Eine kopernikanische Wende
In diesem Exposé werde ich die These vertreten, dass sich in den neunziger Jahren in Südosteuropa, und namentlich auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens, totalitäre Staaten und Gesellschaften von einer neuen, bislang unbekannten Art herausgebildet haben. Sie beruhen oder beruhten zu einem wesentlichen Teil auf der totalitären Kontrolle mit Hilfe moderner Massenmedien, vor allem durch das Fernsehen und den Rundfunk. Ich nenne sie einfach “Mediendiktaturen”.
Weil ich kein Politikwissenschaftler oder Soziologe bin, warne ich Sie, dass ich meine Thesen mit keinen wissenschaftlichen Studien oder Forschungen begründen kann. Was ich vortrage, sind Beobachtungen und Erfahrungen.
Wenn wir heute auf die Isoliertheit der ehemaligen UdSSR, der Volksrepublik China und ihrer Trabanten schauen, erkennen wir unschwer, dass es sich bei ihnen um die Kontrolle über hermetisch geschlossene Gesellschaften handelte. Die Isolation wurde von innen und mit sehr einfachen Mitteln aufrecht erhalten: Durch den Einsatz der Polizei, des Grenzschutzes, des Militärs. Man errichtete physische Hindernisse an den Grenzen, Betonrampen, hohe Zäune und Minenfelder.
Die Isolation wurde ebenso durch die Stilisierung von Schulprogrammen und der allgemeinen Propaganda betrieben. Sie besagten, jenseits des Stacheldrahtes, gäbe es weder Freiheit noch Wohlstand. Im Westen wüteten vielmehr wahre Monstren des Kapitalismus, Revanchismus, Neonazismus, Imperialismus, Kolonialismus. Es hieß, Stacheldraht und Minenfelder an den Landesgrenzen seien Schutzeinrichtungen gegen sie.
Heute erscheint uns die damalige Situation geradezu archaisch. Denn auf der anderen Seite des Stacheldrahtes reagierte die freie Welt auf diese Lage sehr aktiv. Auf alle nur erdenklichen Weisen intervenierte man, mischte sich ein. Einzelne Menschen bohrten Tunnel unter der Berliner Mauer, Staaten und Staatenbünde richteten z.B. Radiostationen zu dem einzigen Zweck ein, damit sie anderslautende, gegenteilige Informationen über den Stacheldraht hinweg, in den isolierten Raum des Ostblocks sendeten, bis tief in die Räume des sowjetischen Imperiums hinein. Man sendete sogar eine andere Art von zeitgenössischer Rock- und Popmusik in den Ostblock hinein. Um Menschen und Territorien wurde ein offener und unmissverständlicher Kampf von Schwarz und Weiß geführt, auf “Gedeih und Verderb”.
Wie einfach damals die physische Isolation von Staaten und Gesellschaften angelegt war, führen uns einige Relikt-Staaten vor Augen, so Nordkorea oder Kuba.
Ganz anders handeln Nichtdemokratien in Südosteuropa und auf dem Balkan, welche sich in den neunziger Jahren entwickelt haben. Im Bestreben, ihre Nationen zu isolieren, sind dortige Machthaber einen bedeutenden Schritt weitergegangen. Zuallererst haben sie die physische Isolation ihrer Länder aufgegeben. Um sie herum ist kein Stacheldraht gezogen, keine eifrigen Grenzposten schießen auf jeden, der aus dem Land will oder es betreten möchte.
Es ist in diesem Sinne gar zu einer kopernikanischen Wende ins Absurde gekommen. Ein Land in Südosteuropa nämlich, dass sich seit Jahren einem internationalen Embargo ausgesetzt sieht (zum Zeitpunkt der Rede – Anm. d. Red.), benützt, um die eigenen Grenzen undurchlässig zu halten, kaum noch eigene Polizeitruppen, sondern die Polizeitruppen seiner Nachbarländer, beziehungsweise Grenzerdienste freier westlicher Staaten. Die Repression gegenüber Bürgern, die das – oder ein ähnliches – Land als Emigranten verlassen wollen oder einfach die Flucht antreten, wird nicht von der eigenen Polizei augeübt. Die Bestrafung und Zurückweisung in das Land übernimmt etwa die deutsche, italienische, englische oder schwedische Polizei.
Ich erinnere Sie bei dieser Gelegenheit an die Fernsehbilder von deutschen Grenzschützern bei ihren allnächtlichen Jagden auf Immigranten an der polnischen oder tschechischen Grenze. Das Bild ist nicht nur tragisch, sondern auch eine Groteske. Die mit Hunden, Nachtsichtgeräten, Funkgeräten und Geländefahrzeugen ausgerüsteten Beamten übernehmen eigentlich nur die schmutzige Arbeit fremder Diktatoren. Weil, wie immer man es dreht und wendet: die Handschellen werden dem aufgegriffenen Flüchtling nicht vom eigenen Diktator, sondern von einem deutschen Polizisten angelegt. Die Verhöre, warum und aus welchen Gründen eine asylsuchende Familie aus einer solchen Diktatur geflohen ist, wird nicht mehr von Untersuchungsbeamten des eigenen Diktators geführt, sondern von Beamten demokratischer Staaten. Auch verfügen diese Beamten Zwangsmaßnahmen über die Diktaturflüchtlinge, beurteilen ihre politischen Ansichten, ordnen durchaus auch die Rückkehr in die Diktaturen an, meistens gegen den Widerstand dieser Opfer von Diktaturen.
Moderne Nichtdemokratien arbeiten an der Erzeugung solcher etwa für die Schweiz oder die Bundesrepublik Deutschland völlig absurden und ungewollten Situationen sehr bewusst. Indem sich die Polizeikräfte demokratischer Staaten um die Flüchtlinge auf diese Weise bemühen, ist das nicht nur eine konkrete Serviceleistung in Sachen Grenzsicherung für Diktatoren. In einem weiteren, viel wichtigeren Schritt, kommen nämlich auch die Bilder und Berichte über diese Vorgänge – etwa an der deutschen-polnischen Grenze – selbst zur Anwendung. Die Bilder werden von den Diktatoren im eigenen Land übernommen und ausgestrahlt. Und was zeigen sie? Sie zeigen den Fernsehzuschauern, dass der eigene Staat so etwas nicht macht: das undemokratische Regime hat plötzlich für seine Bürger offene Grenzen, abgeschottet und repressiv hingegen verhalten sich die anderen. Und die tristen Bilder über die Behandlung der eigenen Emigranten führen den Fersehzuschauern vor, wie verlogen der Westen ist. Sie zeigen, dass in Wirklichkeit nicht “ihr” Diktator oder seine Generäle in der freien Welt unerwünscht sind, sondern sie selbst.
Obwohl im Kontext der Informationsfreiheit entstanden, gehen etwa von den Bildern von Aufnahmelagern für Asylsuchende drastische Botschaften aus, welche den undemokratischen Regimes perfekte Propagandamittel in die Hand geben. Die Sowjetunion hätte nie träumen können von neulich installierten US-amerikanischen Ausweisungslagern für Kubaflüchtlinge, Enver Hoxa nicht von der italienischen Polizei, welche die flüchtenden albanischen Frauen und Kinder von den Quais ihrer Adriahäfen wieder ins Meer spült.
Eine weitere, der Ausstrahlung derartiger Bilder unterlegte Botschaft ist ebenso: Nicht der Diktator isoliert euch, ihr seid allein gelassen, verurteilt zu den Verhältnissen, wie sie sind; woanders seid ihr unerwünscht; arrangiert euch also zuhause mit euren Führern, akzeptiert die “eigenen” polizeilichen und adminsitrativen Eliten und Nomenklaturen.
Moderne Masssenmedien, die zu so etwas im Stande sind – sie informieren, und gleichzeitig lügen sie – sind in heutigen Diktaturen zu einem fundamentalen Machtmittel überhaupt erwachsen. Proportional zu ihrer Relevanz wächst auch der Druck auf alle, die mit diesen modernen Medien in Berührung kommen oder in ihnen beschäftigt sind. Ein guter, aber kooperationswilliger und angepasster Drehbuchschreiber ist in modernen Diktaturen hundertmal wertvoller als ein regimetreuer lokaler Polizeichef. Umgekehrt, ein prominenter, beliebter Schauspieler oder Fernsehmoderator ist als Dissident einem solchen Regime weit gefährlicher als ein aufmüpfiger Gewerkschaftsführer.
Die Medien, eingebunden in diesen Zusammenhang, sind längst keine Produzenten mehr von bestellten Lügenbildern und heilen kommunistischen oder nationalsozialistischen Gegenwelten. Sie sind so raffiniert, dass sie frei entstandene Berichte und Aufnahmen, wie ich sie vorher beschrieben habe, durch die allerkleinsten Eingriffe und Manipulationen in ihr Gegenteil verwandeln: eine minimale, aber gekonnte Änderungen des Textes, das unmerkliche Ausschneiden einer Bildsequenz aus einem Bericht, ja, ganz simpel die Einstreuung oder Unterlegung einer absichtlich falschen Übersetzung des Orginalberichts, das ergibt eine propagandistische Waffe von unvergleichlich höherer Brisanz als aufwendige klassische Propagandaproduktionen, von so plumpen Maßnahmen wie der Einführung von so genannten Volksempfängern während der Hitlerdiktatur in Deutschland gar nicht zu reden.
Darüber hinaus sind Medienfachleute und ihre Geräte als Instrumente der gesellschaftlichen Kontrolle billiger, effizienter und schneller als jede Polizeitruppe. Billiger sind sie, weil – ob man es glaubt oder nicht – die Untertanen die Fernsehprogramme selbst freiwillig finanzieren; effizienter sind sie, weil spezialisierte Redakteure und Techniker schon durch unmerkliche Eingriffe in Informationen imstande sind, sowohl für das Regime erwünschte als auch den Zuschauer logisch erscheinende und annehmbare Bilder der Wirklichkeit herzustellen, ohne dass die Repression an irgendeiner Stelle sichtbar in Erscheinung tritt.
Während sich frühere Diktaturen gegenüber Informationen genauso verhielten wie gegenüber Flüchtlingen – man verhinderte den Durchfluss physisch durch Frequenzstörungen oder Einfuhrverbote für Zeitungen und Bücher – verhalten sich moderne Nichtdemokratien genau umgekehrt. Sie geben sich als scheinbar offene Informationsgesellschaften. Sie importieren Nachrichten nachdrücklich, aber nur, um sie unschädlich zu machen, ihrer Herr zu werden.
Zum Beispiel: Gegenüber Kroatien war in den neunziger Jahren ein unausgesprochener diplomatischer Boykott in Kraft. Kein wichtiger westlicher Diplomat oder Politiker besuchte den Präsidenten Tudjman aus freien Stücken, und wenn, dann nur, um auf ihn Druck auszuüben. Doch, bei gut moderierter Information konnte daraus genau das Gegenteil erstellt werden. So unangenehm auch die wenigen westlichen Besuche für Franjo Tudjman gewesen sein mögen, der kroatischen Bevölkerung wurde im Fernsehen und im Rundfunk vorgeführt, wie der betreffende westliche Politiker von Tudjman “empfangen” worden sei; gesagt wurde, Tudjman sei dabei zur Mitarbeit gebeten worden, und, jedes Mal, wenn Tudjman dem Druck nachgeben musste, hieß es, er habe dem Westen die Unterstützung zugesagt, Kroatien sei gleichsam ein willkommener westlicher Partner.
Das Resultat war, dass der durchschnittliche kroatische Bürger in den neunziger Jahren sehr erstaunt gewesen wäre, hätten Sie ihm mitgeteilt, Kroatien oder gar Tudjman seien seit Jahren diplomatisch isoliert.
Nichts Neues, werden Sie sagen, auch zu Stalins Zeiten wurden je nach politischer Lage Texte sogar in Enzyklopädien ausgetauscht und Fotografien von Politikern laufend retuschiert. Doch damals bediente man sich einfacher und durchsichtiger Methoden: man verschwieg, ignorierte, schnitt aus, wischte fort. Heute hingegen sind Mediendiktaturen soweit fortgeschritten, dass man der jugoslawischen Bevölkerung sogar Life-Berichte über eine schwere militärische Niederlage und den Abzug eigener Truppen aus Teilen des Landes durchaus als Sieg, oder wenigstens als Erfolg, präsentieren kann. Die Aufnahmen von abziehenden eigenen Soldaten zeigten neulich ihre fröhliche Mienen und Hände, die zum Victory-Zeichen erhoben waren. Die ganze Weltöffentlichkeit hatte in diesen Augenblicken Gelegenheit, in die unheimliche Welt totaler Manipulationen Einblick zu nehmen. In eine Welt, in der die Wirklichkeit längst der Fiktion unterlegen ist.
Postkommunistische Nichtdemokratien und ihre Konflikte erscheinen vielen Beobachtern im Westen als historische Rückfälle, als unzeitgemäße Regimes und Nationen, welche in primitiver Weise miteinander abrechnen. Es ist nicht meine Aufgabe, darauf zu antworten. Doch eines sollten die Beobachter nicht vergessen: Das Machtgefüge dieser “unzeitgemäßen” Staaten beruht weitgehend auf der Nutzbarmachung von literarischen, künstlerischen und transmedialen Spitzenleistungen des 20. Jahrhunderts. Dazu gehören die Technik der Collage ebenso wie die Montage der Attraktionen, Eingriffe in sprachliche, textuelle wie bildliche Vorlagen. Dabei werden die modernsten technischen Hilfsmittel und Methoden souverän gehandhabt, etwa die Ergebnisse von Forschungen und Experimenten avantgardistischer Videokünstler. Die modernen Mediendiktaturen produzieren vollkommene virtuelle Universen, derer sich ein Nam Jun Pajk nicht schämen würde. Dazu gehört die scheinbar offene Dramaturgie des Fernsehens, die sich der wirklich freien, internationalen Informationsquellen bedient, und sie dadurch eigentlich überflüssig macht: sie werden einfach vom Kontrollsystem absorbiert. Denn warum sollte der durchschnittliche Zuschauer CNN einschalten, wenn “unser” Fernsehen ohnehin alles Wichtige übernimmt und es obendrein mit einer Übersetzung versieht, womit wir das, was der amerikanische Sender mitteilt, noch besser verstehen?
Ähnlich wie im Fall des Grenzschutzes, der für heutige Dikaturen von der freien Welt erledigt wird, ist es möglich geworden, durch dramaturgische und technische Mittel auch die allerkompromittierendsten Nachrichten über das eigene Regime zu senden.
Das Spiel mit der freien Berichterstattung ist ein wesentlicher Bestandteil und teilweise die motorische Kraft einer ganzen sozialen Dramaturgie. Das dramatische Wechselspiel zwischen totaler Offenheit und einer Welt der minimalen Eingriffe lässt sich wiederum an einem kroatischen Beispiel belegen. Bei den Präsidentenwahlen 1997 war gegen Franjo Tudjman ein sehr bekannter und beliebter Oppositionführer, der Schriftsteller Vlado Gotovac, angetreten. Er vertrat die Liberale Partei. Doch mitten im Wahlkampf wurde ein Attentat auf ihn verübt. Als er eine Rede auf dem Hauptplatz der Stadt Pula hielt, versuchte ihn ein Hauptmann der Präsidentengarde Tudjmans zu töten, mit dem Namen Tomislav Brzovic Baby. Während Gotovac auf dem Podium sprach, sprang der junge Hauptmann mit einer ungeheuren Energie auf die Plattform und schlug mit der schweren Gürtelschnalle, die er in der Art eines Totschlägers an der Faust festgemacht hatte, auf Gotovac’ Schläfe. Alles passierte vor laufenden Kameras der Liberalen Partei, und vor eingeschalteten Mikrophonen. Da ich Gotovac’ Verleger bin, hatte ich die Gelegenheit, die originale Bild- und Tonaufzeichnung einzusehen. Es war die Aufnahme eines nahezu animalischen Sprungs des Attentäters. Die Schnelligkeit, die Energie, sein kriegerisches Geschrei und vor allem der dumpfe Aufschlag, wenn die Faust den Schädel trifft, all das war schockierend und erschreckend. Eine Szene roher mörderischer Gewalt. Aber wie wurde die Aufnahme vom kroatischen Fernsehen wiedergegeben?
In der ganzen Länge und ohne Auslassungen, doch unter Verwendung der slow motion. Die verlangsamten Bilder dämpften so die Energie der Tat und die Gewalt des Schlages. Zusätzlich unterschlug der kroatische Sender die Tonaufzeichnung des Schlages selbst. Indem durch das verlangsamte Abspulen des Filmes den Zuschauern Detailtreue und Wahrheitsliebe vorgegaukelt wurde – als wolle man jedes Detail der Tat zeigen -, benützte die Nachrichtenredaktion diesen scheinbaren Verismus, um eigentlich das Gegenteil zu erreichen: die Verharmlosung und Verfälschung. Derart gesendet, verlor nämlich der Schlag des Gardehauptmanns Brzovic jede Bedrohlichkeit. Er war einfach langsam.
Auch das Gesicht des Opfers, das sich in der Originalaufnahme in einem explosiven Schmerz verzerrt hatte, hatte in der langsamen Version den dramatischen Ausdruck verloren. Kroatische Fernsehzuschauer sahen also keine Veranlassung, sich an diesem Abend besonders aufzuregen. Sie haben alles gesehen – und trotzdem nicht ein Attentat, das Vlado Gotovac beinahe das Leben gekostet hatte. Die Wahlen wurden also nicht abgebrochen, und sie wurden von Franjo Tudjman gewonnen. Gotovac wurde nach fünf Tagen aus dem Krankenhaus entlassen, der Attentäter wegen Trunkenheit und Randalierens zu einer lächerlichen Strafe verurteilt.
Die kleine Geschichte ist vielfach alarmierend. Mich alarmierte sie am allermeisten, weil eine solche Manipulation nur durch die allertiefste Kollaboration von Professionellen möglich war. Angesichts der hier verrichteten Detailarbeit und Raffinesse wird man fast nostalgisch gegenüber Zeiten als irgendwelche Zentralkomitees ihre Kommissare und Aufpasser in Zeitungsredaktionen postieren mussten. Damals agierten die Mächtigen wenigstens sichtbar und indem sie die Journalisten direkt bedrohten. Das Frisieren der Ton- und Bildaufzeichnung des Attentats auf Gotovac ist jedoch das raffinierte Werk von Spezialisten, die vor allem eines vermeiden wollten – die Parallele mit dem Film “Z” von Costa Gavras. Dort gibt es nämlich die in der Filmgeschichte anthologische Szene, in der ein bulliger Attentäter über einen Platz läuft, auf dem eine Parteiveranstaltung stattfindet. Er nähert sich dem Oppositionspolitiker – gespielt von Yves Montand – und versetzt ihm einen dumpfen Schlag auf den Kopf. Nichts ist in jenem Film so dramatisch wie der dumpfe Aufschlag auf dem Kopf von Yves Montand. Nichts durfte im Kroatien der neunziger Jahre daran erinnern. Die Kollegen vom kroatischen Fernsehen hatten es also nicht nur vermieden, eine Information zu senden, sie haben auch eine film- und mediengeschichtliche Erinnerung im allgemeinen Bewusstsein vieler Fernsehzuschauer zu verhindern gewusst. Die Theorie bezeichnet sie als intertextuelle oder intermediale Referenzen.
Nur hochprofessionelle Menschen konnten diesen Wiederholungseffekt erkennen und eben nur sie konnten etwas dagegen unternehmen. Hier intervenierte kein politischer Kommissar oder politischer Aufpasser, hier intervenierten Regisseure, Tonmeister, Montagefachleute. Der Remix des Gotovac-Attentats zeigt die moralische und politische Verseuchung eines modernen Mediums. Dort wird die Zusammenarbeit, die Gefügigkeit gegenüber einem totalitären Regime nicht mehr auf Chefetagen abgesprochen. Die Kollaboration geschieht in der Tiefe von Laboratorien, wo Filme montiert und Tonspuren adjustiert werden, wo Drehbücher entstehen. Dort, wo Kollegen von Vlado Gotovac arbeiten.
Die Manipulatoren von heute bedienen sich darüber hinaus auch der Erkenntnisse der Rezeptionsästhetik und ihrer Soziologie. Sie spielen mit den Erwartungen der Hörer und Zuschauer. Die Medien und die dem Regime treuen Künstler und Intellektuellen schnitzen die Weltbilder längst nicht mehr bloß nach ideologischen und politischen Vorgaben oder nur im Rahmen ästhetischer Möglichkeiten der Medien. Heute beziehen sie auch die Bedürfnisse des Publikums ein. Zumal jene nach Entlastung und einer Art Bequemlichkeit.
Denn seien wir ehrlich, wer möchte in einem unsympathischen, international isolierten Land leben? Wünscht jemand, Bürger eines Landes zu sein, in dessen Namen Verbrechen verübt werden? Warum sollten die Zuschauer es wünschen, mit den Verbrechen konfrontiert zu werden, die in ihrem Namen an Muslimen in Bosnien und Herzegowina verübt werden? Warum sollte es die Zuschauer in einer Großstadt danach drängen, Reportagen über die laufenden Zerstörungen einer Nachbarstadt zu sehen, die dort unter den eigenen Symbolen durchgeführt werden? Oder Bilder aus Konzentrationslagern oder Hinrichtungsstätten?
Wir alle hungern doch nach der Unschuld und nicht nach der Schuld, nicht wahr?
Indem sie die Wahrheit nicht ignorieren, sondern sie abschwächen und genießbar machen, organisieren regimetreue Massenmedien und ihre Mitarbeiter für ihre Zuschauer eine Art kollektiver psychologischer Therapie. Angesichts großer Frustrationen, organisieren sie einen erträglichen Zustand der Gemüter. Moderne Mediendiktaturen verwandeln die Bürger in ihre Klienten. In Kroatien zum Beispiel wurde noch Jahre nach der serbischen Aggression von 1990/1991 die Mentalität eines angegriffenen, schutzlosen Landes gepflegt. Der durchschnittliche Kroate fühlt sich noch heute in erster Linie nicht als der siegreiche Soldat aus dem Jahr 1995, als die serbische Seite besiegt wurde. Weil das würde die unbequeme Verantwortung für Verbrechen bedeuten, die an Serben bei den Militäraktionen in den sog. Krajinas verübt wurden. Man stilisiert und fühlt sich viel lieber als Opfer, als ein von Serben bedrohtes Volk – obwohl Serbien längst den Krieg verloren hat.
Die Massenmedien in Südosteuropa, aber auch in Teilen Osteuropas – von der Illustrierten bis zum Fernsehen – therapieren ihre Konsumenten und arbeiten an ihrer zweifachen Abhängigkeit. Sie pflegen die Abhängigeit von allabendlicher Zerstreuung, aber auch von etwas, was ich Zärtlichkeit und Rücksichtnahme des Mediums gegenüber dem Zuschauer nennen möchte. Denn der unterhaltsame amerikanische Spielfilm um neuen Uhr abends wäre doch unerträglich, würde ihm eine Hauptnachrichtensendung vorausgehen, welche nicht lügt und beschönigt, sondern etwa schonungslos über die Ausmaße der Verarmung von Rentnern und Arbeitslosen informiert. Geschweige denn über Kriegsverbrechen der eigenen Soldaten. Auf wahrhafte Tagesnachrichten würde zwangsläufig ein ungenießbar gewordener Film, darauf ein schlechter Schlaf folgen, darauf ein Tag, der noch schlechter würde, als er ohnehin ist.
Der Autor des Romans 1948, George Orwell, dachte vor einem halben Jahrhundert, in einem künftigen Totalitarismus würde das Fernsehen die Untertanen wie ein Gefängniswächter kontrollieren. Einige Jahrzehnte nach dem ominösen Jahr 1948 bietet Südosteuropa ein weit schrecklicheres Bild. Das Regime und die Untertanen reichen sich über die jeweilige Abhängigkeit von Massenmedien die Hand. Das Regime arbeitet durch das Fernsehen an seiner Stabilisierung und Unnahbarkeit, während der untertane Zuschauer vom gleichen Medium Unterhaltung und Zerstreuung erwartet – Programme, welche ihn psychologisch und hinsichtlich des Gewissens entlasten. Das Fernsehen ist ein infrastrukturelles Schlüsselinstrument allgemeiner gesellschaftlicher Passivität geworden. Es sichert die gespenstische Ruhe und das Gleichgewicht dortiger Gesellschaften.
Statt Stacheldraht verabreicht es allabendlich die Droge der mentalen Bequemlichkeit, indem es vor unangenehmen Wahrheiten schützt. Und, darüber hinaus, liefert es bis tief in die Nacht die komplette Illusion über einer anderen, positiven Wirklichkeit. Diese nächtliche, virtuelle, korrigierte Wirklichkeit macht den unglücklichen Untertanen schließlich süchtig. Nur so erklärt es sich, warum Öffentlichkeiten in diesen Staaten sich nicht die allereinfachste Mühe machen, den Wählknopf des Radios nur um einen Millimeter zu bewegen, denn dort, bloss zwei, drei Millimeter links oder rechts an der Skala hört man ganze andere Wahrheiten, sind ganz andere Welten.
Ich persönlich sehe das als die vielleicht ganz große Frage, die Frage aller sozialen und politischen Phänomene im heutigen Südosteuropa: Warum dreht man den Wählknopf nicht um einen Millimeter nach links oder rechts? Denn nach dieser höchst persönlichen, individuellen Tat könnte ja nichts so bleiben, wie es ist. Lassen wir einmal CNN beiseite, und erinnern wir uns: In Banja Luka empfängt man das Programm des kroatischen Fernsehens, in Zagreb das aus Banja Luka. Sie liegen 200 Kilometer voneinander entfernt. Zwischen Belgrad und Zagreb sind es weniger als 400 Kilometer, die Radiostationen sind klar zu empfangen, gut zu verstehen und auf allen Wellenbereichen die nächstliegenden. Wenn ich von Zagreb nach Dalmatien fahre, höre ich im Auto das bosnischherzegowinische Radio Bihac besser als Radio Zagreb oder Radio Split.
Was ich meine, ist womöglich nicht nur von lokaler Bedeutung, wir erleben es auch im großen Maßstab. Vor einigen Monaten bot Russland ein ähnliches Bild. Die Bürger des Landes, das über Jahrzehnte nach freier Information dürsteten und viele Formen von Repression am eigenen Leib erfahren haben, unterstützten die brutalen Militäroperationen in Tschetschenien. Präpariert von den Medien des Landes, vergruben sie sich angesichts einer Flut von Bildern und Informationen paradoxerweise immer tiefer in eine Art selbstgewählter Unwissenheit. Mit jeder Granate auf Grozny und jeder Nachricht über dessen Zerstörung schwand die Chance der russischen Bevölkerung, darauf demokratisch oder menschlich zu reagieren. Bis zum Endsieg, sozusagen.
Moderne Mediendiktaturen lassen in weiten Teilen der Bevölkerung die eigene Entrechtung und soziale Erniedrigung unsichtbar werden. Im Halbdunkel des Fernsehzimmers wird jene allgemeine Paralyse hergestellt, die dazu verhilft, dass immer rätselhaftere Autokraten populär werden und die Macht erlangen.
Bisher hatte die traditionelle Massenbeeinflussung zwei Säulen. Zum einen den Willen von Politikern, ihre Macht unbedingt zu erhalten, zum zweiten die Bereitschaft einer mehr oder weniger korrupten Kaste von Quasijournalisten und willfährigen Medientechnikern, diese Absichten der Politiker umzusetzen. Nun haben sich zwei weitere Bausteine hinzugesellt. Die heutige fortgeschrittene Medientechnik und Programmgestaltung können die Grenzen zwischen Information und Fiktion derart verwischen, dass es machbar ist, über Jahre hinweg ganze Landschaften aus Lügen und Halbinformationen herzustellen und einer Zielgruppe – einer Nation – schlüssig zu vermitteln. Das vierte, verblüffende Element ist das Einverständnis des Konsumenten – des Unterntanen – selbst. Dabei denke ich nicht an seine kurzfristige Mobilisierung für ein bestimmtes Ziel, sondern an einen langen Prozess, einen Zustand: Weil er gegenüber der sog. kollektiven Schuld und Verantwortung, mit der er unterschwellig beladen wird, ohnmächtig ist, weil er deprimiert und erniedrigt ist von der Hoffnungslosigkeit im Alltag und am Arbeitsplatz, geht der Konsument auf ein illusionistisches Angebot gelenkter Medien ein. Das bringt ihm Zerstreuung und Entlastung zugleich. Der aktiven Gehirnwäsche von oben kommt so etwas wie eine passive Gehirnwäsche von unten entgegen. Eine neue Form von Konformismus oder gar Kollaboration.
Wir in Südosteuropa haben im letzten Jahrzehnt oftmals von westlichen Politikern und Beobachtern vernommen, sie könnten uns nicht helfen, weil in unseren Ländern die Bürger keine demokratische Bewegung zeigen, keinen wirklichen Willen umzudenken und tiefgreifende Veränderungen selbst anzugehen.
Doch diese Beobachter messen die Verhältnisse mit Messlatten, die vor 1989 Gültigkeit hatten. Sie haben das Bild der explodierenden Gesellschaft der DDR vor Augen, in welcher alle Bürger schon die erste Öffnung der Mauer als Gelengeheit ergriffen hatten, die Verhältnisse grundlegend zu verändern.
Die westlichen Politiker, die mit diesem Bild operieren, lassen außer Acht, dass der verhinderte Staatsbürger so manches Transitionslandes ein seelisch gebrochener, trauriger und armer Mensch ist. So gebrochen, dass er oft nicht einmal die Kraft aufbringt, auch nur den Wählknopf bis zum nächsten Sender zu drehen. Er ist vielfach so weit, dass es ihm einfacher ist, mit dem Grossen Bruder, seinem Unterdrücker, zu kollaborieren.
Doch die Überstrapazierung der medialen Kontrolle von Staatsbürgern hat nicht nur Passivität zur Folge. In Ländern, die ich Mediendiktaturen nenne, wuchs und wächst – namentlich unter den jungen Bürgern der Großstädte – eine gegenläufige Sensibilisierung auf die mediale Bevormundung und Betäubung. Inzwischen nimmt sie die allergrößten Dimensionen von Bürgerprotesten und regelrechten Straßenschlachten an. So waren im November 1997 in Zagreb hunderttausend Menschen zusammengeströmt, als die Regierung Tudjman die Schließung eines autonomen lokalen Rundfunksenders angedroht hatte, der außer wahrhaften Informationen rund um die Uhr Rockmusik sendet. Dazu aufgerufen wurde nur 24 Stunden zuvor und nur über den Sender selbst. Das Ergebnis war die größte und wichtigste politische Demonstration der Ära Tudjman. Viele meinen, mit ihr sei auch das Ende dieses Regimes eingeläutet worden.
Heute, im Jahr 2000, sind wir Zeugen eines ähnlichen, hochmodernen und neuartigen politischen Prozesses. In einer anderen südosteuropäischen Haupstadt, die nur 400 Kilometer von Zagreb entfernt ist, herrschen seit Monaten permanente Unruhen, weil ein freier Radio- und Fernsehsender geschlossen beziehungsweise gewaltsam gleichgeschaltet wurde. Seit diesem Eingriff in die Informationsautonomie reißt der politische Gehorsam nicht mehr ab, und viele Beobachter sagen dem dortigen Regime deshalb ein baldiges Ende voraus.
Wichtig dabei sind die Dimensionen: Was zehn Jahre verbitterten politischen Kampfes, was militärische Niederlagen, zahllose UN-Resolutionen, Anklagen beim Haager Tribunal, internationale Sanktionen und, schließlich, Bombardierungen eines Landes nicht haben leisten können, bewirkte die Schliessung einer TV- und Rundfunkanstalt, einer Einrichtung, von deren Existenz außerhalb des betreffenden Landes nur Experten etwas wussten.
Auch solche Bewegungen sind sehr neuartige politische Prozesse und keineswegs bloß die andere Seite des düsteren Bildes moderner Diktaturen. Angeführt von Menschen, die zwanzig und dreißig Jahre jünger sind als ich, haben sie sich inzwischen zu treibenden Kräften entscheidender demokratischer Aktivitäten entwickelt. Sie geben Hoffnung, und ich persönlich zolle Ihnen meinen tiefsten Respekt.
Published 3 April 2001
Original in German
First published by Eurozine
© Nenad Popovic / Eurozine
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