1000 Tauben
Am 22. Juni 1966 erschien in der New York Times ein Artikel, der Geschichte machen sollte: Thomas P. Hoving, der für die öffentlichen Parkanlagen der Stadt verantwortliche Beamte, verurteilte darin den Vandalismus und die Verschmutzung des Bryant Park auf das Schärfste. Hoving hob dabei explizit “Homosexuals” hervor, die die anderen ParknutzerInnen mit dem Schneiden von Grimassen belästigen würden, und verwies auf die außerordentliche Menge an “Winos” (Alkis), die sich in der Grünanlage ein Stelldichein gaben. Der Artikel beschrieb einen öffentlichen Park in der Krise – hoffnungslos von Obdachlosen überrannt und schamlos als Mülldeponie missbraucht.
Danach war eine Zwischenüberschrift gesetzt: “And Then There’s the Pigeons”. Hoving bezeichnete die bis dahin eher unbescholtene Vogelart als New Yorks “most persistant vandal […] because the pigeon eats our ivy, our grass, our flowers, and presents a health menace. […] But everyone seems to want to feed them, […] it’s impossible to stop the pigeon feeders.” Nach dem – mehr verzweifelt als hoffnungsvoll wirkenden – Wunsch des Autors nach einem “Cleanup” erschien am Ende des Artikels zum ersten Mal eine Redewendung, die die Taube fortan überallhin begleiten sollte: “Commissioner Hoving calls the pigeon a ‘rat with wings'”. Woody Allens Film Stardust Memories von 1980 zitierte diesen New Yorker Ausdruck und brachte ihn in globale Zirkulation. 1
Innerhalb sehr kurzer Zeit hatte sich das öffentliche Bild von Tauben gewandelt: Waren die Tiere über lange Zeit Inbegriff des Köstlichen, Schönen, Gesunden und Guten gewesen, so wurden sie Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts als urbane Pest gesehen: unappetitlich, hässlich und krankheitserregend. Wie war es dazu gekommen? 2
Der Engel des Fordismus
Eine der wichtigsten materiellen Grundlagen für das hohe Ansehen, das der Vogel genoss, lag wohl in seiner Fähigkeit begründet, den vielleicht besten Dünger der Welt zu produzieren: Taubenkot wurde über Raum und Zeit hinweg von menschlichen Agrargesellschaften geschätzt. An den entferntesten Orten des Globus stehen Taubenschläge und Taubentürme als Monumente dieser Wertschätzung. Gemeinhin als friedfertig, monogam und schön geltend, wurden Tauben zum Symbol des heiligen Geistes in der christlichen Mythologie, die ihrerseits an bestehende Taubenverehrungen anschließen konnte. In der katholischen Lehre galten sie gar als die einzigen Wesen auf Erden, die so rein waren, dass kein Dämon von ihnen Besitz ergreifen konnte.
Tauben zählen zu den ersten domestizierten Tieren überhaupt und begleiten menschliche Gesellschaften, seit es schriftliche Aufzeichnungen gibt: Schon Homer, Sokrates und Aristoteles zeigten eine geradezu intime Kenntnis der Lebensweise von Tauben und schrieben über ihre selektive Zucht und Domestikation. Visuelle, plastische und literarische Darstellungen der Beziehung von Menschen und Tauben reichen 5.000 Jahre zurück, wobei von manchen AutorInnen ihre Domestikation an den Beginn der Sesshaftwerdung vor 10.000 Jahren in und rund um den Nahen Osten sowie Nordafrika gerückt wird.
Alle Haus- und Stadttauben stammen von der noch heute lebenden Felsentaube ab. Doch während der urbane Abkömmling, abgesehen von Arktis und Antarktis, überall anzutreffen ist, wo es auch Menschen gibt, bleibt das Vorkommen von letzterer auf Asien und Afrika beschränkt. Die Taube ist ein so genannter Kulturfolger und im Sinne Donna Haraways eine “companion species” (Haraway 2008). Die Verbindung mit dem Menschen und seinen Bauten erwies sich für die Tauben als höchst vorteilhaft.
Es hat den Anschein, dass die Lehm- und Steinbauten der ersten menschlichen Behausungen dem ursprünglichen Lebensraum der Tauben soweit ähnelten, dass sie bereitwillig als Nistplätze in Beschlag genommen wurden. Tauben bauen nämlich keine Nester, sie richten sich in bereits existierenden Fugen und Nischen ein. Und da die Tauben der Unterschied zwischen Natur und Kultur kaum zu scheren schien, machten sie es sich in der Nähe der Menschen bequem, dem gegenüber sie geringe Scheu an den Tag legten. Diese der Taube eigenen Charakterzüge schufen die Voraussetzung für menschliche Interventionen: Aufgrund ihrer schnellen Reproduktionszyklen eigneten sich Tauben als ideale Zuchtobjekte, denen auch Charles Darwin viele Jahre intensiver Beobachtung widmete. Denn Tauben sind öfter und länger fruchtbar als die meisten anderen Tiere. So wurden sie in unterschiedlichen Kulturen zu Mythenwesen, die für Sanftheit und Monogamie, für Fruchtbarkeit und oftmals für das Gute schlechthin standen.
Obwohl im Verlauf des 19. Jahrhunderts ihre Funktion als Nachrichtenüberbringerin durch technologische Innovationen in den Hintergrund trat, blieb sie in Europa als günstige Lebensmittellieferantin, natürliche Unkrautvernichterin und Düngemittellieferantin bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts eminent wichtig. Die Entwicklung des Haber-Bosch-Verfahrens3 veränderte die bisherige Form der Landwirtschaft und erschütterte die materielle Basis der Tauben-Verehrung. Da Stickstoff der wichtigste Faktor der Steigerung landwirtschaftlicher Produktion war, hatte seine erfolgreiche Synthetisierung weitreichende ökonomische und soziale Folgen: Dazu gehört der rasante Verfall der Bedeutung von Taubenkot. Der von den USA ausgehende Aufstieg des Huhns zu einer relevanten Nahrungsmittelquelle in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts grub den Tauben weiter Wasser ab. Denn das Huhn legt trotz immensem körperlichem und psychischem Stress auch unter Bedingungen hochindustrieller Haltung weiter Eier und versucht verzweifelt zu leben, wo andere längst den Geist aufgegeben hätten. So ändert sich auch das Bild vom Schlaraffenland während des Wirtschaftswunders, nun flogen keine gebackenen Tauben mehr in offene Münder. Waren noch um die Jahrhundertwende in Wien allein an die 750.000 Tauben pro Jahr verschlungen worden, sank diese Zahl Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts auf Null. Die auf Massenproduktion und Massenkonsum basierende fordistische Regulation hatte der Taube weitgehend ihre ökonomische Funktion für menschliche Gesellschaften gestohlen; mit der grünen Revolution in der Landwirtschaft gab es in den hochindustrialisierten Regionen der Welt keinen ökonomisch produktiven Platz mehr für die Taube.
Die Militarisierung der Fassade
Dieselben ökonomischen Prozesse, die den Heiligenschein der Taube zunehmend schäbiger erscheinen ließen, führten aber auch zu einer Explosion der Taubenpopulationen in den urbanen Zonen der Welt. Der fordistische Nachkriegsboom bescherte Tauben ein vermehrtes Angebot an Nahrung und das Entstehen von Einkaufsstraßen und Fußgängerzonen ein Mehr an natürlich-künstlichem Lebensraum. So wie in den ersten menschlichen Siedlungen richteten sich die Tauben auch in den neuen Metropolen ein und eigneten sich die Stadt an.
Nachdem sie im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts ihre bisherigen ökonomischen Funktionen für Menschen verloren hatten, veränderte sich auch ihr Status beträchtlich: Galt die Taube beispielsweise halbiert auf eine Wunde gelegt oder als Suppeneinlage verspeist lange als gesundheitsfördernd und als ideale Krankennahrung und Krankenhauskost, so wurde sie nun zunehmend als Krankheitsüberträgerin wahrgenommen.
Wohnungsinnenräume wurden immer aseptischer und die Stadtaußenräume immer gepflegter. Höhere Hygienestandards ließen Privatpersonen um die Sauberkeit ihrer Fensterbretter und Hinterhöfe fürchten. Geschäftsleute und KommunalpolitikerInnen sorgten sich um die Ästhetik ihrer öffentlichen Einkaufszonen. Und obwohl jedes Eichhörnchen mehr Krankheitserreger überträgt als Tauben, gelten letztere als Bazillenschleudern. Dass dies so bereitwillig geglaubt wird, verweist auf eine symbolische Ordnung des Urbanen, in der modernistische Visionen disziplinierter Stadträume mit kommerziellem Begehren nach gereinigten Konsumzonen entlang der Achsen von geordneter Ästhetik und biosozialer Hygiene zusammen kommen. In diesen Räumen werden neben Tauben auch andere als parasitär und unnütz wahrgenommene Figuren zu StörerInnen von Stadtbild und Geschäftsabläufen: Punks, BettlerInnen, Junkies, SprayerInnen, Obdachlose. Auch der gegenwärtige umfassende Umbau des Kommerz- und Verkehrsknotenpunkts Wien Mitte wurde ursprünglich vom Wiener Bürgermeister mit dem Verweis argumentiert, er sehe aus wie ein Ratzenstadel4 (Wienerisch für “Ratten-Scheune”). Mit Schildern in Parks, die boshaft dreinblickende Ratten zeigen, wird der semiotische Kurzschluss zu einem Schädling gezogen, der bereits eindeutig determiniert ist: Wer Tauben füttert, füttere Ratten. Auch wenn Tauben, laut eines Urteils des deutschen Bundesgerichts, dezidiert keine Schädlinge darstellen, wird dies gerne von Gebäudereinigern und ähnlichen AkteurInnen behauptet, die ein Interesse an der Säuberung der Stadt von Tauben haben. Konsequenterweise werden im Kampf gegen diese Fassaden militarisiert, KammerjägerInnen zu Hilfe gerufen und Handlungsanweisungen ausgegeben. 5
Die visuelle Politik von Schmutz
Der Soziologe Colin Jerolmack untersuchte das Archiv der New York Times für den Zeitraum von 1851 bis 2006 auf Hinweise der Dämonisierung von Tauben als schädliche Spezies und kommt zu folgendem Schluss:
“Ich behaupte, dass Tauben mittlerweile die Antithese einer idealen Metropolis darstellen, also geordnet und des- infiziert, mit einer unterworfenen und wohl begrenzten Natur. Während sie als Gesundheitsproblem eingeschätzt werden, ist ihr ‘Hauptvergehen’, dass sie menschlichem Nutzen zustehende Habitate ‘verschmutzen’.” (Jerolmack 2008, S. 72)
Schmutz, so zeigte die Anthropologin Mary Douglas, stellt primär eine soziale Kategorie dar. (Vgl. Douglas [1966] 1982) Denn das Attribut des Schmutzigen markiert Subjekte, die aus dem Raum entfernt werden müssen. So verhält es sich umgekehrt zur landläufigen Meinung: Nicht weil die Taube schmutzig ist, soll sie aus dem urbanen Raum entfernt werden, sondern weil sie die moderne Raummatrix stört, erscheint sie als schmutzig. Dabei wird vor allem ihre Sichtbarkeit zum Problem: Im Unterschied zu Dachsen, Iltissen, Rehen und anderen BewohnerInnen der natureculture-borderlands ist sie nämlich nicht an der Peripherie der Städte anzutreffen, sondern lebt an den öffentlichen, sichtbarsten Orten der Stadt. Im Unterschied zu Ratten und Kakerlaken kommt sie nicht erst bei Einbruch der Dunkelheit zum Vorschein, sondern existiert im hellen Sonnenschein des Dickichts der Städte. Sie kann wegfliegen und hat es schon immer getan, weshalb sie weder wie die Katzen in die Wohnung verbannt werden konnte noch sich wie Hunde an die Leine legen ließ.
Überhaupt nehmen Tauben eine Zwischenstellung zwischen Haus- und Wildtieren ein, denn Stadttauben sind verwilderte Nachkommen ehemals domestizierter Tiere. Stadttauben werden von stadtökologischer Seite als bastardisierte Population von Individuen verstanden, die nicht ordnungsgemäß in ihren Taubenschlag zurückkehrten oder, wie in Frankreich nach 1789 geschehen, daraus befreit wurden und sich ihren verwilderten Artgenossen anschlossen: Stadtluft macht frei, anscheinend auch nicht nur Menschen.
Vom Taubenvergiften
Im Österreich der Nachkriegszeit nahm die Taube für kurze Zeit eine mehrfach überdeterminierte Rolle ein. In vielen Boulevardmedien erschienen zugleich Geschichten, die Tauben als Opfer und Schurken darstellten:
“Beauftragte des Wiener Tierschutzvereines arbeiteten in den letzten Wochen wie Detektive, und was sie schließlich erfuhren, ist empörend genug: Wiens Tauben werden in großen Transporten nach Bologna gebracht (…). Erst gestern ging vom Wiener Südbahnhof wieder ein Taubentransport nach Italien ab. 500 Tauben in sechs kleinen Kisten traten die vier Tage dauernde Reise nach Bologna an. In den Kisten befand sich kaum Wasser und Futter.” (Zit. nach Kathan 2001)
In der Erregung über das Schicksal der entführten Tauben konnte sich das gute Österreich aufrichten. Aber schon in der Nachkriegszeit zeigten sich Konturen des heutigen Taubenproblems, für das es bereits eine Wiener Lösung gab:
“Jährlich sollen in Wien etwa 15.000 Tauben vertilgt werden. Die Gemeinde Wien hat mit dieser viel umstrittenen, aber leider erforderlichen Aufgabe ein Schädlingsbekämpfungsunternehmen in Wien-Landstraße beauftragt. Die Männer dieser Firma gehen nach einem ganz bestimmten Plan vor, um die Tauben dort, wo sie zur Plage werden, zu dezimieren. Dabei werden Kukuruzkörner ausgestreut, die mit Blausäure behandelt wurden. Sobald die Tiere ein Körnchen davon geschluckt haben, fallen sie tot um. Der Tierschutzverein kann gegen diese Art der Taubenvernichtung nicht einschreiten, weil sie vollkommen schmerzlos und human ist.” (Ebd.)
So leistete die Behauptung, dass Blausäure eine besonders humane Form der Ausmerzung von Schädlingen darstelle einen Beitrag zur Relativierung der Grausamkeit der NS-Verbrechen. Die letzte Drehung erfolgte durch die Berichterstattung über den Umgang anderer Hauptstädte mit den lästig gewordenen Vögeln:
“Moskau erklärt Tauben den Krieg. (…) Nachdem die medizinische Fakultät der Moskauer Universität in einer Reihe von Untersuchungen die sich immer stärker vermehrenden Taubenscharen der Stadt für Grippe-Epidemien verantwortlich gemacht hat, sollen die Millionen gurrender Vögel aus der sowjetischen Metropole verbannt werden. (…) Mit gigantischen Staubsaugern will man in Moskau die Tauben von den Straßen und vom Roten Platz wegsaugen und nach Sibirien aussiedeln.” (Ebd.)
Im Österreich der Nachkriegszeit galt als der eigentliche Schrecken, der noch in den Knochen steckte, die soldatische Kriegsgefangenschaft in Sibirien. Durch die Taubenberichterstattung mit ihren monströsen Versprechen (Humanität durch Blausäure) und Versprechern (Absaugen durch Staubsauger) wurde die eigene Rechtfertigungslogik gestärkt. Die Gewalt und Verlogenheit, die darin steckte, muss auch Georg Kreisler aufgefallen sein, als er 1955 nach Österreich zurückkehrte. Kein Wunder, dass sein vielleicht berühmtestes Lied Taubenvergiften im Park Spielverbot in Radio und Fernsehen erhielt.
Unruly Creatures: Herrschaft und Eigensinn
Der Philosoph Jacques Derrida widmete seine letzte Vorlesung dem Bestialisch-Wölfischen der Souveränität und setzte dieser das Friedvoll-Täubische entgegen (vgl. Derrida 2009, S. 23). Der sonst scharfsinnige Denker der Dekonstruktion ging hier der hegemonialen Ideengeschichte auf den Leim und übersah die Dialektik von Ölzweig und Fäkalbombe. Auch die deutsche Sprache kennt die politisch motivierte Verdoppelung der Taube in dove und pigeon nicht. Das konzeptuelle Zwillingsgestirn von guter (dove) und böser Taube (pigeon) hingegen schon, die an das vergeschlechtlichte Paar Heilige und Hure denken lässt. Die sorgsame Parzellierung der weder genetisch noch zoologisch unterscheidbaren zwei Taubenformen lässt das Wirken sozialer Technologien vermuten: Die weiße Taube des Friedens, des Sanftmuts, der Monogamie und der Folgsamkeit gehört zu Staatsakten, Friedensschlüssen und Hochzeiten. Mit der nicht-weißen Stadttaube ist hingegen kein Staat zu machen, sie erscheint als Kanakin bzw. Tschusch der urbanen Tierwelt, deren aggressiver Kot nationale Kulturdenkmäler zu zersetzen droht und die nirgends dazu gehört – weder passt sie zu konventionellen Vorstellungen natürlich schöner Wildheit noch zu servil gedachter Nutztierhaltung. Deshalb ist ihr der neuerdings artgerechte Prozess zu machen.
Michel Foucault bestimmte einst den Ort der Kritik als diejenige Position, die nicht auf diese Weise regiert werden will. (Vgl. Foucault 1992) Tauben treten in diesem Sinn als unruly creatures6 auf. Als Störerin der urbanen Ordnung kommt der Taube zwar aufgrund ihrer Zahl, Sichtbarkeit und Beharrlichkeit eine besondere Rolle zu, ganz alleine ist sie aber keineswegs: Die Stadttheoretikerin Catherine Ingraham hat herausgearbeitet, wie bestimmte Tiere im hochmodernistischen Architektur-Diskurs und im ethnologischen Denken über Städte immer dann auftraten, wenn es um Fragen von Herrschaft und Eigensinn ging. (Vgl. Ingraham 1998) So beispielsweise bei Le Corbusier, in dessen stadtplanerischen Frühschriften der Esel wiederholt als manichäischer Hauptfeind des modernen Architekten auftaucht. Renitenz, so eine weitere Übersetzung für unrulyness, hat auch bei Menschen affektive und viszerale Aspekte, die dem unpassenden (schmutzigen) Witz eines älteren Menschen mehr ähneln als einer seriösen Unterschriftenliste.
Im Stadtraum finden wir eine mit der Stadttaube assoziierte menschliche Figur – den älteren Menschen, präziser: die ältere Frau. Ähnlich wie Tiere gelten auch ältere Menschen als Heimstatt von Konservatismus und Starrheit. So treffen sich nach stadtläufiger Vorstellung zwei Loser im Stadtpark: Die verhärmte Oma, die ihre überschüssige Zuneigung an etwas verschwendet, das Zuneigung nicht wert zu sein scheint, und das Objekt dieser Aufmerksamkeit: die Taube. Was aber, wenn sich hier Konturen einer massenhaften affektiven Militanz im öffentlichen Raum zeigen? Denn ältere Frauen legen sich mit JoggerInnen, ParkraumwächterInnen und anderen AkteurInnen an, wenn sie ihrer öffentlich verurteilten Praxis des Taubenfütterns nachgehen.
Interessanterweise wurden Tauben just zu demjenigen Zeitpunkt zu einem Problem urbaner Verschmutzung, als die Linke den Schmutz entdeckte: War bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts das Recht auf Reinheit, also auf genügend Wasch- und Bademöglichkeiten eine selbstverständliche Forderung gewesen, tauchten nun mit Beatnik und Punk popkulturelle Strömungen auf, die sich positiv auf Schmutz bezogen. Der Punk mit der Ratte auf der Schulter oder der Promenadenmischung an der Leine ist zu einer gewohnten Figur geworden. Im Hinblick auf das urbane Mensch-Tier-Verhältnis bleibt der Punk aber im Rahmen des Besitzbürgertums und hat nur das Tier gewechselt hat. Die Beziehung von älteren Frauen zu Stadttauben, die kommen und gehen können, wann sie wollen und niemandem gehören außer sich selbst, kann so als sozial-revolutionäre Praxis gelten. Frei nach Foucault ließe sich formulieren: Wo es Stadt gibt, da gibt es auch Stadttauben. Und wo es Stadttauben gibt, da gibt es auch Widerstand.7
Literaturverzeichis
Andrew Blechman, Pigeons, New York 2006.
Simon J. Bronner, “Contesting Tradition: The Deep Play and Protest of Pigeon Shoots”, in Journal of American Folklore, vol. 118 (470). S. 409-452, 2005.
Andrea Dee, Eine vergessene Leidenschaft: von Tauben und Menschen, Wien 1994.
Jacques Derrida, The Beast and the Sovereign. Volume I, The Seminars of Jacques Derrida, Chicago 2009.
Mary Douglas, Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu, Berlin 1985.
Michel Foucault, Was ist Kritik? , Berlin 1992.
David Glover, Marie Beaumont, Racing pigeons, Marlborough 1999.
Daniel Haag-Wackernagel, Die Taube. Vom heiligen Vogel der Liebesgöttin zur Strassentaube, Basel 1998.
Courtney Humphries, Superdove: How the pigeon took Manhattan – and the world, New York 2008.
Catherine Ingraham, Architecture and The Burdens of Linearity, New Haven 1998.
Colin Jerolmack, “How pigeons became rats: The cultural-spatial logic of problem animals”, in Social Problems, vol. 55 (2), S. 72-94, 2008.
Richard Johnston & Marián Janiga, Feral pigeons, New York 1995.
Bernhard Kathan, “Human, unauffällig: Gehn mer Tauben vergiften im Park”, in Die Gazette, 7. Dezember 2001.
Horst Marks, Unsere Haustauben, Wittenberg 1971.
Eva Rose, Peter Nagel & Daniel Haag-Wackernagel, “Spatio-temporal use of the urban habitat by feral pigeons (Columba livia)”, in Behavioral Ecology and Sociobiology, vol. 60 (2), S. 242-254, 2006.
Annette Rösener, Die Stadttaubenproblematik: Ursachen, Entwicklungen, Lösungen; eine Literaturübersicht, Aachen 1999.
Günther Vater, “Bestandsverminderung bei verwilderten Haustauben Teil 1 Bilanz mitteleuropäischer Stadtverwaltungen”, 2006, Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 1999, vol. 42 (12), S. 911-921.
Woody Allens Film Stardust Memories (1980), dem irrtümlicherweise oft die Autorenschaft für die Metapher zugesprochen wird enthält folgenden Dialog zwischen Sandy (Allen) und Dorrie, als eine Taube in ihre Wohnung fliegt: Dorrie: "Hey, that's so pretty. A pigeon!", Sandy: "Geez, no. It's not pretty at all. They're, they're, they're rats with wings.", Dorrie: "They're wonderful. No! It's probably a good omen. It'll bring us good luck.", Sandy: "No, no. Get it out of here. It's probably one of those killer pigeons."
Aus Gründen der Lesbarkeit wurde insbesondere in den historischen Abschnitten auf ausgiebige Quellenverweise innerhalb des Textes verzichtet. Die hier angegebenen Informationen sind in folgenden Werken und Texten nachzulesen: Marks (1971), Dee (1994), Johnston/Janiga (1995), Haag-Wackernagel (1998), Glover/Beaumont (1999), Rösener (1999), Blechman (2006), Bronner (2005), Rose et. al (2006), Vater (2006), Humphries (2008).
Zum Haber-Bosch-Verfahren siehe den Einleitungsartikel zum Schwerpunkt.
Für eine interessante Erklärung des Ursprungs dieses Ausdruck im Zusammenhang mit einem Gebiet im heutigen sechsten Wiener Gemeindebezirk siehe Johann Werfring: "Rätselraten um das Wiener Ratzenstadl", Wiener Zeitung, Beilage Programmpunkte, 18. Oktober 2012, S. 7.
Für eine ausgezeichnete literarische Darstellung des urbanen Kampfes gegen die Taube, siehe Patrick Neates The London Pigeon Wars, London: Penguin, 2004.
Unruly wird im Deutschen für gewöhnlich mit widerspenstig, unbändig oder wild (im Sinne: schwer zu bändigen) übersetzt.
In Großbritannien ist das Phänomen der granarchists bekannt: Halb "granny" (engl. Oma), halb "anarchist", stellen sie oft den militantesten Teil von Tierrechts-Kundgebungen und lassen mit ihrer sichtbaren Präsenz in den vordersten Reihen illegaler Demonstrationen mitunter selbst erfahrene Riot-Cops in Schlaghemmung fallen.
Published 7 May 2013
Original in German
First published by dérive 51 (2013); Eurozine
Contributed by dérive © Fahim Amir / dérive / Eurozine
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