, die von eingebürgerten Immigrant/inn/en über verschiedene Arten von Aufenthaltsberechtigung zu den ‘geduldeten’ und den ‘nicht registrierten’ reichen. Diese Kategorien sind das Ergebnis von politischen Entscheidungsprozessen, in denen Immigration zu einem Zeitpunkt erwünscht und zu einem anderen unerwünscht ist. Sie beziehen sich oft nicht auf klar getrennte Gruppen, sondern existieren nebeneinander. Stabilisierung, Expansion und Blockierung von Migrationsbewegungen sind die Facetten der neuen europäischen Migration, von der man heute schon sagen kann, dass sie selbst durch verstärkte Restriktionen nicht gestoppt und die fortschreitende Diversifikation der Gesellschaften nicht verhindert werden kann. Allerdings werden ideologische Konstruktionen vom ‘Anders-Sein’, die von rechtlichen Regelungen ergänzt werden, auf lange Zeit die Anerkennung der kulturellen und ethnischen Vielfalt Europas und der betroffenen Menschen erschweren. An der Situation vieler Migrant/inn/en zeigt sich, dass die Dauer ihres Aufenthaltes nicht automatisch zu einer Verbesserung ihrer rechtlichen Situation führt. Im nächsten Abschnitt werde ich diese These ausführen und im Anschluß daran auf die aktuelle Debatte über die doppelte Staatsbürgerschaft in Deutschland eingehen.

Migrantinnen im Dschungel von Gesetzgebung und Politik

Die Angaben über die Gesamtzahl der Immigrantinnen in Europa schwanken beträchtlich. Die heute zugänglichen Statistiken des Europarats basieren auf Zählungen vom 1.1.1994 und gehen von einer Gesamtbevölkerung der 15 EU-Mitgliedsstaaten von 370.418.600 aus; davon besaßen 11.526.700 Personen nicht die Nationalität eines EU Mitgliedstaates. Von diesen Drittstaatsangehörigen waren 5.103.900 weiblichen Geschlechts.26 Dieser Bericht erfasst nicht die Teile der Bevölkerung, die ‘naturalisiert’ sind und dann in der Regel als ‘ethnische Minderheit’ eines europäischen Staates angesehen werden. Unberücksichtigt bleiben ebenfalls die nicht-registrierten Migrant/inn/en, die nach einigen Schätzungen mittlerweile die Zahl der legalen erreicht haben. Da die Registrierung von Migrant/inn/en sowie die Einbürgerung in den verschiedenen Staaten völlig unterschiedlichen Verfahren und Kriterien entspricht, ist es bis heute schwierig, Vergleiche zwischen den Mitgliedstaaten der EU durchzuführen. Die unterschiedlichen Registrierungssysteme erschweren ebenfalls genaue Aussagen über Minderheitenschutz und -gleichstellungspolitiken etwa mittels Anti-Diskriminierungsgesetzgebung.

Der Terminus Migrantinnen (im deutschsprachigen Raum Ausländerinnen) bezieht sich momentan rechtlich auf knappe vier Prozent der europäischen Bevölkerung, die sich legal mit einem Drittländer-Pass in dem jeweiligen europäischen Land aufhalten. Der Anteil der Illegalen steigt ständig, auch als Resultat der oben beschriebenen Entwicklungen. Es geht bei den Immigrantinnen um eine ungewöhnlich heterogene Gruppe, die von erheblichen Unterschieden in Bezug auf soziale, kulturelle und ethnische Herkunft sowie Bildung gekennzeichnet ist. Allerdings gibt es auch zahlreiche Gemeinsamkeiten wie etwa das Problem, legalen Zugang zum angestrebten Auswanderungszielland zu erlangen und dort selbstbestimmt leben zu können. Damit beschäftigt sich der folgende Abschnitt.

Obwohl in den letzten Jahren in einigen europäischen Staaten die radikal veränderten Rollenmuster zwischen Männern und Frauen und gleichgeschlechtlichen Paaren in der Gesetzgebung berücksichtigt wurden, indem (Verträge für) eheähnliche Verhältnisse rechtlich mit der Ehe gleichgesetzt wurden (etwa in Dänemark, Schweden, den Niederlanden, Frankreich), ist im Fall der Migrant/inn/en das Gegenteil der Fall: Die Ehe ist das wichtigste Kriterium, legal in der EU zugelassen zu werden, und nur wenige Staaten sind bereit, im Rahmen der Zulassungsbedingungen ein Zusammenleben in eheähnlicher Gemeinschaft der Ehe gleichzustellen. Seit in den frühen siebziger Jahren die offizielle Anwerbung von Migrant/inn/en gestoppt wurde, ist die Familienzusammenführung oder -gründung zum wichtigsten Instrument legalerEinwanderung nach Europa geworden.

Außer in Deutschland, Frankreich, aber auch Großbritannien, wo Zehntausende von Frauen als Arbeiterinnen in bestimmten Zweigen der Industrie (z.B. Elektrotechnik) angeworben wurden,27 ist die Mehrheit der Arbeitsmigrantinnen als rechtlich definierte ‘abhängige Ehepartnerin’ eingewandert, oftmals viele Jahre nach dem Wegzug ihrer Ehemänner. Unter den (post-)kolonialen Migrant/inn/en war dies nicht der Fall, was zu immensen Unterschieden zwischen den Migrationsmustern von (post-)kolonialen und Arbeitsmigrant/inn/en geführt hat. In den Niederlanden zum Beispiel war das Verhältnis zwischen Männern und Frauen bei den ersteren von Anfang an fast ausgewogen, im Fall der letzteren stieg der Anteil von Frauen langsam über einen Zeitraum von zwanzig Jahren an und erreicht erst jetzt 43-45% der jeweiligen Gruppe. Es gibt beträchtliche Unterschiede in der Geschlechteraufteilung innerhalb und zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen in der EU, je nach Anwerbe- und Zulassungspolitik, oder, im Fall von Flüchtlingen, je nach der Art der Verfolgung. Der Wunsch, mit Ehemann oder -frau und minderjährigen Kindern zusammenzuleben, wurde erst aufgrund der Einsprüche von Menschenrechtsorganisationen als ein Arbeitnehmerrecht zugestanden. Dieses Anliegen wird heutzutage intensiv von den Einwanderungsbehörden überprüft: Es werden Tests oder Interviews durchgeführt, um die ‘wahren’ Migrationsmotive zu ergründen.

Während in der Mehrzahl der europäischen Länder die Einreisebedingungen geschlechtsneutral (formuliert) sind, war England das einzige Land, das offiziell geschlechtliche Diskriminierung in der Immigrationsgenehmigung von Ehemännern und -frauen angewendet hat, bis dies 1985 durch den Europäischen Gerichtshof untersagt wurde.28 Seit den späten sechziger Jahren wurden besonders asiatische Männer verdächtigt, durch Zweckehen nach England einzuwandern, während man davon ausging, dass ihr eigentlicher Einreisegrund die Suche nach Arbeit sei. Das Innenministerium vermutete, dass das System der arrangierten Eheschließung von den Männern ausgenutzt würde, und etablierte ein speziell auf diese Gruppe zugeschnittenes Befragungssystem, das den eigentlichen Beweggrund der Kandidaten überprüfen sollte. Obwohl diese Befragungen offiziell wegen geschlechtlicher Diskriminierung abgeschafft werden mussten und die Einwanderungskriterien für Frauen negativ angeglichen, d.h. erschwert wurden, wird de facto die Mehrzahl der männlichen asiatischen Bewerber (86% im Jahr 1991 und 84% 1992) immer noch abgelehnt.29 Daraus ist zu schließen, dass zwar die sichtbare juristische Regelung revidiert wurde, sich jedoch die Praxis nicht geändert hat. Es gibt darüber hinaus noch andere Beispiele in der britischen Einwanderungspraxis, die belegen, dass geschlechtsspezifische Stereotypen über die ‘Kultur’ einer Bewerberin bzw. eines Bewerbers sich als Einschätzungskriterien in den Genehmigungsverfahren niederschlagen. Der Jungfräulichkeitstest30 ist nur eines von vielen absurden Beispielen.31

Von der Praxis diskriminierender Kriterien in den Zulassungsverfahren sind im Prinzip Männer, Frauen und Kinder betroffen, tatsächlich handelt es sich dabei jedoch meist um Frauen und Kinder. In Deutschland musste bis 1991 eine Ehe schon mindestens ein Jahr bestanden haben (drei Jahre in Bayern und Baden-Württemberg), bevor man eine Ehepartnerzusammenführung beantragen konnte. Dies steht in scharfem Kontrast zum deutschen Eherecht, demzufolge eine Ehe als zerrüttet gilt, wenn die Partner ein Jahr lang getrennt voneinander leben.

In den letzten Jahren wurden in vielen Ländern der EU die Bedingungen für die Zulassung von Ehepartner/inne/n verschärft. Der schon im Einwanderungsland wohnhafte Ehepartner muss einen legalen, ununterbrochenen Aufenthalt von fünf bis zehn Jahren nachweisen können, ein Einkommen zur Verfügung haben, das 70% des gesetzlich festgelegten nationalen Mindesteinkommens ausmacht, und einen Arbeitsvertrag auf ein weiteres Jahr vorweisen.32 Auch die Anforderungen hinsichtlich der Wohnverhältnisse wurden dahingehend erweitert, dass die Größe der zukünftigen Wohnung nachgewiesen werden muss. Eine weiteres Hindernis, das das Paar überwinden muss, um eine Einreisegenehmigung zu erhalten, ist der Nachweis, dass ihre Ehe aus Liebe geschlossen wird und nicht aus materiellen Motiven,I33 wodurch die romantisch idealisierte Liebesheirat als Legalitätsmaßstab dient. Eine Ehe kann für ungültig erklärt werden, wenn die Einwanderungsbehörde Gründe für die Annahme hat, dass sie auf unechten (materiellen) Motiven beruht.

In Deutschland wird einem abhängigen Ehepartner bzw. einer abhängigen Ehepartnerin ein unabhängiger Aufenthaltsstatus nach vier Jahren und in den Niederlanden nach einem Jahr nach dem Zuzug34 gewährt. Wenn eine Ehe vorher zerbricht oder der Ehemann stirbt, sind Frauen in einer schwierigen und verletzlichen Situation: Sie können einen unabhängigen Aufenthaltsstatus aus humanitären Gründen beantragen, aber die Anerkennungskriterien sind nicht nur von Land zu Land sehr unterschiedlich, oft variieren sie sogar innerhalb eines Staates in verschiedenen Kommunalverwaltungen. Die Entscheidung darüber, ob eine Bewerbung die ‘Chance’ hat, angenommen zu werden, obliegt den örtlichen Einwanderungsbehörden; andernfalls erhält die Bewerberin keine Sozialhilfe und ihre Krankenversicherung ist nicht gewährleistet. Eine Frau, die keine Aufenthaltsgenehmigung besitzt, kann nicht erwerbstätig sein.

Eine weitere Besonderheit der Regelungen zur Familienzusammenführung ist das Kleinfamilienprinzip, das bei der Zulassung angewendet wird: Eine Familie besteht demnach aus Ehemann, Ehefrau und deren minderjährigen biologischen Kindern.35 ‘Soziale Elternschaft’, etwa die Betreuung und Erziehung von Neffen und Nichten oder das aktive Einbeziehen von Großeltern in die Kinderbetreuung, wird durch die bestehenden Regelungen erschwert oder sogar unmöglich gemacht.36 Dadurch zwingen die Gesetze die Betroffenen in ein auch nicht von der Mehrzahl der europäischen Familien gelebtes Lebensmodell.

Wenn man diese Regelungen aus einer analytischen Perspektive betrachtet, fallen zwei Aspekte auf. Erstens wird das ‘männliche Familienernährer-Prinzip’, das in der autochthonen europäischen Bevölkerung langsam an Bedeutung verliert, durch die Ausländergesetzgebung verstärkt. Dadurch vergrößert sich die Kluft zwischen den Rollenmustern und Lebensentwürfen der modernen Europäer/innen einerseits und der traditionell lebenden Einwanderer und Einwanderinnen andererseits. Das gleiche gilt für eine weitere traditionelle Institution, die Ehe. Man kann sagen, dass die Ehe als ‘Torwächterin’ in der Einwanderungsgesetzgebung funktioniert und so nicht nur Ungleichheiten zwischen einheimischen und eingewanderten Frauen und Männern schafft, sondern auch auf der ideologischen Ebene zur Reproduktion und Verfestigung der Stereotypen führt, indem sie die Immigrant/inn/en als traditionsgebunden festschreibt.

In seiner gegenwärtigen Form diskriminiert das Familienernährer- und Eheprinzip eine große Gruppe von Immigrant/inn/en, und zwar all diejenigen, die vom rechtlichen Status ihres Ehepartners abhängig sind. Zahlreiche Berichte haben gezeigt, dass Frauen so in eine zutiefst verletzliche Position geraten, die es (Ehe-)Männern leicht macht, sie zu missbrauchen und auszunützen. Es ist daher keine Übertreibung festzustellen, dass dieses Gesetz nur dort kein Hindernis ist, wo die Ehe gut funktioniert. In vielen anderen Fällen werden durch die Gesetzgebung in den Einwanderungsländern patriarchale Gewohnheiten verstärkt.37 Da schließlich die Mehrheit der europäischen Staaten homosexuelle Partnerschaft nicht als gleichwertig mit heterosexuellen Beziehungen anerkennt, ist eine Familienzusammenführung für Homosexuelle rechtlich besonders erschwert.
Diese und weitere Aspekte tragen zu dem bei, was man als Dschungelsituation bezeichnen könnte: In den meisten Mitgliedsstaaten der EU werden die Einwanderungsgesetze häufig, oft jährlich, geändert. Nur wenige Immigrant/inn/en können mit diesen Veränderungen Schritt halten. Seit dem Inkrafttreten des Schengen Vertrags38gibt es verstärkt Anzeichen dafür, dass Harmonisierung unter den Mitgliedsstaaten oft bedeutet, dass die strengste Gesetzgebung von den Ländern übernommen wird, in denen sie sich als durchführbar erwiesen hat.

Für viele Betroffene würde es sich anbieten, so schnell wie möglich die Staatsangehörigkeit des jeweiligen Landes anzunehmen, um diesem Dschungel-Spiel zu entgehen. In diesem Zusammenhang ist die aktuelle Debatte in Deutschland über die Einführung des neuen Staatsbürgerrechts, auf die hier kurz eingegangen werden soll, interessant.

Wer ist das Volk?

Im Gegensatz zu den meisten europäischen Staaten, die bei der Einbürgerung mit einer Mischung von ius sanguinisund ius solihantieren, gilt in der Bundesrepublik Deutschland – ebenso wie in Österreich – das nach ethnischer Herkunft definierte Abstammungs-Prinzip. Nun liegt seit dem 13.1.1999 ein Gesetzentwurf des deutschen Innenministers zur Reform des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts von 1913 vor. Die darin vorgeschlagene Änderung der Paragraphen 85, 86, 87 und 89 des Ausländergesetzes und der Artikel 2 bis 6 des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes sind als Folge des heftigen Protestes der christdemokratischen Opposition und des Resultates der hessischen Landtagswahlen im Februar 1999, bei dem eine Unterschriftenkampagne gegen den vorliegenden Gesetzentwurf der CDU zum Sieg verholfen hatte, mittlerweile revidiert worden. Den Kern des ursprünglichen Entwurfs bildete das Angebot und damit die Akzeptanz der Doppelstaatsangehörigkeit für seit Jahrzehnten legal in Deutschland lebende Migrant/inn/en. Damit beabsichtigte die neue Bundesregierung ihren im Koalitionsvertrag angekündigten Politikwechsel in Bezug auf den Umgang mit Zuwanderern und Zuwanderinnen, die in der Vergangenheit nach Deutschland eingewandert sind, umzusetzen. Gleichzeitig sollte aber ein grundsätzliches Bekenntnis dazu, de facto ein Einwanderungsland geworden zu sein, vermieden werden. Die Doppelstaatsbürgerschaft wurde als temporäres Instrument zur Gleichstellung und Integrationshilfe der hier seit langem lebenden und/oder geborenen Ausländer/innen präsentiert. Nicht nur, aber sicher auch deshalb, weil sie die größte Gruppe der potentiellen Doppelstaatler/innen stellen würden, bezog sich die Debatte von Anfang an auf die in Deutschland lebenden Türk/inn/en.39 Aggressive Polemik und Animositäten richteten sich vor allem gegen die ‘Deutsch-Werdung’ dieser Zuwanderergruppe; diese negative Haltung wurde mit deren ‘andersartiger kultureller Herkunft’, als Muslime und Musliminnen und einer angeblichen ‘Integrationsunwilligkeit’ begründet.

Der sturmartige Widerstand gegen die doppelte Staatsbürgerschaft hat zu einer weitgehenden Revision der ursprünglichen Gesetzesvorlage geführt, die schließlich am 7.5.1999 vom Deutschen Bundestag verabschiedet wurde. Zwar wird auch beim aktuellen Stand an der Absicht festgehalten, das Abstammungsprinzip durch das Territorialprinzip zu ergänzen (etwa indem Neugeborene automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten), jedoch wird darauf bestanden, dass Mehrstaatlichkeit unbedingt vermieden werden muss (weshalb dieselben bei Geburt als Deutsche registrierten Kinder spätestens an ihrem 18. Geburtstag eine Staatsangehörigkeit wählen müssen). Der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit wird einerseits erleichtert (bereits nach acht statt bisher nach 15 Jahren Aufenthalt), andererseits erschwert, weil er an neue Bedingungen geknüpft (Gelöbnis der Verfassungstreue und Sprachtest) und verteuert (von 100 auf 500 DM) wird.

Damit haben sich in Deutschland wieder einmal jene politischen Kräfte durchgesetzt, die an einem ethnisierten Staatsverständnis festhalten, demzufolge ein Staat von einer Volks-Nation gebildet wird und alle Anderen, diesem Volk Nicht-Zugehörigen sich mit einem zweitklassigen Bürgerschaftsstatus, der ihnen grundsätzliche politische Rechte vorenthält, zufrieden geben müssen. Dieses Staatsverständnis richtet sich nicht grundsätzlich gegen Einwanderung, sondern reserviert dieses Privileg für ‘ethnische Deutsche’, sogenannte Spätaussiedler (vor allem aus Rußland), die seit Anfang der siebziger Jahre jährlich in einer Anzahl von ca. 250.000 Menschen zuziehen. Diese Gruppe wird automatisch eingebürgert und auch weiterhin juristisch als Repräsentant deutscher Abstammung und Kultur betrachtet. Bei allen anderen, nicht-deutschen und zudem außer-europäischen Einwanderern und Einwanderinnen wird die Loyalität geprüft, und der Verzicht auf die ehemalige Staatsbürgerschaft ist verpflichtend.

Ein Blick auf die Regelungen anderer europäischer Mitgliedstaaten macht deutlich, dass dort zumindest in Bezug auf die Doppelstaatlichkeit ein liberalerer Umgang mit Einwanderern und Einwanderinnen möglich ist: Trotz Abstammungsrechts-Prinzip akzeptieren Italien und Dänemark Mehrstaatlichkeit; problemlos ist diese ebenfalls in Großbritannien, Irland, Frankreich, Belgien und Griechenland. In den Niederlanden hat die zwischen 1995 und 1998 mögliche Doppelstaatlichkeit gerade bei den türkischen Einwanderern und Einwanderinnen zu einem sprunghaften Anstieg der Einbürgerungen geführt: Im Jahre 1995 stand eine Einwanderungsquote von 18,5% einer entsprechenden Quote von 1,57% der in Deutschland lebenden Türk/inn/en gegenüber. Nun ist gerade aus dieser Entwicklung abzuleiten, dass das Argument der kulturellen Inkompatibilität und der Integrationsunwilligkeit der türkischen Einwanderergruppe nicht stichhaltig ist. Denn die Geschichte der türkischen Arbeitseinwanderung in den Niederlanden und in Deutschland ist vergleichbar, die Praxis der formalen Integration jedoch sehr unterschiedlich. In vielen europäischen Ländern wird, wie Elçin Kür at-Ahlers und Hans-Peter Waldhoff40 schreiben, die Einbürgerung nicht als Resultat, sondern als Vorstufe oder Bedingung der emotionalen Bindung zum Einwanderungsland gesehen. Für die Bundesrepublik bedeutet die Ablehnung einer solchen Denk- und Handlungsweise langfristig das Festhalten an einem veralteten Staatsrecht; es bleibt abzuwarten, ob eine europäische Verfassung, in der auch Minderheitenrechte festgeschrieben werden müssten, hier irgendwann einmal Abhilfe schaffen kann.

Die Auswirkungen der um das Staatsbürgerrecht geführten Debatte in Deutschland stehen noch aus. Es ist allerdings zu befürchten, dass die Evozierung ethnischer Semantik (deutsch versus nicht-deutsch) einem völkischen Selbstverständnis Vorschub geleistet hat, wie dies etwa in den Worten eines bayerischen CSU-Bewerbers um das Bürgermeisteramt zum Ausdruck kam, der seinen Wähler/inne/n versprach, “bis zum letzten Blutstropfen” gegen die Erneuerung des Staatsbürgerschaftsrechtes zu kämpfen. Die Segmentierung oder sogar Spaltung der Gesellschaft und die Akzeptanz von gewalttätigem Rassismus wären dann die Folgen, die diese Debatte ursprünglich zu vermeiden beabsichtigte.

Der edelste Teil von einem Menschen oder die Partikularität von Staatsbürgerschaftsrechten

Es dürfte klar geworden sein, dass Bertolt Brechts Worte an der Schwelle zum neuen Jahrtausend nichts an Aktualität eingebüßt haben – zumindest nicht für den Teil der europäischen Bevölkerung, dem das Bürgerrecht auf diversen Ebenen, der politischen, der sozialen und/oder der kulturellen Ebene versagt bleibt. Allerdings ist es auch wichtig festzustellen, dass es noch immer immense Unterschiede in dieser Frage zwischen den europäischen Ländern gibt. Obwohl der Umgang mit Minderheiten und mit Einwanderung für jeden einzelnen Staat brisant und relevant ist, kann wohl die Einigung auf eine gemeinsame Regelung auch in nächster Zukunft nicht erwartet werden. Die (blutigen) Auseinandersetzungen um Territorien, Grenzen und Zugehörigkeitskriterien haben schließlich dieses gesamte, wie der Historiker Eric Hobsbawm es nennt, “Jahrhundert der Extreme”, insbesondere in Europa geprägt. Die aktuelle Entwicklung zeigt, dass die Auseinandersetzung um nationale Mitgliedschaft und Ausgrenzung keineswegs der Vergangenheit angehört; über die Auswirkungen (neuer) rassistischer Nationalismen gibt es täglich neue Informationen.

Hobsbawm beschreibt die Entwicklung folgendermaßen:

Der Begriff einer politischen Landkarte, in der jeder säuberlich getrennte Territorialstaat idealerweise nur ein einziges sprachlich und ethnisch definiertes ‘Volk’ darstellt oder einem solchen Volk ‘gehört’, ist in der Weltgeschichte ein absolutes Novum. Als Programm ist es praktisch vor dem 19. Jahrhundert nicht vorzufinden. Homogene Nationalstaaten im heutigen Sinne des Wortes waren damals auch gänzlich unrealistisch.41

Für diese Homogenisierung, so Hobsbawm, ist in Europa ein hoher Preis bezahlt worden; seit 1918 kam es in Westeuropa zu einer immer stärkeren Homogenisierung der Nationalstaaten, die durch Kriege, Völkervertreibungen und Massenmorde begleitet bzw. zustande gebracht wurde. Während diese Periode in Westeuropa in den fünfziger Jahren abgeschlossen war, wurden diese Tendenzen in den seit Jahrhunderten multi-ethnischen, multi-lingualen und multi-religiösen Gebieten Ost- und Mitteleuropas nach dem Fall des Eisernen Vorhangs virulent. Obgleich Hobsbawm hier mit dem britischen Soziologen Robert Miles42 zu ergänzen ist, der davon ausgeht, dass das Nationalisierungsprojekt auch in Westeuropa unvollendet geblieben ist und die diversen Separatismen bis heute die politische Agenda Westeuropas bestimmen, so wird hiermit in gewisser Weise deutlich, dass die Westeuropäer/innen durch den Krieg auf dem Balkan drastisch mit der eigenen jüngeren Vergangenheit konfrontiert werden. Dieser Krieg veranschaulicht und verschärft gleichzeitig die Frage nach der Zukunft Europas, insbesondere nach dem Verhältnis zwischen Mehrheiten und Minderheiten im nationalen Kontext.

Die Entwicklung von Theorie und Praxis einer Staatsbürgerschaft, “die nicht sexistisch, nicht rassistisch und nicht westlich zentriert und darüber hinaus flexibel genug [ist], um den weitreichenden Veränderungen der globalen (Un-)Ordnung gerecht werden zu können,”43 muss dabei dringend vorangetrieben werden. Nira Yuval-Davis beschreibt die Problemlage folgendermaßen:

Wenn Staatsbürgerschaft als eine ‘vollständige Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft’ definiert wird, dann sind Menschen in der Regel Mitglied mehrerer Gemeinschaften, die den Staaten unter- oder übergeordnet sowie quer dazu gelagert sind. Sehr oft sind Rechte und Pflichten der Menschen bezogen auf einen bestimmten Staat durch ihre Mitgliedschaft in einem spezifischen ethnischen, religiösen oder regionalen Kollektiv vermittelt und weitgehend von ihm abhängig, obwohl sie sehr selten gänzlich zu ihm gehören.44

Für die hier zur Debatte stehende Frage nach einer Europäischen Staatsbürgerschaft, die nicht ausgrenzend ist, bedeutet dies, dass eine Konzeption egalitärer Differenz entwickelt werden muss. In dieser Konzeption müssen die verschiedenen Aspekte von Staatsbürgerschaft und Mitgliedschaft so gestaltet werden, dass sie, wie Ruth Lister45 dies nennt, von einem differenzierten Universalismus ausgehen, andererseits aber auch die darin enthaltene Identitätspolitik nicht als essentialistisch auffassen, sondern immer wieder zur Debatte stellen. Europa muss in dieser Hinsicht nicht alle Fehler wiederholen, die auf nationaler Ebene gemacht wurden, und sollte sich davor hüten, seine Minderheiten den Preis der simultan stattfindenden De-Nationalisierung und Re-Nationalisierung bezahlen zu lassen.

Letztendlich beschränken sich die Auseinandersetzungen um gesellschaftliche Teilnahme nicht auf das juristische Terrain, sondern verteilen sich auf alle gesellschaftlichen Bereiche. Aber die Frage, ob diese Auseinandersetzungen auf demokratische Weise geführt werden können, hängt auch von der Ausstattung der Teilnehmer/innen mit einem ‘guten oder einem schlechten Paß’ ab. Der ‘edelste Teil von einem Menschen’ wird die Europäer/innen noch lange beschäftigen.

Bertolt Brecht, , in: Bertolt Brecht, , XIV, Prosa 4, Frankfurt a. M. 1967, S. 1383.

Jürgen Habermas, , Frankfurt a. M. 1998.

Vgl. Dubravka Zarkov, , in: Helma Lutzu.a. Hg., Crossfires. , London 1995, 105-120.

Etienne Balibar, , in: , 186, 3 (1991), 5-19.

Vgl. Rudolf Leiprecht, , DISS-Texte, 19, Duisburg 1991; Jürgen Habermas, , in: , 12, 1 (1992), 1-19.

Vgl. Nora Räthzel, , in: , 4, 1 (1994), 81-98; dies., , in: Lutz u.a., , wie Anm. 3, 161-189; Helma Lutz u.a., , in: Lutz u.a., , wie Anm. 3, 1-25.

Benedict Anderson, , London/New York 1983.

Samuel Huntington, , München/Wien 1996.

Der Vertrag von Maastricht (1992) sichert Europäischen Bürger/inne/n nicht nur das Recht auf freie Wahl des Wohnortes zu, sondern auch das Recht, an Kommunalwahlen teilzunehmen.

Vgl. Jacueline Bhabhau. Sue Shorter, , Stoke-on-Trent 1994, 212.

Vgl. Helma Lutz, , in: , 10, 57 (1997), 93-111.

Vgl. Helma Lutzu. Khalid Koser, , in: Khalid Koser u. Helma Lutz Hg., , London 1998, 1-20.

Vgl. Hedwig Rudolph, , in: , 22, 2 (1996), 287-300.

Heinz Fassmannu. Rainer Münz, , in: , 28, 4 (1994), 520-538.

UN-ECE, , Geneva 1995.

Vgl. Fassmann/Münz, , wie Anm. 14; Rainer Münz, , in: , 22, 2 (1996), 201-226; Russel King, , London 1993.

Koser/Lutz, , wie Anm. 12.

Vgl. A.G. Champion, , in: , 31, 4/5 (1994), 653-677; Hedwig Rudolphu. Felicitas Hillmann, , in: Koser/Lutz, , wie Anm. 12, 60-84.

Claire Wallaceu.a., , in: , 22, 2 (1996), 259-286; Hilary Pilkington, , in: Koser/Lutz, , wie Anm. 12, 85-108; Cristiano Codagnone, , in: Koser/Lutz, , wie Anm. 12, 39-59.

Wayne A. Corneliusu.a. Hg., , Stanford 1995.

Vgl. Khalid Koser, , in: Koser/Lutz, , wie Anm. 12, 185-198; Richard Staring, , in: Koser/Lutz, , wie Anm. 12, 224-241.

Die Re-Interpretation der konventionellen Daten lässt die Annahme fallen, dass die Migration von Frauen automatisch auf die Familienzusammenführung reduziert werden könne, selbst wenn Frauen diesen Weg der Einreise nehmen. Auch wurde die Analyse der Migrationsdaten auf die nichtregistrierten Migrantinnen erweitert. Vgl. Annie Phizacklea, , in: Koser/Lutz, , wie Anm. 12, 21-38; Mirjana Morokvasic, , in: , 19, 3 (1993), 459-483; Eleonore Kofman, , San Diego, California 1996.

Vgl. Council of Europe, , Strasbourg 1993; Peter Weinert, , Geneva 1991; AGISRA, , München 1990; Phizacklea, , wie Anm. 22.

Vgl. Agnes Calda-Ranzingeru.a., , 7, 2 (1996), 101-109.

Phizacklea, Migration, wie Anm. 22, 34.

Council of Europe, , Community Relations, Strasbourg 1997.

Um 1973 war in Deutschland eine von fünf türkischen Arbeitskräften und jede dritte jugoslawische Arbeitskraft eine Frau.

Bhabha/Shorter, , wie Anm. 10, 74.

Bhabha/Shorter, , wie Anm. 10, 80.

1978 wurde an asiatischen Heiratsaspirantinnen und in geringerem Ausmaß auch an Frauen aus Nigeria von den Einwanderungsbeamten ein Jungfräulichkeitstest (Vaginaluntersuchung) durchgeführt. Dieser Test basierte auf der Annahme, dass in der muslimischen und der hinduistischen Kultur Frauen jungfräulich in die Ehe gehen müssten; er wurde nach internationalem Protest abgeschafft. Vgl. Pratibha Parmar, , in: Centre for Contemporary Cultural Studies Hg., , London 1982, 236-275, 245.

Vgl. Bhabha/Shorter, , wie Anm. 10.

Für Angehörige der zweiten oder dritten Generation, die noch studieren, bedeutet dies nicht selten entweder einen Verzicht auf den Studienplatz oder auf das Zusammenleben mit ihrer Ehepartnerin bzw. ihrem Ehepartner.

ntime Fragen über das Sexualleben sowie die Kontrolle von Liebesbriefen können Teil der Nachforschungen sein. Bhabha/Shorter, , wie Anm. 10, 80.

Chong-Sook Kang, , in: 19, 42 (1996), 9-16, 11.

England ist das einzige Land der EU, in dem das Innenministerium DNA-Tests durchführen lässt, um die Familienzugehörigkeit von Kindern zu überprüfen. Dieser Test wurde eingeführt, weil er als zuverlässiger galt als Geburtsurkunden, die in einigen Ländern des indischen Subkontinents unbekannt oder nicht erforderlich sind.

Mirjana Morokvasic beschreibt einen Fall in Deutschland, in dem eine Ausnahme gemacht wurde, jedoch nur auf temporärer Basis. "Nach einer Entscheidung des Verwaltungsgerichtes in Mannheim (Nr. 13S268/90) sollte eine türkische Großmutter des Landes verwiesen werden. Es war ihr ausnahmsweise gestattet worden, für ihre Enkel zu sorgen, die im Alter von neun und zehn Jahren als 'alt genug betrachtet wurden, um von einer anderen Person versorgt zu werden'. Die Entscheidung wurde damit begründet, dass 'das öffentliche Interesse, die Einwanderung zu beschränken, wichtiger sei, als die besondere Beziehung zwischen der Großmutter und den Kindern, die sich über Jahre entwickelt hat.'" Mirjana Morokvasic, , in: , 4, 39 (1991), 69-84, 74. Möglicherweise ergibt sich allerdings eine Veränderung dieser Praxis aus einer jüngeren Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts: Gegen die Beschwerde der Stadt Nürnberg sprach der Bundesverwaltungsgerichtshof einer Türkin, die eingereist war, um ihren an das Krankenbett gefesselten Vater zu pflegen, das Bleiberecht zu; siehe Nürnberger Nachrichten, 21.4.1997.

In dieser Hinsicht sind niedrige Scheidungsraten unter nicht-europäischen Arbeitsmigrant/inn/en (Türk/inn/en und Marokkaner/inne/n), die üblicherweise als ein kulturelles Charakteristikum dieser Gruppen interpretiert werden, auch ein Hinweis auf die Auswirkung der Gesetze auf die Privatsphäre. Vgl. Bernhard Nauck, , in: Rosemarie Nave-Herz Hg., , Stuttgart 1988, 279-297.

Der Schengen-Vertrag wurde zunächst von Frankreich, Deutschland und den Benelux-Ländern unterzeichnet. Ziel des Vertrages war a) die Vereinheitlichung der Visaregelungen innerhalb des Vertragsterritoriums und b), die Einreise und Mobilität der Nicht-Unions-Bürger/innen und Asylsuchenden mit einer gemeinsamen Datenbank zu erfassen. Nach den fünf ersten Staaten wurde der Vertrag auch von Spanien, Italien, Griechenland und Österreich unterschrieben, wird aber nicht von allen realisiert. Die Regelungen, die Asylsuchende und Flüchtlinge betreffen, sind hier nicht berücksichtigt.

Titelblätter von Zeitungen und Zeitschriften sowie das wiederkehrende Logo der Fernsehsendeanstalten bestanden aus einem deutschen und einem türkischen Pass.

Elçin Kür at-Ahlersu. Hans-Peter Waldhoff, , in: , 7.5.1999, 9.

Eric Hobsbawm, , in: , 19 (1999), 37-38, 37.

Robert Miles, , in: Rudolf LeiprechtHg., , Duisburg 1992, 20-42.

Nira Yuval-Davis, . Grundlagenpapier der gleichnamigen Konferenz, die von 16. - 18.7.1996 an der University of Greenwich, London stattfand. In gekürzter Version und deutscher Übersetzung: Nira Yuval-Davis, , in: , 39, 1 (1996), 59-70, 59.

Yuval-Davis, Mitglied, wie Anm. 43, 59.

Ruth Lister, , Basingstoke 1997.

Published 9 March 2001
Original in German
First published by L'Homme

Contributed by L'Homme © Helma Lutz / L'Homme / Böhlau Verlag Ges.m.b.H. & Co. KG / Eurozine

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